Korinna Kludzuweit

Mami, was ist eigentlich Phantasie?

Mami, was ist eigentlich Phantasie?
Miriam war ein Mädchen von 8 Jahren. Sie saß mit ihrem 2 Jahre älteren Bruder Dennis draußen auf der Gartenbank und langweilte sich. Dennis spielte mit seinem Computer, den er im letzten Jahr zu Weihnachten bekommen hatte. Miriam legte sich auf die Holzbank und schaute in den blauen Himmel, der durch ein paar graue Wolken bereichert wurde. Miriam hatte eben noch ihre Mama gefragt, was sie denn tun könnte, weil sie sich doch so langweilte. Ihre Mutter hatte geantwortet: „Miriam, hat Du denn gar keine Phantasie?“ Miriam entgegnete:“ Mama, was ist eigentlich Phantasie? Ist das ein Spiel? Wie spielt man das?“ „Oh, das ist ganz einfach. Man stellt sich Dinge vor, die nicht da sind oder man versucht, eine Geschichte zu erfinden oder man träumt von Dingen, die einem Spaß bringen oder fängt einfach an, mit seinen Puppen zu spielen...so etwas, verstehst Du?“ „Nee, irgendwie nicht so.“ Miriam dachte daran, was Mama ihr gesagt hatte. Sie schaute sich die Wolken an und fing an, sich Dinge vorzustellen. Zum Beispiel sah die eine Wolke aus wie ein Gespenst und eine andere wie ein Löwe. „Du, Dennis, was ist Phantasie?“ „Weiß nicht so genau, Miriam. Vielleicht ist Phantasie, sich eine Geschichte auszudenken? Keine Ahnung. Außerdem spiele ich hier gerade...ich muss mich konzentrieren, sonst verliere ich meine Schiffe. Du musst leise sein, Miriam.“ „Dennis, wollen wir nicht zusammen was spielen?“ „Nein, jetzt nicht.“ Also schaute sie wieder in die Wolkendecke, die jetzt ganz anders aussah. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie von einer Wolke zur anderen hüpfte. Plötzlich sprang sie auf eine Wolke, die viel leichter war und es geschah, dass sie durch die Wattewolke hindurchfiel. Es ist so endlos hoch hier oben, dachte sie und fiel und fiel hinab in die Tiefe. Plötzlich dachte sie an die Vögel und stellte sich vor, Flügel zu besitzen, die sie langsam hinabtrugen. Sie grüßte verschiedene Arten von Vögeln, Fliegen, Käfern etc. bis sie mit einem Male einen großen Storch sah, der etwas in seinem Schnabel trug. Es sah aus, wie eine Bündel, aber es war sehr klein, fast winzig. Sie beschloss, dem Vogel hinterher zu fliegen. Sie wollte wissen, wo er hin wollte mit dem Bündel und sie wollte außerdem sehen, was in diesem Bündel war. Sie folgte ihm und als er es bemerkte, drehte er sich zu ihr um und sagte: „Verschwinde, mein Kind, ich muss etwas erledigen und Du darfst da nicht mit.“ „Aber, wieso denn nicht. Ich sage auch keinem etwas. Das verspreche ich Dir“, sagte Miriam und schaute ihn mit großen bittenden Augen an. „O.k., sagte der Storch, aber brich Dein Versprechen niemals. Das ist wichtig, verstehst Du?“ Miriam entgegnete dem Storch: „Ich verspreche es Dir. Ich werde niemanden etwas erzählen.“ Der Storch glaubte Miriam und ließ sie gewähren. Sie flogen noch eine ganze Zeit bis der Storch auf einen Kirchturm zusteuerte. Neben der Kirche befand sich ein Friedhof und auf diesen flog er zu. Er ließ sich neben einem offenen Grab nieder und öffnete seinen Schnabel, sodass das Bündel in das Loch fiel, ganz langsam und vorsichtig tat er das. Dann drehte er sich um und verschwand in die gleiche Richtung, aus der er gekommen war. Miriam starrte noch einen Augenblick in das immer noch leere Loch und flog ihm dann schnell hinterher. Sie hatte doch so viele Fragen an ihn. Die wollte sie ihm unbedingt stellen. Als sie endlich mit ihm auf einer Höhe war, sagte sie hastig: „ Du, Storch, wie heißt Du?“ „Ich heiße Balduin, warum?“ „Weil ich Dich etwas fragen muss!“, sprach Miriam. „Ich darf Dir aber nichts sagen...“, entgegnete Balduin. „Ja, aber ich habe doch hoch und heilig versprochen, dass ich niemanden von unserem Treffen erzähle.“ Balduin schaute mit ängstlichem Blick und sagte: „Ich kann nicht. Es tut mir leid!“ Miriam platzte fast vor Neugier und fragte: „ Wovor hast Du denn solche Angst?“ Hastig antwortete Balduin auf ihre Frage: „ Wir Störche dürfen niemals mit jemandem über das reden, was wir tun.“ „O.k., entgegnete Miriam, „dann wäre es ja in Ordnung, wenn Du einfach laut vor Dich hinsprichst und Dir vorstellst, dass ich gar nicht da wäre, oder?“ Aus Balduin platzte es heraus: „ Es ist nicht so einfach, mein Kind.“ „Aber, Balduin, glaubst Du etwa, dass Dir einer abnehmen würde, dass Du mit einem Kinde in der Luft geredet hast? Du weißt doch, dass Menschen gar nicht fliegen können.