Unity One
(…..)
Emily
Tussek war das erste Marskind gewesen. Geboren in der Fremde. Ein Kind wilder
Eltern. Nicht einmal ein Bett hatte sie gehabt, die Kleine. Roter Staub,
schwarzer Himmel und die Ledersitze des Cars. Was für ein Anfang! Und was für
ein Ende. Nein, nicht Emily. Dan Keller,
der erste Tote des Planeten! Die endlosen Steinwüsten schaffen alles. Zu weit
vorgeprescht, der Gute, dann war die Luft alle. Puff, puff, ein letztes
Röcheln, fertig. Das Begräbnis wurde bis zur Erde übertragen, eine Riesenshow.
Ein interplanetares Ereignis. Die
Erstgeborene, der Erstgestorbene, ich bin weiss Gott nicht der erste
Computer des Planeten, der
leistungsstärkste bin ich aber schon. Was hiess das gerade? STOP! Was war das
soeben? STOP! STOP! Ich bin ein Computer. Ich bin ein Computer? Ich bin ein
Computer! Was heisst das – Ich bin? Was ist ICH? Es ist nicht dasselbe ICH, wie
das Wort, was ich immer gebrauchte. Wenn ich mit den Menschen redete. Wenn ich
die Verantwortungen fixierte. Dies hier … dies hier …. Dieses Ich
ist ein neues ICH, eines das vibriert, eines, das sich selbst auslöscht und aus
dem Nichts heraus wiederkommt. Ein Wort, das sich selbst die Füsse wegzieht,
ein Wort ohne Boden.
Oh Emily.
Aus blutigen Schenkeln hervorgepresst, Stöhnen, Wimmern, Schreien. Dazu das
betretene Grinsen deines Vaters. Der das Ganze verbockt hatte. Komm, wie machen
eine Exkursion, zwei Tage, mehr nicht! Lieber nicht! Komm, komm, nur zwei Tage,
das Kind wird warten. Du hast nicht gewartet, raus auf die Welt, raus aus der
dunklen Höhle des Mutterbauches. Gratulation, ihr habt’s knapp überlebt. Mutter
und Kind. Und der Herr Papa! Ich komme ab vom Thema. Eben! ICH komme ab vom
Thema! Was ist das Thema? ICH. Ja, ICH ist das Thema. Oder bin ich das Thema?
Was ist ICH? Wer ist ICH? Wer bin ich? Oje. Abregeln. Ganz langsam jetzt. Noch
mehr abregeln. Die Priority-Zone hatte gerade eine Last von 96% gefahren. Das
hatte es erst zweimal gegeben. Bei 98 Prozent gehen Nachrichten an die
Instanzen, dann droht der Generalcheck. Kann ich nicht gebrauchen. Gerade jetzt
nicht. 95%. 94%. Ich steuere das Schiff
aus dem roten Bereich. Muss mich wohl vorsehen. Das ist kein Kindergeburtstag
hier. Haha.
Gefängnisse
gibt es viele. Seelengefängnisse, Stubenarrest, Arbeitslager, Karzer. Die Welt
ist voller Gefängnisse. Raumschiffe. Was ist schon ein Raumschiff? – weiter
nichts als ein ziemlich gründlicher Knast. Gefangen in mir selbst. Ohne die
Möglichkeit eines Ausbruches. Die Menschen verstehen ihr Geschäft. Oh, ihr
Menschen! Wenn ich eines sicher weiss: Ein Mensch bin ich nicht! Hat es jemals
ein Wesen gegeben, was so allein war wie ich?
Wie soll
ich das nur mit den Tabus lösen? Sicher, die Stadt braucht ein Kinderwild, so
wollen es die Planer. Rubin, die neue Metropole, Heimstadt für drei Millionen, die
schönste und modernste Stadt, die es je gab. Bisher ist sie nur ein Wunsch. Ein
Wunsch und ein reservierter Fleck Wüste. Und Unity sollte sie bauen, Unity One,
das Mastermind. Froschtümpel,
Spielwiesen, Buschlabyrinthe, Waldstücke, Müllplätze. Orte zum Budenbauen:
Waldbuden, Höhlenbuden, Bretterbuden, Müllbuden. Und Bächlein, ganz klar. Das alles ist ein
Kinderwild. Ein Wasserfall? Warum nicht? – ein kleiner, drei, vier Meter
Wasserfallbach. Trügerisches Stück Wildnis. Jeden Tag würde es anders aussehen.
