Lieselore Warmeling

Erwartungen

“Na ja, man ist immer so alt wie man sich fühlt,”

“Ach wirklich,” sagte ich mürrisch, “dann bestelle für mich schon mal den Abdecker,
das ist heute nicht mein Tag. Ich fühle mich wie sechs Meilen schlecht geflickter Zaun.”

Das kurze Gespräch mit meiner Kollegin Britta hinterließ eher einen faden Beigeschmack.
Sie gefiel sich mal wieder in Allgemeinplätzen und das war bei ihr das deutliche Zeichen dafür,
dass sie uninteressiert war, ob an mir oder an meiner Situation, das konnte ich mir im Moment aussuchen.
Auf alle Fälle sah sie nicht so aus, als würde sie nach Feierabend meine Matratze
mit mir teilen wollen und ich sah schon einen weiteren Fernsehabend mit
Alk-Exzess auf mich zukommen.
Es sei denn, es gelang mir, die Kleine aus der Postabteilung bis Dienstschluss
davon zu überzeugen, dass ich schon immer scharf auf sie war und bisher nur zu
schüchtern gewesen sei, sie anzubaggern.
Um das zu glauben, musste sie allerdings ihre bisherigen Erfahrungen mit mir aus
der Sparte geiler Yuppie in die Abteilung schüchterner Lover verlagern
und dazu mochte vielleicht sogar sie etwas zu clever sein.

Wie schon erwähnt, es war ein beschissener Tag. Mein Boss hatte mir
gerade die Betreuung eines Millionen-Werbeauftrages entzogen um ihn
gänzlich unerwartet seinem bescheuerten Neffen zuzuschanzen. Die Tatsache, dass
ich dennoch derjenige sein würde, dessen Ideen das Projekt zu einem Erfolg machen
sollten, war auch nicht dazu angetan, meinen Glauben an die Gerechtigkeit der
Arbeitswelt zu festigen.

Neffe Friedbert war eine taube Nuss, eines eigenen Einfalles ungefähr so fähig
wie eine Magersüchtige zum Schwingen ihrer Hüften.
Dennoch war er diesmal der Projektleiter und mein Ersteinfall, ihn gnadenlos
auflaufen zu lassen, wich der logischen Überlegung, dass ich das zwar durchziehen
konnte, aber dann selber auch nicht ungeschoren davonkommen würde.

Als Trostpflaster der besonderen Art stand Britta also heute nicht zur Verfügung
und wenn ich Mimik deuten konnte, war sie gerade dabei, eine Attacke
auf Neffe Friedbert zu starten.
Britta war eine ganz Fixe. Sie brauchte nicht lange um zu erkennen, dass er die
besseren Verbindungen zur Firmenspitze aufweisen konnte, was natürlich einem
zwar grenzgenialen, aber promiskuitiven Werbetexter wie mir, vorzuziehen war.
Zumindest dann, wenn man bereit war, ein fliehendes Kinn, Basedowaugen und
eine Kastratenstimme zu akzeptieren.
Ganz zu schweigen davon, dass Friedbert wahrscheinlich eine Wagenladung
Viagra brauchen würde, um sein Blut durch die verkalkten Adern
in Richtung Penis zu schleusen.
Er gehörte zu der Sorte, die schon alt auf die Welt kommt und danach waren
auch seine kreativen Einfälle.

Doch was nützte mir das alles.
Die Weichen für meinen Aufstieg waren - anscheinend unbemerkt von mir -
in einem imaginären Stellwerk soeben umgeschaltet worden und wenn ich
nicht höllisch aufpasste, würde der Zug in dem ich saß  im Nirgendwo enden.

Friedbert meine Einfälle zu verweigern würde also höchstens mein Arbeitsverhältnis
bei KRE-DO etwas abrupt beenden und was das heutzutage bedeutete konnte ich mir ausmalen.
Ich würde mein teures Loft aufgeben müssen.
Der Ferrari, den böse Zungen meine Abschleppfalle nannten, wäre ebenfalls nicht mehr zu halten .
Und die Anzüge von ARMANI mussten solchen mit dem Label von C&A weichen.
Kurz und gut, der soziale Abstieg wäre vorprogrammiert
Meine Individualität konnte ich mir demzufolge ins noch volle Haar schmieren,
Friedbert und sein Gönner saßen am längeren Hebel.

