Eine weiße Gans liebte ihren eigenen Anblick. Tagsüber
bewunderte sie ihre gespreizten Federn, die im Sonnenschein strahlten. Nachts
schwamm sie dem Mondschein hinterher, in dessen milchigem Licht sich ihr
weißes Gefieder leuchtend abhob. In Gesellschaft prahlte sie mit ihrer
Schönheit, doch man lachte sie gewöhnlich aus. Nur ein Tier am See lachte
nicht. Es war ein brauner Feldmäuserich, der Tag für Tag kam, um die weiße Gans
heimlich zu beobachten. Er hielt sie für das schönste Tier, das er jemals
gesehen hatte. Sie anzusprechen aber er sich nicht. Eines Morgens, direkt nach
einer Vollmondnacht, verkündete die Gans stolz, der Mond habe ihr zugeflüstert,
sie sei ein Schwan und sie hätte beschlossen, ihm zu glauben. Das Gelächter der anderen Gänse brannte noch am
Abend auf ihrem Gefieder und niedergeschlagen zog die weiße Gans ihre Kreise
auf dem dunklen See. Der Mond war hinter dicken Wolken verschwunden und die
Gans vermisste ihr Spiegelbild schmerzlich. Am Ufer saß der Feldmäuserich und
beobachtete seine Angebetete. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass sie sich für
einen Schwan hielt und obwohl er dieser Ansicht eher kritisch gegenüber stand, konnte
er ihr Unglück nicht mitansehen. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf
und rief: „Guten Abend, schöner Schwan, was für eine dunkle Nacht es doch ist.“
Erstaunt hob die Gans ihren Kopf und schwenkte ihren langen Hals in alle
Richtungen, bis sie schließlich den kleinen braunen Feldmäuserich am Ufer
entdeckte. „Wie hast du mich genannt?“ – „Ich habe dich mit deinem Namen
angesprochen, schöner Schwan!“ Die weißen Federn aufplusternd schwamm die Gans
auf ihn zu. Sie blickte ihm tief in die Augen, und entdeckte plötzlich ihr
eigenes Spiegelbild darin. „Du bist ein kleiner Mäuserich, was weißt du
von Schönheit?“ – „Ich bin viel im Land herumgekommen“, entgegnete der
Mäuserich, „und du hast die weißesten Federn und die edelste Haltung, die ich
jemals gesehen habe.“ Näher und immer näher kam ihm der Gänsekopf und die Gans
verlor sich fast in ihrem eigenen Anblick. Der Mäuserich, dem seine Funktion
als Spiegel nicht bewusst wurde, trippelte, angespornt durch die angebliche
Aufmerksamkeit der Gans, ein paar Mal mit seinen kleinen Pfoten und fragte dann
mutig: „Hättest du Lust, mit mir durch den Wald zu spazieren?“ Die Gans warf
den Kopf in die Höhe und entgegnete: „Ich bin zu schön, um meine Zeit mit einem
gewöhnlichen Waldmäuserich zu verschwenden.“ Sprach’ s, schüttelte die Federn und
schwamm davon. Dumme Gans!
Bis zum Ende ihres Lebens, das ihr kurz vor Weihnachten ein
Jäger beschied, verbrachte sie ihre Tage und Nächte allein mit sich und ihrem
Spiegelbild. Der Feldmäuserich aber verliebte sich bald in eine Nachtigall, und
streifte glücklich mit ihr durch die Wälder.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2010.
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