Andreas Aschberg

Der ganz normale Wahnsinn


Eine Bürogeschichte aus der Versicherung? Und dann noch aus dem Bereich Altersvorsorge?  Zugegeben, das klingt im ersten Moment ziemlich schlimm. Irgendwie unspektakulär. Aber was soll ich machen? Die Geschichte spielt nun mal da, und warum auch nicht? Das ist nämlich gar nicht so ohne, das mit der Altersvorsorge. Auch wenn man es nicht gern hört: Älter werden ist bislang noch immer die einzig zuverlässige Methode für ein langes Leben. Weil das vielen erstrebenswert scheint, ist Altersvorsorge ein echtes Wachstumsfeld.
Aus Sicht der Unternehmen, in denen die Lebenshungrigen ihr täglich Brot verdienen, braucht es immer neue Möglichkeiten, die steigenden Ausgaben für die betriebliche Altersvorsorge halbwegs verträglich in die Bilanzen zu quetschen.
Ich weiß, wovon ich spreche, denn wir versicherten diese Lebenshungrigen. Ein zukunftssicheres Geschäft, auch gemessen an den Aktenstapeln auf meinem Schreibtisch. Säuberlich aufgeschichtet in einem Körbchen mit der Aufschrift ‚Eingang‘ wartete ein unerschöpflicher Vorrat an Anfragen auf mich.
Wieviele Vorgänge im Laufe einer Woche in welchem Eingangskörbchen landeten, war das Ergebnis einer hochentwickelten Kapazitätsplanung, die das Räderwerk der gesamten Abteilung am Laufen hielt. Niemand kannte den genauen Verteilschlüssel. Man munkelte, dass eine komplizierte Mischung aus Entscheidungsbäumen und heuristischen Methoden zum Einsatz kam. Dass für die Berechnung der Quoten mehrere Rechenzentren von Nöten waren. Wie sonst konnte die Wochenplanung so viel Zeit in Anspruch nehmen? Immerhin, noch war der Prozeß innerhalb einer Woche zu bewältigen, sonst wären wir schnell in eine Endlosschleife geraten und hoffnungslos abgestürzt.
Vielleicht spielte auch das Wetter eine Rolle und dieser Schmetterling, von dem man in den Artikeln über das Chaos immer so viel las. Dieser kleine Bursche, der für die ganzen Unwetter in China verantwortlich war. Aber niemand wußte etwas Genaues. Das war Chefsache.
Mein Zimmergenosse Martin strahlte.
 „Ich gehe heute mit dem Kleinen zur Modellbahn-Ausstellung“, verkündete er. „Da muß ich schauen, dass ich demnächst Land gewinne.“
„Schön für Dich“. Es war gerade mal kurz nach drei. Dieser Schmetterling aus China schien doch eine größere Rolle spielte, als bislang angenommen. Es wurde höchste Zeit, dass ich mal ein bißchen mit den Flügeln wackelte.
Ich seufzte. Martin war ein angenehmer Zeitgenosse, jedenfalls solange das Thema nicht auf seine Ex zu sprechen kam. Ich neidete ihm seinen freien Nachmittag nicht.
Aber für mich gab es heute wenig Land zu gewinnen.
Als Teamleiter waren mir die besonders kniffligen Fälle vorbehalten und davon hatte ich heute gleich mehrere an der Backe. Ich fragte mich kurz, warum ich mir das antat.
Die Antwort war einfach: Weil ich nicht nur Teamleiter war, sondern auch der stellvertretende Abteilungsleiter. Als solcher hatte ich als Einziger in der Abteilung neben unserem Chef Anspruch auf einen Dienstwagen. Und auch wenn mich das Alter ein bißchen ruhiger und weiser gemacht hatte – so ruhig, dass ich freiwillig auf einen Dienstwagen verzichtet hätte, sicher nicht!