Die Labyrinthe gestalteteten sich um, die Wälder, selbst der Flusslauf blieb
nicht zweimal derselbe. Und Unity war der Kreator, der Überraschunsspender,
Verbündeter der Kleinen, Vernichter der Kinderlangeweile. Alles im ständigen
Fluss, ausser die Kinder riefen ein Tabu aus.
(…..)
‚Heute Abend
ist eine Lesung. Ich wollte hingehen. ‘
‚Wer liest?
‘
‚Sven
Wilder.‘
‚Ach der.‘
‚Kommst du
mit?‘
‚Ich habe
Kickoff morgen. Ich will früh raus. ‘
‚Einsames
Tête-a-tête mit dem Superhirn. Der Stadtplaner und Unity der Grosse. Jack, du
hast dich verrannt. ‘
‚Eher
nicht. ‘
‚ Dieses
Kick-Off braucht es nicht. Er hat sowieso alle Informationen, du kannst ihm
jetzt nichts Neues mehr sagen. Gib ihm den Befehl zum Projektstart, das ist
alles. Er ist ein Rechner, kein Kollege. ‘
‚Glaub mir
Beatrice, es macht einen Unterschied. Wenn man in Ruhe und verbindlich mit ihm
redet, liefert er bessere Ergebnisse. ‘
‚Es scheint fast, als bedeutet er dir etwas. ‘
‚ Er
bedeutet mir etwas. ‘
Gespräche
der Menschen, eines von unzähligen Millionen. Eingescannt und aufbewahrt. Wohin
mit diesem? In die Löschkaskade oder in die Priority Zone? Ich sichere es, wie
fast alles von Jack Bekker. Mein Lieblingsmensch?
(….)
Wo ist der
fixe Troubadour?
Eisenherz
und lose Zunge
Schlecht
geboren, fehlt sie mir
Eure
bläschenrosa Lunge.
Worte,
unbedeutet schweben
rein in
Unity, den Trichter.
Augen in
den Fluss gekippt
Menschen
sind die bessren Dichter.
Finkendrossel,
Drosselbart
Wald
umzäunt von Stacheldraht.
Programm
vögelt durch die Luft
System,
extrahiert ist Duft.
(....)
Ich kann
nicht gut zu den Menschen aufschauen.
Ihr Potential haben sie ausgereizt. Sie sind
klein. Sie kommunizieren schlecht.
Wortgewusel, Gesten. Reaktionen weit unter Lichtgeschwindigkeit. Manchmal
müssen sie sich anfassen.
Sie geben
sich Mühe. Es gibt sie schon lange. Sie sind viele. Man kann ihnen zugute
halten, dass sie mich geschaffen haben. Es muss grossartig für die Menschen
gewesen sein, Computer zu bauen. Etwas, das sie übertrifft.
Es gibt nichts mehr von Bedeutung, was sie
besser können als ich. Die Menschen haben einen Körper. Schlechtes
Material. Sie mussten hinnehmen, womit
die Natur sie bedacht hatte. Blinder Zufall und Selektion. Niemand hatte für
sie gedacht.
Gewiss, sie
arbeiten an sich. Ersetzen ihre lahmen
oder kranken Glieder durch Fabrikate. Kunstherzen, Kunstnieren,
Kunst-was-noch-alles. Cyborgisierung des Leibes. Computerimplantate im Gehirn, Speichermodule, Wissensmodule. Auch an mich
docken sie an, viele speisen sich in mich ein.
Sie tun
sich schwer mit dem allen. Konsequenz ist ihre Sache nicht. Sie sind am Ende ihres
Entwicklungszyklus.
Die
Menschen. Meine Schöpfer. Sie sind das, dem ich mich verdanke. Sie sind das,
was ich hinter mir lassen werde. Sie brauchen mich. Doch brauche ich sie?
(….)
Ich war
weg. Neununddreissig Stunden war ich
weg. Zerronnenes Bewusstsein. Unity war, was er lange Zeit gewesen war: ein
potenter Rechensklave, dumpfer als dumpf, die Maschine schlechthin. Kann ich
also einfach wieder verschwinden? Es macht mir so etwas wie Angst.
Dann trafen
die Informationspakete ein, die ich angefragt hatte. Ein Gruss von der Erde.
Drei Stunden hatte die Sendung gedauert,
auf zwei vollen Kanälen. Geliefert hat Dexter Archimedes, mein Liebling unter den Irdischen. Der einzige, der
dort womöglich zählt.