“ „Natürlich weiß ich das, ich bin doch nicht doof.“ „Na, dann kannst Du es mir ja erzählen.“, sagte Miriam langsam. Balduin wartete einen Moment, bevor er endlich anfing zu beschreiben, was er tat. „Ich bringe die Seelen von einem Ort zum anderen.“ „Was? Was sind Seelen?“ Balduin entgegnete: „ Seelen kann man nicht sehen. Heute zum Beispiel ist ein Kind im Nachbarkrankenhaus gestorben. Es hatte nur einmal geschrieen und dann verstummte es für immer, weil es besser so war. Es hatte ein zu schwaches Herz und hätte somit ein sehr schweres Leben gehabt. Die Mama war allein und hatte wenig Geld und somit war es besser, dass das Kind nicht leben konnte.“ „Das ist ja schrecklich, Balduin. Hast Du das Kind in das Loch gelegt?“ „Nein, das war die Seele des Kindes. Wenn jetzt wieder ein neuer Mensch geboren wird, hat dieses neugeborene Baby eine Seele. Sonst hätte es nur einen Körper. Wie eine leere Hülle, weißt Du?“ „Und Du bringst die Seelen weg?“ „Alle Störche machen das. Das ist unsere Aufgabe.“ „Meine Oma ist ganz alt und grau und sie hat seit einiger Zeit einen furchtbaren Husten. Was passiert denn mit ihrer Seele?“ „Ihre Seele, mein Kind, geht in den Himmel, wo sie dann ausruhen darf.“ „Warum bringst Du denn die Seele meiner Oma nicht hierher?“ „Weil Deine Oma schon viel Male hier war und in anderen Menschen leben durfte. Jetzt aber hat sie ihre letzte Unterrichtsstunde gehabt. Sie hat alles gelernt, was man lernen kann im Leben.“ „Aber andere Seelen bringst Du hierher? Was ist denn zum Beispiel mit meiner Nachbarin? Sie ist ganz allein und redet mit niemanden. Sie muss doch sehr einsam sein oder?“ „Die einsamen Seelen kommen wieder hierher, da sie noch etwas zu lernen haben bevor sie ausruhen dürfen.“ „Was müssen sie denn lernen?“ „Das man sich auch in Krankheit, in Not und im Alter öffnen sollte für das Leben. Man darf nicht aufgeben...niemals. Diese einsamen Seelen irren umher und verschließen sich vor dem Leben. Es ist aber wichtig, dass man immer träumt und sich für neue Dinge öffnet. Man soll niemals denken, dass es nichts mehr gibt, was man lernen oder träumen kann. Nur die Seelen, die das begriffen und gelernt haben, dürfen in den Himmel.“ „Wenn diese Seele von heute aber in einem anderen Menschenkind weiterlebt, dann wären wir ja alle miteinander verbunden oder?“ „Ja, irgendwie seid Ihr das auch alle, aber nur wenige spüren diese Verbindung. Es gibt viele Menschen, die immer nur an sich denken und nie an die anderen und das ist gar nicht gut für Euch“, sagte der Storch. „Ich werde versuchen, auch an andere zu denken und ich verspreche Dir, dass ich immer lernen möchte im Leben.“, sagte Miriam schnell. „Das ist sehr gut, meine Kleine. Es wäre schön, wenn noch andere Kinder ihre Phantasie zurückentdecken würden und auf die Reise gehen würden, denn Eure Phantasie ist ein sehr großes und wichtiges Gut, was Ihr in Euch tragt, aber dank des Fernsehers und der Computerwelt habt Ihr es meist verlernt, was es heißt, Phantasie zu besitzen, zu träumen, zu spielen...“ „Ja, da hast Du wohl recht, Balduin. Das ist schade. Ich werde es anders machen. Immer, wenn ich an Dich denke, bin ich in einem Traum, in meinem Traum und dann erfinde ich Geschichten. Du bist mein Traum oder? „Wenn Du es so ausdrücken möchtest. Ja, das bin ich“, sagte Balduin und verschwand. Miriam öffnete ihre Augen und sah ihren Bruder lange schweigend an. Er spielte immer noch mit seinem Computerspiel. Nach einer Weile sagte sie: „Dennis, Phantasie ist wie Träumen...träumen von fernen Orten, von Dingen, die, man tun könnte, Geschichten sind auch Träume und weißt Du was, Dennis? Du musst jetzt mit mir träumen.“ Dennis schaute seine kleine Schwester an und antwortete: „O.k., Schwesterchen, lass uns etwas spielen...wollen wir auf den Baum klettern und spielen, dass es ein Schiff wäre, dass auf einer einsamen Insel strandet?“ „Oh ja, Dennis, das machen wir. Ich bin der Koch und was bist Du, entgegnete Miriam erfreut. „Ich bin der Kapitän, aber wir spielen und entscheiden alles zusammen.“
Miriam und Dennis spielten den ganzen Nachmittag und waren abends glücklich und zufrieden miteinander. Sie dachten noch lange an ihre Traumreise auf dem verwunschen Schiff... Miriam erinnerte sich noch einen Moment lang an Balduin und an das, was er gesagt hatte. Dann schlief sie ein und träumte einen neuen Traum!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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