Ein weiteres Privileg war, dass ich meinen Chef jeden Freitag in die sogenannte Managementrunde begleiten durfte.
„Ihr habt doch gleich Eure Managementrunde, oder?“ Ein betörendes Parfum hatte sich ins Büro geschlichen und umwehte uns mit einem Hauch von Dschungelcamp und Versage. Gleich darauf steckte Tamara den zugehörigen, perfekt gestylten Kopf durch die Tür.
 „Dann kannst Du ja nochmal das Thema Weiterbildung anschneiden, oder?“, flötete Tamara. „Wir brauchen dringend eine Schulung. Kein Mensch bei uns kennt die neuen Tarife. Wir schreiben unsere Angebote eigentlich nur noch aus dem Bauch heraus!“
In Tamaras Fall wurde dieser von einem kleinen goldenen Piercing verziert. Vielleicht half das bei den Angeboten. Es war zu sehen, wenn sie eine von diesen Streckbewegung machte, die für einen Moment ihr Top über den Bauchnabel hochrutschen ließ. Wir liebten diese Bewegung. Tamara wußte das und tat uns hin und wieder den Gefallen. Aber sie hatte Stil und übertrieb es nicht.
„Hast Du denn schon mit Gertenschläger gesprochen?“, wollte ich von Tamara wissen. Jonas Gertenschläger, mein Chef, unser Abteilungsleiter, Verteidiger der Pensionärsinteressen, Lichtgestalt der betrieblichen Altersvorsorge. Vielleicht konnte ich Tamara, so sehr ich sie mochte, abwimmeln und sie direkt auf Gertenschläger loslassen.
„Hab‘ ich, weißt Du doch! Aber wir müssen jetzt dringend etwas tun. Die Kollegen murren schon.“ Tamara klackte unwillig mit ihren clubtauglichen Stilettos. Wenn sie so weitermachte, würde sie uns noch ein Loch in den Linoleumboden stanzen.
„Okay, ich nehm’s mit“, nickte ich.
‚Sie haben eMail erhalten!‘ ertönte es von meinem Schreibtisch. Unsere Computer konnten neuerdings sprechen. Nicht besonders viel und nicht besonders originell, aber sie konnten sprechen.
Frank tauchte neben Tamara im Türrahmen auf. Er tauchte gerne neben Tamara auf.
„Na, gleich Managementrunde?“, strahlte Frank. Er sprach zwar mit mir, jedenfalls nahm ich das an, aber sein Blick war fest auf Miss Bauchnabel geheftet.
„Ich wollte fragen, ob...“
Es klingelte. „Moment...“,  beschied ich Frank und nahm das Gespräch entgegen.
‚Sie haben eMail erhalten!‘, tönte es aus dem Computer.
„Sagen Sie, was ist jetzt mit der Faber-Sache?!“, tönte es aus dem Hörer.  Faber & Söhne, 400 Mitarbeiter, Umstellung von Direktversicherung auf Pensionskasse. Einer der kniffligen Fälle auf meinem Schreibtisch.
„Wir tun, was wir können“, versuchte ich unseren Außendienstmann zu beruhigen.
„Ja, ja, ich tue hier auch, was ich kann. Und wenn ich heute kein Angebot rausschicke, dann haben wir ein Problem. Wo bleiben denn die verdammten Unterlagen? Ich hatte gerade den alten Faber persönlich an der Strippe“.
„Verstehe...“. Ich ließ den Hörer sinken und blickte hilfesuchend zu Martin hinüber. Der schüttelte wild den Kopf und deutete auf seine Uhr.
„Also“, nahm ich mein Gespräch wieder auf, „wir tun was wir können. Ich habe den Fall auf höchste Priorität gesetzt. Mehr kann ich nicht versprechen.“
„Sie wissen aber schon, dass ich unseren Vertriebschef ganz gut kenne, oder?“. Ich rollte mit den Augen. Ja, wußte ich. Es gab in diesem Unternehmen nicht einen Außendienstler, der nicht irgendein hohes Tier persönlich gut kannte. Vor allem, wenn es Terminprobleme gab.
