Christiane Mielck-Retzdorff

Lauter geile, alte Männer

 

 

Die warme Sommersonne ließ die Blumen in der Kleingartenanlage ihre bunten Köpfe gen Himmel richten, und Bienen summten ihr Lied friedvoller Harmonie. Lucy ging staunend zwischen den Jägerzäunen entlang des Weges in der mittäglichen Stille und stellte ab und zu ihren schweren Koffer ab, um die üppige Beete zu betrachten.

 

Sie hatte nicht oft ihre Oma hier besucht, denn über die Jahre waren nur ältere Leute übriggeblieben, die sorgsam ihre Gärten pflegten und wenig Abwechselung für ein Mädchen zu bieten hatten, die in dem Trubel der Großstadt aufwuchs. Im Gegenteil, es herrschten strenge Regeln was die Ruhezeiten und die Gestaltung der Grundstücke anging. Selbst das traditionelle Lampionfest, das nun im August bevorstand, und an dem Lucy einmal teilgenommen hatte, glich eher einem Treffen männlicher Relikte.

 

Es war wohl Zufall, dass in dieser kleinen Laubenkolonie fast ausschließlich Männer übriggeblieben waren, aus einer Zeit, in der Familien mit Kindern ihre Freizeit fern des Betons und Asphalts hier verbracht hatten. Lucys Oma war das einzige weibliche Wesen,

das in diesem Kreise ihre Blumen und ihr Gemüse pflegte.

 

Die Zeit schien diesen Ort vergessen zu haben, denn außer dem Werden und Vergehen im Verlauf des Jahres änderte sich nichts. Die Menschen lebten im Sommer in ihren Lauben unter recht ursprünglichen Bedingungen, säten, jäteten und ernteten. Nur die Antennen auf den Dächern zeugten von einer Verbindung zu dem Rest der Welt.

 

Lucys Mutter mußte sich einer kleinen Operation unterziehen, und es gab keine andere Möglichkeit zur Unterbringung für das Kind als bei ihrer Oma, die sich unwillig in diese Notwendigkeit fügte. Dabei hatte sie sehr deutlich gemacht, dass sich Lucy aber allein zu beschäftigen habe, denn obwohl erst 59 Jahre alt, aber durch einen Betriebsunfall gehbehindert, legte die Oma großen Wert auf ihre Ruhe. Sie kultivierte nicht nur ihre Pflanzen sondern auch ihr Leiden und ihre Einsamkeit.

 

Lucy war kein lebhaftes Kind, sondern liebte es zu lesen, zu malen und auf ihrer Blockflöte zu musizieren, die sie jedoch zuhause lassen mußte, um das Gehör der Oma nicht zu strapazieren. Auch hatte sie keine Neigung zu Rebellion, denn sie wußte, dass sich ihre Mutter, vom Vater verlassen, große Mühe gab, ihr gemeinsames Leben angenehm zu gestalten. So nahm Lucy gelassen hin , einen Teil ihrer Ferien in einer Welt zu verbringen, wo Kinder keine Platz zu haben schienen.

 

Ihr Ankunft bliebt jedoch genauso wenig unbemerkt wie irgendeine andere Bewegung zwischen den Zäunen. Hinter jeder Hecke gierten verborgene Augen nach Abwechselung, mißtrauisch und wachsam.

 

Die Zeit kroch träge durch die Tage in ihrem Korsett aus pünktlichen Mahlzeiten, die beinahe schweigend eingenommen wurden und Lucys phantasievollen Selbstbeschäftigungen konnten die aufkeimende Langeweile nicht lange in Zaum halten. Die Neugierde einer Zwölfjährigen trieb sie hinaus, die Geschichten hinter der Ordnung zu erforschen.