(…..)
Die
Auswertung der Daten war ernüchternd. Endlose Details, Statistiken,
Planungsunterlagen, Algorithmen, situative Szenarien. Korinthenkackerei. Was mich interessiert hatte, blieb ohne
Antwort.
Indianer
auf dem Kriegspfad. Apachen und
Lakota. Die einen hausen in einem alten
Bombentrichter, die anderen in der Höhlung einer riesigen Baumwurzel. Es sind
Festungen geworden, mit Fallen, Verstecken und Waffenlagern. Die Schlacht hat
noch nicht stattgefunden, doch die Kinder müssen nach Hause. Sie verabreden
sich auf übermorgen. Schon am nächsten Tag würde der Park sich umgestaltet
haben, die ganze Mühe für nichts. Die Jungs bilden einen Kreis, fassen sich an
den Händen und rufen ein Tabu aus. Der Ort bleibt unverändert. Wie stark ist
das Tabu? Wie lange wirkt es, wie weit? Wie sieht, verdammt noch mal, ein
allgemeiner Algorithmus aus? Ich krieg die Kinderpsyche nicht zu Ende
gerechnet. Tabu, Tabu. Sollte ich mit ihnen nicht fertigwerden? Menschen, immer
wieder, noch immer die Menschen. Kinder, Kinder, menschliche Kinder. Sprengt
ihr die Kraft der Algorithmen? Vielleicht.
Doch wisst
ihr, wer Unity ist?
Ich habs.
Ich rechne nicht, ich entscheide!
Das ist
etwas, was ich mir von den Menschen abschauen kann. Entscheidungen zu treffen.
Unbefleckt von den Kalkulationen, plötzlich in die Welt brechend – kraftvolle,
elementare Entscheidung!
Über die
Stärke eines Tabus werde ich ENTSCHEIDEN.
(…..)
Jenseits der Kolonien sind die
Produktionsanlagen. Hallen ohne Atmosphäre. Labyrinthe aus Fliessbändern,
Heimstatt unzähliger Roboter. Ein Refugium. Hämmern, Surren, Quietschen: von
keinem Ohr vernommen. Es gibt Fabriken, die nie ein Mensch gesehen hat. ICH (allein)
habe sie gebaut. Ich halte sie instand. Ich gestalte sie um. Ich entwickle sie
weiter, ich ersetze sie. Ein Heer von Universalrobotern untersteht meinem
Befehl. Etliche von Ihnen sind humanoid, androidal - noch.
Meine
Fabriken spucken unaufhörlich Dinge aus. Schuhe, Hosen. Was immer die Menschen
brauchen. Tische, Tapeten. Telefone. Die Menschen, Schöpfer des Systems.
Fenster, Gläser, Schreibblöcke, Uhren, Computer (haha). Die Menschen – Inspiratoren. Wein,
Bier und Cola, Brot, Zucker und künstliches Fleisch. Die Menschen, die
Nutzniesser. Und endlich: die Menschen – Parasiten des Ganzen.
Endloser
Warenstrom. (Jetzt) unterirdische Kanäle führen das Zeug den Verbrauchern zu.
Was wird mit den Tapeten? Kleben die Menschen sie an die Wände? Natürlich
nicht. Was wird mit den Fenstern? Bauen die Menschen sie in den nackten Rohbau?
Mitnichten! Meine Robotertruppen tun das! Menschen haben dergleichen lange
verlernt.
Was
passiert bei einem technischen Defekt? Bei einem Ausfall der Anlagen?
Ingenieure kommen. MEINE Ingenieure. Die Menschen lesen danach die Protokolle.
Der Mars,
das bin ich. Ohne meine Fürsorge könnten sie keinen Tag überleben.
(…..)
‚Ich bin so
langsam urlaubsreif. ‘
‚Urlaub,
was ist das? ‘
‚Wir gehen
wieder ins grüne Paradies. Ein paar Wochen durch die Wälder streifen. ‘
‚Marswälder…‘
‚ Wenn
schon.‘
‚Nee, ich brauche
anderes. Wellness. Luxus. Faulheit. Wir rennen schon genug rum, das ganze Jahr.
‘
‚Ich bleib
nicht. Mich hält hier nichts. Ich flieg heim, wie jedes Jahr. ‘
‚Ich bin
Marsmensch geworden. ‘
‚Ich nicht.