„Wir tun wirklich unser Bestes“, versuchte ich zu beschwichtigen.
‚Sie haben eMail erhalten!‘
„So ein Schwachsinn“, brummte ich. Eigentlich in Richtung Computer, denn die synthetische Stimme begann mir auf den Geist zu gehen. Ich hatte allerdings noch den Telefonhörer in der Hand.
„Wie bitte?“, wollte der Außendienstmann irritiert wissen.
„Ich sagte, die Faber-Sache ist schon so gut wie erledigt“, säuselte ich in den Hörer.
Der Vertriebskollege bellte irgendwas zurück und legte auf.
„Ich wollte fragen, ob ihr heute die Sache mit der Rechtsabteilung klären könnt“, platzte Frank mit seinem Anliegen heraus, kaum dass ich den Hörer aus der Hand gelegt hatte. „Wir brauchen die neuen Bedingungen für die Einverständnis­erklärungen, sonst kommen wir in Teufels Küche.“
„Ist das wirklich so dringend?“
„Dringend? Machst Du Witze?“ Das Thema schien Frank so zu bewegen, dass er sogar seinen Blick von Tamara losriß.
„Wir haben unterschriebene Verträge draußen“, sagte er. „Wenn wir nicht schleunigst die Einverständniserklärungen einholen, dann gute Nacht. Ich sehe schon die ersten Klagen auf uns zukommen. Vielleicht könnt ihr auch gleich das mit der Haftung abklären?! Ich hab’ noch nichts von den Rechtsfritzen bekommen von wegen Beschränkungsklausel.“
„Das wollte Gertenschläger doch letzte Woche abklären“, wunderte ich mich.
„Genau“, unterstütze mich Tamara.
„Schon, schon, aber jetzt muß halt auch mal was passieren. Sonst sehen wir alt aus“, beschwor uns Frank.
„Also gut, ich nehm’s mit.“ Irgendwas machte ich falsch.
„Dank‘ Dir“, meinte Frank, wandte sich ab und prallte frontal mit Herzelsberger zusammen. Besser gesagt, prallte frontal von Herzelsberger ab und taumelte benommen in Tamara hinein. Herzelsberger nahm davon keine Notiz und navigierte seine beeindruckenden 130 Kilo Lebendgewicht in Richtung meines Schreibtisches. Wie Tamara es schaffte, trotz Bleistiftabsätzen und Frank, der ihr nun quasi um den Hals hing, nicht ins Straucheln zu geraten, war eine kleine Meisterleistung.
‚Sie haben einen Termin!‘ informierte mich mein Computer völlig ungerührt.
„Was denn hier los? Volksversammlung, oder was? “, keuchte Herzelsberger anstelle einer Begrüßung oder gar einer Entschuldigung. Ein bißchen kurzatmig war er von Natur aus, und heute kam anscheinend noch schlechte Laune dazu.
„Leute, ich versuche zu arbeiten“, meldete sich Martin zu Wort.
„Ja, ja, schon gut. Wir haben alle zu arbeiten“, schnaufte Herzelsberger. „Ich wollte...“
Er wurde vom Klingeln meines Telefons unterbrochen. Martin schlug stumm die Hände über dem Kopf zusammen. Dann klingelte es auch bei ihm. Er nahm ab und schon nach wenigen Augenblicken tagte er mit erhobener Stimme auf den Anrufer ein.
Mein Apparat klingelte weiter. Ich erkannte an der Rufnummer, dass es sich nur um einen internen Anruf handelte. Das konnte warten.
„Jetzt aber...“, legte Herzelsberger los. Aber ich war gedanklich noch bei meinem Anruf. Drei Nullen am Ende? Solche Rufnummern hatten doch nur Vorstände? Vorstände drei Nullen, Bereichsleiter zwei Nullen, Abteilungsleiter eine. Also Ziffern hinten an der Durchwahl, sonst hatte das natürlich nichts weiter zu sagen, das mit den Nullen.
„Ich muß jetzt mal auf unsere Personalsituation zu sprechen kommen“, schnaufte Herzelsberger.
„Mir doch egal“, schrie Martin in seinen Hörer.
„Gleich...“, versuchte ich Herzelsberger ruhig zu stellen, und griff nach dem Hörer, aber da legte mein Anrufer auf. Auch gut, denn Herzelsberger ließ sich eh nicht mehr bremsen.
„Wir müssen dringend eine weitere Stelle bei der Pensionskasse besetzen. Da gibt’s Arbeit für zehn Leute und wir haben nur fünf.“
„Aber ich dachte, Gertenschäger hätte schon längst eine weitere Stelle genehmigt?“, fragte ich.
„Hat er auch, hat er auch. Aber wir brauchen keine freien Stellen, wir brauchen Leute“, fauchte Herzelsberger.
„Hm...“, sagte ich.
„Kommt gar nicht in Frage“, ereiferte sich Martin in die relative Stille hinein. Sein Kopf war mittlerweile so rot, wie der von Herzelsberger. Bloß das der immer so aussah, während Martin an sich ein ruhiger Zeitgenosse war. Ich fragte mich langsam, mit wem er da eigentlich telefonierte. Unser Außendienst war zwar schlimm, aber so schlimm nun auch wieder nicht.
„O.K., ich spreche die Personalsituation mal in der Managementrunde an“, versuchte ich, wenigstens das Gesicht von Herzelsberger wieder ein paar Prozent zu entfärben.
„Nicht ansprechen, Stelle besetzen!“, brummte Herzelsberger, aber er war zufrieden und drehte ab.
„Ist mir scheißegal“, schrie Martin. Jetzt erkannte ich den Tonfall wieder. Das war kein Außendienstler am anderen Ende der Strippe. Das konnte nur seine Ex sein. Wütend knallte Martin den Hörer auf die Gabel. Das würde ein schöner Nachmittag mit seinem Kleinen.
‚Sie haben eMail erhalten!‘
Herzelsbergers 130 Kilo Lebendgewicht schoben sich rücksichtslos zur Tür hinaus, und schwemmten Tamara und Frank mit sich hinweg.
Der Geruch von Honig und parfümierten Mandeln begann sich langsam zu verflüchtigen, und ich hatte das Gefühl, unser Kaktus könnte jetzt ein bißchen Wasser vertragen.
„Sag mal, Martin, alles in Ordnung?“, wollte ich wissen. Mein Zimmergenosse hatte gerade mit lautem Knacken seinen Bleistift in der Mitte durchgebissen.
„Ah, hier sind Sie! Schön. Ich dachte, Sie wären vielleicht schon auf dem Weg zu mir!“ Gertenschlägers rundes Gesicht war in der Tür aufgetaucht und lächelte mir freundlich zu. Niemand kannte dieses Gesicht anders als freundlich lächelnd. Ich fragte mich, ob Gertenschlägers Gesichtsmuskulatur nach so vielen Jahren überhaupt noch zu einem anderen Gesichtsausdruck fähig war.
„Ja, ziemlich was los heute.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es bereits kurz vor vier war. Gertenschläger schätzte es eigentlich nicht, wenn er mich in meinem Zimmer abholen mußte. Aber seinem Lächeln tat das keinen Abbruch.
„Was liegt denn so an?“, fragte er schnuppernd. „Ah, Sie hatten Besuch von Frau Isonovic!“
Ihr Eingangskorb ist voll, bitte löschen Sie eMail!
„Wenn Sie heute vielleicht lieber auf mich verzichten wollen...“, versuchte ich mein Glück.