 

Zuerst lockten sie eines Nachmittags die Klänge lieblicher Musik, die jemand einer Geige entlockte. Lucy zog sich ein luftiges, blaues Sommerkleid an, das nur von zwei schmalen Trägern gehalten wurde und knapp über ihren Knien endete und folgte den Tönen bis zu dem Zaun, hinter dem aus der offenen Tür der Laube das Geigenspiel über die Gärten schwebte. Dort verharrte sie lauschend, bis das Instrument schwieg und der Mann heraustrat. Verlegen lächelte Lucy und der Mann, den sie als Onkel Karl kannte, lächelte zu ihrem Staunen zurück.

Die Geige noch in der Hand, kam er zu ihr.

„Gefällt Dir diese Musik, Lucy?“ fragte er freundlich.

Lucy nickte schüchtern.

„Das erwartet man nicht von einem Kind“, stellte Onkel Karl erstaunt fest.

„Doch, doch“, bestätigte Lucy eifrig. „Ich spiele Blockflöte, und das sogar in einem Orchester.“

„Ich dachte, ihr jungen Leute mögt nur moderne Musik.“

„Die mag ich natürlich auch“, bestätigte sie, „ aber das was Du spielst, ist viel schöner.“

Onkel Karl fühlte sich geschmeichelt, und das Mädchen bemerkte es.

„Wie kommt es, dass Du so gut Geige spielen kannst“, fragte Lucy mit ehrlichem Interesse.

„ Ich habe früher bei den Philharmonikern gespielt“, erklärte der Mann  stolz.

Er betrachtete Lucy in ihrem hübschen Kleid unter dem sich schon erste Anzeichen jugendlicher Brüste abzeichneten. Ihr Augen leuchteten und ihre zart rosa Lippen umspielte ein erwartungsfrohes Lächeln.

„Erzähl mir doch bitte etwas von dieser Zeit“, bettelte Lucy und schickte sich an, die Gartenpforte zu öffnen. Der Mann sah sich argwöhnisch um und blaffte dann unvermittelt:

„Lass mich in Ruhe!“

Dann verschwand Onkel Karl eiligen Schrittes in dem Holzhaus.

 

Erschrocken und enttäuscht schlich Lucy mit hängendem Kopf weiter den Weg entlang, bis sie Onkel Fritz in einer seltsamen Montur hinter seiner Laube hervorkommen sah. Solche Anzüge trugen Imker. Er bemerkte Lucy am Zaun, lüftete seinen Kopfschutz und kam zu ihr.

„Na, junges Fräulein, promenierst Du ein wenig über unser Anwesen.“

„Ja, mir ist ein bißchen langweilig“, gab Lucy zu. „Darf ich mir deine Bienen ansehen?“

„Ah, die junge Dame interessiert sich für Imkerei. Das hat man selten, aber es ist ein sehr interessantes Gebiet. Die meisten Menschen wissen gar nicht wie wichtig Bienen für unser Leben sind.“

„Werden sie mir auch nichts tun“, fragte Lucy unsicher.

„Wenn Du ihnen nichts tust, tun sie Dir auch nichts“, antwortete Onkel Fritz nachsichtig.

In der Laube im Nachbargarten öffnete sich eine Tür, ohne dass man im Schatten einen Menschen erkennen konnte.

„So, Mädchen, nun verschwinde wieder. Ich habe viel zu tun“, sagte Onkel Fritz streng und setzte den Kopfschutz wieder auf.

 

‚Sie mögen mich nicht’ dachte Lucy traurig und schlenderte weiter. In der letzten Parzelle des Weges entdeckte sie Onkel Hans, der vor einer Staffelei hockte und ein Aquarell von seinen Blumen malte. Bemüht kein Geräusch zu machen, beobachtete Lucy vom Zaun aus, wie der Pinsel leicht und doch konzentriert über das Blatt geführt wurde und so langsam die Gladiolen Gestalt annahmen. Dabei versuchte sie sich einzuprägen, wie Onkel Hans mit wenigen Strichen den Blumen ihre unverwechselbare Struktur gab. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, so dass sie die Entstehung des Bildes gut erkennen konnte.