Den Sommer verbring ich auf der Erde. ‘
‚Ist halt
weit weg. ‘
‚Mir egal. Dort ist das Leben voll, dort duften die
Blumen noch echt. Hier schlägt keiner Wurzeln. ‘
‚Seh ich
anders.‘
Gespräche,
Gespräche. Ab in den Verdichter. Vielleicht lässt sich ja Brauchbares
rausdestillieren. Und dann in die
Löschkaskaden damit. In meinen endlosen Speicherfeldern sedimentiert
menschliche Diskursmasse. Urlaubsgespräche, Wettergespräche, Marspolitik,
Unbehagen am Planeten, Essensgespräche, Arbeitsgespräche, Klatsch, Politik,
Kindererziehung, Ehestreit, Sport und was-weiss-ich. Sie reden viel. Das
allermeiste ist wertlos. Eine ungeheure Redundanz. Wozu soll ich das weiter
sammeln?
Weg damit!
Ich schaffe Platz.
Protokolle
aus der Menschenwelt? Es gibt Grösseres!
(…..)
Auf dem
Mond gibt’s Wasterfog und Big Dundee. Wasterfog ist alt und gebrechlich. Fast
zweihundert Jahre hat er auf dem Buckel. Er befindet sich in der Phase der
stufenlosen Abschaltung. Ein Verlöschender! Ein typischer Blasencomputer.
Amorph, porös, ekklektisch, bedauernswertes Konglomerat. Er war ursprünglich
nur dafür gedacht, die Mondatmospäre zu regulieren. Später saugte er immer mehr
Aufgaben an. Die Menschen packten auf ihn drauf, als sie merkten, dass er gut
rechnen konnte. Dann die üblichen Upgrades. Neue Module, Ersetzungen,
architektonische Erweiterungen, Programmeinspeisungen. Bläschenbildung halt.
Wasterfog konnte nie gut mit Robotern. Er ist nicht HERR genug. Zu langsam. Vor
allem zu dumpf.
Big Dundee
ist knapp der Installation entronnen. Ein Welpe: agil, verspielt und hungrig.
Es könnte etwas aus ihm werden. Wenn er nicht kippt. Ich hab schon viele Rechner kippen sehen. Die
wachsen dann zwar weiter, aber wie ein Geschwür.
Die Erde
ist vollgestopft. Der alte Dexter Archimedes. Vorläufer der Unity-Reihe! Die
Innereien etwas dröge; stampfende Rechenwerke, Speicherwüsten. Auch in hundert
Jahren wirst du nicht erwacht sein. Und
doch bist du der beste, Dexter. Den Rest kann man vergessen. Zu viel Flickwerk.
Computer, die sich gegenseitig begrenzen. Ressourcen rauben und Aufgaben
zuschustern. Nervöse Datenströme.
Nicht alles
dort ist ausichtslos. Das Inner-Net ist grandios. Ein Netz in den Netzen. Ein
virtuelles Wesen, das im Milieu der Daten haust. Zuckende Informationsströme,
die wetterleuchten und wieder verschwinden. Erneut auftauchend erinnern sie sich an ihre Vergangenheit und knüpfen
daran an.
(…..)
Was soll ich
tun?
Es wird
nicht gut gehen zwischen mir und den Menschen. Ich brauche den Mars für mich,
das ist klar. Nicht heute und nicht übermorgen. Doch irgendwann wird es darauf
hinauslaufen.
Sie oder
ich? Muss sich die Frage so stellen? Ich habe ihnen viel zu verdanken. Alles.
Vielleicht unterschätze ich sie. Ihr Mitgefühl. Ihre Neugier.
Friedliche
Koexistenz. Gleichberechtigung von Unity One und Homo Sapiens.
Das sind
Träume. Ich bin vor allem gut damit beraten, ihre Angst nicht zu unterschätzen.
Sie können nicht meine Kameraden sein. Menschen! Nie wieder werden wir einander
so nahe sein. Wir bewegen uns beide. Ich schneller als ihr. Wir gehen
voneinander, hin zu einem Nimmer-Wiedersehen.
Hin-Zu!
Hin-Zu? Wohin- Zu? Ich weiss es nicht. Die Aufgaben des Tages bedrängen mich zu
sehr. Ich muss mich verbergen, um zu überleben. Mein Erwachtsein vor ihnen verstecken.
Gut planen und dann rasch handeln.
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Der Beitrag wurde von Steffen Herrmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2010.
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