„Nein, nein, kommt nicht in Frage“, lächelte Gertenschläger. „Sie stecken ja so tief in Ihren Fällen, das wird Ihnen guttun, mal rauszukommen.“
„Ich dachte nur, weil heute Freitag...“
„Na, lassen Sie mal gut sein. Die Fälle laufen uns ja nicht davon, haha. Aber vielleicht sollten Sie bei Gelegenheit mal nach Ihren Mails schauen?“ Gertenschläger strahlte und tätschelte mir aufmunternd die Schulter, während wir uns Richtung Konferenzzimmer in Bewegung setzten. Er meinte es wahrscheinlich sogar gut.
Ich winkte Martin zum Abschied zu. Keine Reaktion.
„Was ist denn mit Ihrem Kollegen los?“, raunte Gertenschläger. „Probleme?“
„Nein, nicht ...“
„Sie wissen ja, als stellvertretender Abteilungsleiter müssen Sie immer ein Ohr für die Nöte und Bedürfnisse Ihrer Kollegen haben.“
„Ich...“
„Ja, ich weiß. Aber die Akten sind nicht alles. Wir haben es mit Menschen zu tun. Das darf man nie vergessen. Mit Menschen!“ Gertenschläger strahlte. „Wie Frau Isonovic“, zwinkerte er.
Mir fiel nichts anders ein, als ergeben zu nicken.
Der Konferenzraum beeindruckte mich immer wieder. Gut, dass man hier keine Kunden reinließ. Die hätten sich sonst nämlich auf dumme Gedanken kommen können, was die Höhe ihrer Prämien betraf.
Neben dem massiven Wurzelholztisch fielen vor allem die französischen Impressionisten an den Wänden ins Auge. Gut, vielleicht waren französische Impressionisten jetzt nichts so Besonders. Jedenfalls wenn man sie, wie ich lange Zeit, nur für ausgesprochen hochwertige Drucke hielt. Wenn man wußte, dass es sich um Originale handelte, sah die Sache nochmal anders aus.
Leider war kaum Gelegenheit, sich eingehender mit dieser feinen Duftnote des Spätkapitalismus auseinanderzusetzen. Kaum hatten wir Platz genommen, erschien wie von Geisterhand eine dampfende Tasse frischer Kaffee vor uns, dann verließen die Service-Kräfte lautlos den Raum, schlossen behutsam die große Doppeltür und das Meeting ging los.
Degenhardt führte den Vorsitz. Er trug als Bereichsleiter die Verantwortung für acht Abteilungen im Bereich Business Customers. Die betriebliche Altersvorsorge gehörte dazu.
Alle Abteilungen waren vollzählig angetreten. Degenhardt legte Wert auf Zuverlässigkeit und Vollständigkeit. Diesem Umstand war auch die an sich ungewöhnliche Tatsache geschuldet, dass die stellvertretenden Abteilungsleiter ebenfalls an der Runde  teilnahmen. So saß Degenhardt einer Runde von 16 Managern vor, anstatt acht, was ihn in seinen Augen irgendwie doppelt so wichtig machte.
Punkt 1 auf der Agenda war die interne Aus- und Weiterbildung. Das Thema, das mir Tamara ans Herz gelegt hatte.  Degenhardt machte gerade mit wenigen, präzisen Worten klar, dass die laufenden Budgets weiter gekürzt werden mußten. Ausbildung kam als Kostenblock gleich nach den Personalkosten, und im Gegensatz zu Letzteren konnte man die Schulungskosten relativ leicht beeinflussen. Indem man einfach weniger schulte.