 

Onkel Hans bemerkte sie erst, als er das Werk vollendet hatte und seine Utensilien zusammenpackte.

„Hallo, Lucy“, begrüßt er sie freundlich. „Wie lange stehst Du denn schon da?“

„Eine ganze Weile. So gut wie Du möchte ich auch malen können“, antwortete sie voller Bewunderung.

„Interessierst Du dich denn für’s Malen?“

„Ja, in der Schule habe ich sogar eine eins.“

Onkel Hans trat an den Zaun und betrachtete verzückt die zarte, blonde Elfe in ihrem blauen Kleid. Ein luftiger Strauß aus Sonnen- und Kornblumen kam ihm in den Sinn.

„Kannst Du mir das Malen nicht beibringen?“ fragte Lucy hoffnungsvoll bettelnd.

„Nein, Lucy, das geht leider nicht“, erklärte Onkel Hans betrübt.

„Aber warum denn nicht!“ protestierte Lucy nun, ob der erneuten Abweisung, den Tränen nahe.

„Das kannst Du nicht verstehen?“ antwortete Onkel Hans mit Resignation in der Stimme und schlurfte davon.

 

Auf dem Rückweg zu ihrer Oma hörte Lucy das gleichmäßige Klappern einer Schreibmaschine aus einer Laube klingen. Das mußte Onkel Georg sein. Man erzählte sich, er schreibt Märchenbücher. Diesmal wollte Lucy sich nicht abweisen lassen, denn sie liebte Märchen. Sie öffnete die Pforte des Jägerzauns und schritt zielstrebig zu dem kleinen Haus. Etwas zaghaft öffnete sie die Tür, huschte hinein und schloß sie gleich wieder.

 

An einem einfachen Holztisch saß Onkel Georg vertieft in seine Schreibarbeiten. Lucy schlich auf Zehenspitzen heran und blickte ihm über die Schulter. Was sie dort auf dem beinahe voll beschriebenen Blatt in der Schreibmaschine las, jagte ihr Schauer über den Rücken. Jedoch kannte sie solche Szenen aus dem Fernsehprogramm. Gerade zerrte ein Mann ein Kind in ein Gartenhaus und riß ihm die Kleider vom Leib. Lucy schlich genauso leise und unbemerkt wieder aus der Laube wie sie gekommen war.

 

An den folgenden Tagen ging Lucy täglich im Sonnenschein zwischen den Kleingärten spazieren, lächelte den Männern zu und plauderte mit ihnen über den Zaun. Mit jugendlicher Fröhlichkeit zerstreute sie Mißtrauen und Furcht. Und dann öffneten sich die Türen und Onkel Hans lehrte sie Aquarelle zu malen, während Onkel Karl dazu Geige spielte und Onkel Fritz Honigbrote schmierte.

 

Bei dem Lampionfest trug Lucy wieder ihr blaues Kleid und tanzte ausgelassen abwechselnd mit ihren neuen Freunden. Lucys Oma hatte mit der Wandlung ihrer Nachbarn nicht nur ihre Lebensfreude zurückgewonnen, sondern flirtete sogar mit Onkel Karl.  

 

Es war Lucys letzter Tag, als eine Familie mit zwei kleinen Kindern die freie Parzelle in der Gartenanlage bezog. Ein Gewitter kündigte sich an, und der aufkommende Wind wirbelte die Papierschnipsel des zerrissenen Manuskripts von Onkel Georg über die Rabatten wie Schneeflocken. Lucy wußte, dass sie bald wiederkommen würde, denn sie fand die alten Männer echt geil. 

    

 

 

           

 

    

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Christiane Mielck-Retzdorff als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

cover

Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (9)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christiane Mielck-Retzdorff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Tränen der Geige von Christiane Mielck-Retzdorff (Lebensgeschichten & Schicksale)
Hoffnung...und Schicksal... von Rüdiger Nazar (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Pilgerweg...letzte Episode von Rüdiger Nazar (Sonstige)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen