Jeannette Kuhn

Das Mädchen und der Tod

 

Einmal begegnete das Mädchen dem Tod. Genau genommen war es nicht Gevatter Tod selbst, sondern sein Bote. Ein schwarzer Rabe. Er war sehr schön und er war sehr schwarz. Mit ihm kam eine eisige Kälte auf die Lichtung im Wald, das Mädchen fröstelte. Es wusste nichts von Tod und Raben. Noch nicht. Der Rabe saß in Augenhöhe auf einem Ast des Baumes, an den das Mädchen sich gelehnt hatte. Arglos blickte es dem Raben in die stechend schwarzen Augen. Die beiden sahen sich schweigend an. Die Stille breitete sich auf der ganzen Lichtung aus. Schlagartig war jegliches Leben um sie herum verstummt. Dem Mädchen war es, als hätte sich mit der Kälte auch ein dunstiger Nebelschleier über die Lichtung gesenkt. Die Farbenpracht der Vegetation wich einem einheitlichen, faden Grau. Dem Mädchen dämmerte langsam, dass hier etwas ganz Wundersames geschah. Es wusste nicht was, aber dass es etwas sehr Bedeutsames war, das war klar.

Noch immer standen sich beide reglos gegenüber und taxierten sich. Das Mädchen öffnete schließlich den Mund, räusperte sich und sagte: „Ähm, Rabe, oder was auch immer du bist: Was geschieht hier? Wer bist Du?“ Die Worte hallten in der Stille über die Lichtung. Neugierig blickte sie den Raben an und beugte sich dabei nach vorne, um ihn noch besser betrachten zu können. Sie stellte fest, dass sein tief schwarzes Gefieder glänzte wie frisch poliert und trotz des grauen Zwielichts zu leuchten schien. Intuitiv streckte sie ihren Arm aus und berührte ihn leicht mit den Fingerspitzen am Hals. Der Rabe rührte sich nicht. Der Blick seiner schwarzen Augen drang tief in sie ein.

Überrascht musste das Mädchen feststellen, dass der Rabe keinerlei Furcht oder Scheu zeigte. Es war mehr, als versuche er, mit ihr zu kommunizieren. In ihre Gedanken einzudringen. Sein Blick hielt den ihren unerbittlich fest. Jetzt wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Sie konnte ganz klar spüren, wie die Kälte ihrer Umgebung nun auch in ihr Innerstes eindrang, durch sie hindurchfloss und schließlich vollkommen ausfüllte. Und da war noch etwas anderes. Etwas, das ihr großes Unwohlsein einflößte. Etwas, das sie lieber nicht wissen wollte. Ihr wurde leicht schwindelig und sie musste kurz die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnete, war der Rabe weg. Und mit ihm die Kälte und das Grau.

Die Sonne wärmte langsam ihre steifen Glieder. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie am ganzen Körper fror und zitterte. Undeutlich nahm sie das satte Grün, die blühenden Farben und das schwirrende Leben um sie herum wahr. Sie versuchte, sich zu entspannen und glitt langsam den Baumstamm hinab auf die Erde.

So saß sie einige Zeit, bis sie die Wärme und Weichheit der Sonne im ganzen Körper spüren konnte. Sie hatte nun Klarheit, wusste, wem oder was sie da begegnet war. Und warum. Sie wischte sich ein paar Tränen von der Wange, erhob sich und ging langsam auf dem Pfad nach Hause.

Als sie in der Nähe des Hofes aus dem Wald trat, sah sie schon von weitem das blaue Licht des Rettungswagens.

Jedoch sie alleine wusste, dass er vergeblich gekommen war.


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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