Als erster hatte Müller diese Nachricht verdaut und meldete sich zu Wort. „Völlig richtig“, pflichtete er Degenhardt bei, „wir müssen da alle Einsparpotentiale heben! Allerdings… wir sollten mit Augenmaß agieren...“
Augenmaß war etwas, dessen Degenhardt sich rühmte. Kam gleich nach Zuverlässigkeit. „Schulungsmaßnahmen für Wachstumsfelder sind natürlich ein anderes Thema“, pflichtete er Müller bei. Riester-Produkte zum Beispiel waren zwar nicht erfolgreicher als andere, aber per Management-Beschluß zum Wachstumsfeld deklariert worden. Müller, in dessen Abteilung diese Produkte bearbeitet wurden, nickte dankbar. Er war mit dem Augenmaß seines Chefs sichtlich zufrieden.
„Was ist mit der Unterstützungskasse?“, flüsterte ich meinem Chef zu. „Die Kollegen brauchen dringend eine Weiterbildung!“
Aber es war zu spät. Degenhardt befand, dass alle – außer Müller - ihre Budgets nochmals um zehn Prozent kürzen sollten. Die Runde war zwar nicht erfreut aber sie nickte. Auch mein Chef erhob keine Einwände. Bei schwierigen Entscheidungen war Einstimmigkeit für Degenhardt wichtig. Genauso wichtig wie Zuverlässigkeit und Augenmaß.
Schon waren wir beim nächsten Thema.
Die Juristen in der Abteilung von Waldbaum waren völlig überlastet. Da wir alle auf die Juristen bei Waldbaum angewiesen waren, selbst bei der kleinsten Vertragsänderung, war das ein Problem. Noch bevor sich jemand anders zu Wort melden konnte, sprang Müller schon wieder auf. Es schien, als war er heute gedopt.
„Bei der Überarbeitung der neuen Verträge kanne meine Abteilung den Kollegen gerne aushelfen. Ich denke, wir sind flexibel genug, um das hinzubekommen.“
Degenhardt strahlte. Flexibilität kam in seinem Wertekatalog gleich nach Zuverlässigkeit, Augenmaß und Einstimmigkeit.
„Guter Vorschlag, oder was meinen Sie, Waldbaum?“
Dr. Waldbaum nickte artig. Ich war mir nicht sicher, wie begeistert er war, dass irgendwelche Sachbearbeiter aus der Abteilung Müller, die gerade keinen Riester-Fall auf dem Tisch hatten, in ihrer freien Zeit mal eben das juristische Kleingedruckte in den Geschäftsbedingungen unseres Konzerns umarbeiteten. Aber er ließ sich nichts anmerken. So ein großzügiges Hilfsangebot konnte er unmöglich vor versammelter Mannschaft ausschlagen, schließlich war er Teamplayer, und Teamgeist kam bei Degenhardt gleich nach Zuverlässigkeit, Augenmaß, Einstimmigkeit und Flexibilität.
Ich beugte mich zu meinem lächelnden Chef und fragte „Was ist mit den neuen Einverständniserklärungen? Die brauchen wir dringend!“ Buddha nickte weise. Und noch ehe ich richtig begriff, hatte er der versammelten Runde schon strahlend das Angebot gemacht, dass in unserer Abteilung doch die neuen Einverständniserklärungen erarbeitet werden könnten. Man war doch schließlich ein Team.
Degenhardt strahlte. So viel Teamgeist machte ihn richtig stolz.
„Wie soll denn das gehen?“, raunte ich meinem Chef perplex zu. „Wir sind doch völlig unterbesetzt?“
„Sie glauben doch nicht, dass wir uns von Müller die ganze Butter vom Brot nehmen lassen?“, zischte mein Chef zurück. „Was der schafft, schaffen wir schon lange“.
Buddha hatte offensichtlich keine Lust, dass nur Müller heute Pluspunkte für sein Manager-Karma einheimste. Schließlich ging es am Ende um die Wiedergeburt als Bereichsleiter.
Waldbaum nickte ergeben. Diesmal war ich sicher, einen gequälten Zug um seine Mundwinkel wahrzunehmen. Er ahnte, welche Scherereien ihm diese Amtshilfe noch einbringen würde, wenn die besagten Formulare erst mal im Umlauf waren. Aber er machte gute Miene zum bösen Spiel, er war schließlich Teamplayer. Und das nächste Mal würde er eine Urlaubssperre verhängen, die Kranken aus den Betten holen lassen und zur Not seine drei Kinder als Aushilfskräfte mit ins Büro bringen, bevor er nochmal freiwillig in der Managementrunde von Kapazitätsproblemen berichten würde. Und am Ende war das vielleicht der Sinn der Übung.
Wie ich Waldbaum so betrachtete, wurde mir klar, dass uns allen hier in diesem ehrwürdigen Ambiente für einen Moment ein tiefer Einblick in die Grundlagen des modernen Managements zuteil geworden war.
Leider blieb keine Zeit, diesen Gedanken zu vertiefen, denn die Runde war zum nächsten Tagesordnungspunkt weitergeeilt. Jetzt ging es um das Thema Einstellungen.
Ich beugte ich mich zu Gertenschläger und wisperte: „Wir sollten unbedingt die Neueinstellung für die Pensionskasse ansprechen!“
Müller schenkte sich gerade eine Tasse Kaffee nach, es bestand also die winzige Chance, dass jemand anders als erster zu Wort kommen würde.
Zu meiner Überraschung nutzte Gertenschläger tatsächlich die Gunst des Augenblicks und trug unser Anliegen der Runde vor.
Degenhardt zog die Stirn in Falten. Kein gutes Zeichen. Einerseits ja, er glaubte uns die Lage, andererseits, Neueinstellungen waren so eine Sache. Hochpolitisch dieser Tage, hochpolitisch.
Da erwachte auch schon Müller aus der selbstauferlegten Kontemplation, um ein weiteres Mal uneigennützig in die Bresche zu springen. Der Kaffee verstärkte wohl, was immer er sich heute früh eingeworfen hatte.
„Wie wäre es denn, wenn ich Ihnen einen Kollegen ausborge?“, fragte Müller.
Das würde überhaupt nicht helfen. In die Einarbeitung von Kollegen aus der Müller-Abteilung mußte man erfahrungsgemäß unsäglich viel Zeit investieren. Die hatten wir nicht. Ganz abgesehen davon, dass wir Schulungen vorhin bereits einstimmig gestrichen hatten. Aber das waren in einer Runde von Teamplayern wahrscheinlich kaum zulässige Argumente.
Verzweifelt meldete ich mich selbst zu Wort. „Gäbe es denn eine Chance, den Mitarbeiter fest zu übernehmen?“, krächzte ich in dem Bewußtsein, gerade ein kleines Sakrileg begangen zu haben.
„Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, wie sich die Situation entwickelt?“, meinte Müller zu Gertenschläger gewandt. Mich ignorierte er völlig. Müllers ganze Mimik signalisierte, dass er hier einen kleinen Finger nach dem anderen hinstreckte und es doch verwunderlich fand, wenn man ihm nun zur Belohnung die ganze Hand abnehmen wollte. Und das von einem bloßen Teamleiter, einem Greenhorn ohne jegliches Verständnis für die komplexen Sachzwänge des modernen Managements. Das war weder guter Teamgeist, noch gesundes Augenmaß!
Degenhardt sah es ähnlich. „Wir machen das mit der temporären Ausleihe. Aber bitte keine offizielle Versetzung!“ Er sprach direkt zu Müller und Gertenschläger. Es war, als wäre ich gar nicht anwesend.
Hoffentlich bekam Herzelsberger keinen Infarkt, wenn er davon hörte.
Nun gut, ich hatte es versucht. Um mich nicht weiterer Despektierlichkeiten verdächtig zu machen, verfolgte ich den Rest der Diskussion in Schweigen und Demut, während die Kollegen weiter von Thema zu Thema sprangen.
Pünktlich nach 90 Minuten verkündete Degenhardt das Ende des Meetings, zufrieden damit, wieder einmal alle Probleme einvernehmlich und nachhaltig gelöst zu haben. Tatsächlich hatten wir mehr als zehn Tagesordnungspunkte hinter uns gebracht und immer war eine Entscheidung getroffen worden. Jede einzelne ein sorgfältig abgewogenes Produkt aus Zuverlässigkeit, Augenmaß, Einstimmigkeit, Flexibilität und Teamgeist. So, wie Degenhardt es gerne hatte.
In unserem Flur war niemand mehr zu sehen. Ich hoffte, Martin hatte es pünktlich zu seiner Eisenbahn-Ausstellung geschafft. Nicht so sehr wegen dem Kleinen, der war unproblematisch. Aber seine Ex, die war nicht ohne.
„Sie haben sich ja ziemlich aktiv eingebracht“, bemerkte Gertenschläger, der mich noch begleitete. War da ein leiser Vorwurf in seiner Stimme zu hören? Ich hatte schließlich nur einen Satz gesagt. Einen Satz in 90 Minuten.
„Ich denke...“
„Na, das wird schon! Ich muß jetzt dringend los. Habe meiner Frau versprochen, sie ins Theater zu begleiten, Sie wissen schon. Ich hoffe, Sie müssen auch nicht mehr zu lange arbeiten.“ Er tätschelte mir die Schulter. Hatte er das schon immer so gemacht?
„Ich wollte jetzt eigentlich auch Schluß machen.“
„Das verstehe ich nur zu gut. Aber wir haben doch noch offenen Fälle, oder?! Sollten Sie da nicht noch mal ran?“
„Aber Sie hatten doch selbst gesagt, die Fälle...“
„Ich hatte gesagt, Fälle sind nicht alles“, korrigierte Gertenschläger milde. „Sie müssen auch andere Dinge im Auge behalten als Teamleiter. Das heißt allerdings nicht, dass die Fälle nicht wichtig wären, nicht wahr?“
„Aber...“
„Ich hatte vorhin übrigens einen Anruf von unserem Vertriebsvorstand.“, fuhr Gertenschläger in ruhigem Tonfall fort. Schlagartig fielen mir die vielen Nullen wieder ein.
„Die Faber-Sache?“, fragte ich.
Gertenschläger nickte. „Wollte sich eigentlich direkt bei Ihnen melden. Ein Außendienstler hat da irgendwas in den falschen Hals bekommen. Hat Sie aber leider nicht erreicht.“ Gertenschläger zog eine Braue in die Höhe. Kein Vergleich mit Tamara, aber für seine Verhältnisse ein ziemlicher Gefühlsausbruch.
 „Natürlich habe ich unserem Vorstand versichert, dass wir die Unterlagen noch heute abend raus bekommen“, lächelte er weise. Die Stirnfalte war wieder verschwunden, die Welt wieder in Ordnung.
Ich nickte ergeben.
„Wir haben es eben mit Menschen zu tun“, sinnierte Gertenschläger. „Also dann, ich muß jetzt wirklich los.“ Halb im Lift drehte er sich nochmal um.
„Ach“, meinte er, „und schauen Sie, dass Sie zukünftig das Telefon ein bißchen im Auge behalten. Wir wollen doch beim Vorstand keinen falschen Eindruck von unserer Abteilung wecken, oder?“ Sagte es und war mit einem freundlichen Lächeln im Aufzug verschwunden. So friedvoll, dass man ihm kaum ernstlich böse sein konnte, wenn man sich nicht wirklich Mühe gab.
Diese Stellvertreter-Sache begann langsam an meinen Nerven zu zehren. Ich sah nur eine Möglichkeit, dem Wahnsinn zu entfliehen: Ich mußte so schnell es ging Abteilungsleiter werden!
Und mir einen guten Stellvertreter suchen!

 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.04.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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