Meine Erwartungen waren mal wieder voll auf der Strecke geblieben, oder gerade
nicht kompatibel mit denen meiner Umwelt, wie immer man es sah.
Und jetzt?
Aufgeben, mich anpassen, abfinden mit den Gegebenheiten dieser mörderischen Branche?
Ich doch nicht.
Immerhin waren meine Erwartungen ja nicht zum erstenmal baden gegangen.
Ich war jetzt fünfunddreissig und allzu lange lag die Zeit noch nicht zurück, in der
ich mich fragte, ob Erwartungen überhaupt je erfüllt werden.

War es nicht pure Gerechtigkeit, wenn dem nicht so war?
Denn wie kommt die Welt dazu, meine Erwartungen zu erfüllen, wenn ich die
ihren in schöner Ignoranz links liegen lasse?

Mit Vierzehn erwartete ich, es würde nicht mehr lange dauern, und irgend ein
schlauer Kopf entwickelt innerhalb des Projektes "Jugend forscht" eine Art
Tarnkappe, mit der ich im Mädchenumkleideraum auftauchen und Verwirrung stiften könnte.
Nur Verwirrung?
Na ja, meine knabenhaften, frühpubertären Schübe waren damals noch nicht
so weit, sich auf mehr festlegen zu lassen.
Meine Schwester Lisbeth hingegen, zwei Jahre älter als ich, hatte da schon
erheblich mehr auf der Pfanne gehabt.
Sie war Cheerleaderin, schmiss ihre wogenden Locken jeden Sonntag beim
Eishockeyspiel der zweiten Liga aufreizend über die Schulter, die Beine
fast genauso hoch, und erwartete, endlich einmal von dem
flachbrüstigen Reporter bemerkt zu werden.
Der aber war nur gekommen, das Spiel zu beurteilen.
Eine Schlagzeile im Sportteil, wäre das nicht der Gipfel aller Erwartungen?
Und in der Zwischenzeit entbrannte sie damals pausenlos für irgend einen
unterbelichteten Scheisser, einer pickeliger und unbedarfter als der andere,
und keiner von ihnen schien ihre Erwartungen auch nur annähernd erfüllen zu können.
Es waren ausnahmslos hirnlose Vollkretins, die sich die Hände an ihrem
Liebesfeuer wärmen wollten, und das machte Lisbeth irgendwann aufmüpfig:
Sie beschloß ins Kloster gehen!

"Weisst du eigentlich," sagte Mutter gelassen am Frühstückstisch,
"dass man bei den Ursulinerinnen immer noch die Haare abschneiden muss?
Die erwarten eine völlige Loslösung von weltlichen Eitelkeiten,
vielleicht solltest du doch lieber Missionarin in China werden, da kannst du
dann die Haare bis zur Kinnlänge behalten."
Ab diesem Tag war "Kloster" kein Thema mehr, und Lisbeth`s Erwartungen
an die Zukunft müssen sich rapide verändert haben, denn sechs Monate später
wurde sie schwanger, heiratete einen Klempner und stellte ihre Erwartungen künftig an diesen.

Ich war damals siebzehn und wartete darauf, in einem Jahr zum Bund zu kommen.
Es schien mir außer Frage zu stehen, dass jemand mit meinen strammen
Einsneunzig, dem durchtrainierten Body eines Brustschwimmers der Kreisklasse,
nebst der Erwartung, mindestens Offizier zu werden, nur dort die
wirkliche Karriere machen würde.

Würde...denn bei der Musterung stellte sich dann heraus, dass ich einen
- wenn auch geringfügigen - Herzfehler hatte, und Plattfüsse obendrein.
Meine Sicht auf mich selbst erlitt einen rapiden Einbruch, und ich entschloss
mich etwas plötzlich, den Kriegsdienstverweigerer zu spielen,  denn meineInvalidität nach aussen zu kehren, also nein, das konnte nun niemand erwarten.
Zumal ich gerade die Superblonde aus dem Maritime umwarb und mich
drei Schritte vor ihrer Kapitulation wähnte.

Leider war auch das dann eine Erwartung, die sich nicht erfüllte.
Sie heiratete ihren Boss, den Besitzer vom Maritime, und stand ab sofort
nicht mehr hinter der Bar, sondern sauste im roten Ferrari, den linken Arm
lässig aus dem offenen Fenster hängend, durch die Innenstadt, hinter sich
eine Wolke von Benzin und teurem Parfüm.

An Herz und Geist gebrochen beschloss ich, mich nun meinem
beruflichen Aufstieg zu widmen.
Für den direkten Einstieg - in was, wusste ich noch nicht - stand die Aussicht,
bald soviel Penunzen zu verdienen, dass ich mir mindestens zwei Ferraris würde leisten können.

Für eine fundierte Ausbildung sprach der Rest.
Der Rest gewann, zumal mein Vater seinerseits seine Erwartungen an mich daran knüpfte.

Wenn ich also das Problem von allen Seiten betrachte, hatte ich bis dahin
eigentlich doch in schöner Regelmässigkeit irgendwelchen Erwartungen
entsprochen, kein Wunder, dass ich nach dem Abitur beschloss, der Welt ab
sofort zu sagen, was ich von ihr erwartete - und das war nicht wenig .

Ein Scheitern zuzugeben schien also auch jetzt absolut verfrüht,
meine Stunde würde wieder kommen. Ich musste mich nur daran erinnern,
dass es unkonventioneller Mittel bedurfte, in der Welt der Werbung an die Spitze zu gelangen.

Immerhin war ich frech und unbekümmert direkt einen Tag nach dem
Abitur in das größte PR-Unternehmen der Hauptstadt getigert und hatte
mich und meine Dienste angeboten.
Und das nicht etwa beim Personalchef des Unternehmens, sondern beim
Vorstandsvorsitzenden und seinem Team.

Ein reines Versehen, aber wo wäre man ohne das berühmte Quäntchen Glück?

Ich war einfach hinter der jungen Frau mit dem beladenen Servierwagen hergetapst,
die im elften Stock des Hochhauses über den mit flauschigem Belag
ausgestatteten Flur stakste und aussah, als sei sie der Traum meiner schlaflosen Nächte.
Blond, superschlank und mit Beinen, die einen Eremiten aus seiner
selbstgewählten Verzichtshaltung reißen konnten.

Ich war mit meiner sorgsam zusammengestellten Bewerbungsmappe mitten
in einer Vorstandskonferenz gelandet und traf auf eine Runde gut gelaunter,
distinguierter Herren, die sich in Erwartung eines zünftigen kulinarischen
Pausenfüllers einen Spaß daraus machten, diesen jungen unverschämten
Gipfelstürmer zwischen Champagner und Kaviarhäppchen reden zu lassen.

Und reden konnte ich.

Eine Chance dieser Art muss man nutzen und das tat ich und befand mich
zwei Stunden später auf der Einstellungsliste des Konzerns.
Von da an gings bergauf, wenn auch noch nicht sofort.
Ich diente mich in Rekordzeit durch die weniger bedeutenden Abteilungen
des Hauses, den erwartungsvollen Blick aber immer auf die sogenannte
Kreativschmiede im zehnten Stock gerichtet.

Dahin wollte ich, koste es was es wolle.

Es kostete zwei Jahre hochgespannter Erwartungen. Dann begriff ich.
Mit der Methode würde ich wahrscheinlich noch in weiteren zehn Jahren
die Post durchs Haus tragen, oder die Konferenztische betreuen.
Und an denen nahmen selten genug Leute Platz, deren Einfallsreichtum
sich mit meinem messen konnte.
Die meisten waren Zuträger, nicht übel, aber keine Genies.

Ich handelte.
Schon vierzehn Tage nach meiner plötzlichen Einsicht hatte ich Thea,
die Sekretärin des Kreativ-Direktors erobert.
Eine nicht mehr ganz taufrische Brünette, die in der Folge nicht nur an mir
hing wie eine Klette, sondern mir auch alle Informationen zu anstehenden Projekten lieferte.

Bedenken, durch die Hintertür Karriere zu machen, plagten mich keine Sekunde.
Ich fand, wer Thea fast allabendlich zu Stürmen der Leidenschaft hinriss,
hatte jede Unterstützung auf seinem beruflichen Weg verdient.

Als Thea dann meinen Entwurf unter die Vorlagen aus der Kreativschmiede
schmuggelte, hatte ich bereits alle anderen Entwürfe vorher eingesehen
und wusste worüber der Oberboss und seine Auftraggeber
intensive Besprechungen geführt hatten.
Kurzum, mein Entwurf entsprach genau den daraus resultierenden Erwartungen.
Sieg auf der ganzen Linie.

Schon zwei Tage später räumte ich meinen Schreibtisch im Großraumbüro
und zog in ein schönes eigenes Nest im zehnten Stock, rechts und links neben
mir all die bisher nur aus der Ferne bewunderten Ideenlieferanten des Hauses KRE-DO.

Die Liaison mit Thea hielt noch ein ganzes Jahr.
Dann fand ich mich etabliert, saß fest im Sattel und wurde zu den Gartenfesten
meines Bosses eingeladen.

Es war an der Zeit mir auch eine entsprechende weibliche Begleitung zuzulegen.
Nachdem dieser fette Knilch mir jedoch diese wechselnden Retortenschönheiten
immer öfter auszuspannen pflegte, wozu er nicht selten Grosseinkäufe beim
Juwelier starten musste, achtete ich darauf, mit keiner mehr eine längere
Beziehung einzugehen.

Ich warf mein eroberungsbereites Auge stattdessen auf seine Ehefrau Tilda,
eine wunderschöne Rothaarige mit Bernsteinaugen.
Gefährlich?
Das sah ich erst einmal nicht so.
Aber nach Lage der Dinge konnte ich jetzt nicht mehr ausschließen,
dass mein Boss dahinter gekommen war und die Beförderung von
Friedbert seine Antwort darauf war, dass Tilda nicht mehr mit ihm schlief.

Feuern konnte er mich nicht, denn meine Gönner im Vorstand würden ihm
derartige Alleingänge nicht durchgehen lassen.

Ich hatte in den Jahren meiner Firmenzugehörigkeit einen fast legendären
Ruf als sprudelnder Ideenlieferant der Sonderklasse erworben und
verdammt noch mal, den hatte ich mir auch redlich verdient.
Der Vorstand jedenfalls würde nicht zulassen , dass der neue Millionenauftrag
durch die illegale Verstrickung unser beider Liebesleben gefährdet wurde.

Am Ende dieses ereignisreichen Tages fühlte ich mich auf bisher unbekannte
Weise ausgepowert und beschloss, meine exzessive Lebensweise etwas zu drosseln.
Ich würde es mir in meinem großzügig eingerichteten Loft behaglich machen,
vielleicht mal wieder selber kochen. Eine zünftige Pasta, ein bisschen Rotwein
und der Fernseher, das musste für heute reichen.

Und dann saß ich doch nur noch erschöpft auf dem weißen Designersofa und
fühlte mich zu nichts mehr aufgerufen.
Keine Pasta, kein Rotwein, mir war, als sei eine Sommergrippe im Anmarsch.
Ich würde mit zwei Aspirin ins Bett gehen und diesen beschissenen Tag verschlafen.
Er war ohnehin gelaufen und ich nicht gerade der Tagessieger.

Ich erwachte mitten in der Nacht und es dauerte zwei Sekunden ehe mir bewusst war,
was mich aufgeweckt hatte.
Ein infernalischer Schmerz im linken Brustbereich.
Schweißausbruch, Panik.

Stöhnend wälzte ich mich aus dem Bett in Richtung Telefon, absolut sicher,
dass ich auf der Stelle Hilfe brauchen würde.
Es gelang mir noch den Notruf zu aktivieren, bevor ich beim Öffnen meiner
Lofttür zum Fahrstuhl jede Orientierung verlor.

Leider öffnete sich die Tür als der Lift noch zwei Etagen unter meinem
Lofteingang stand.
Die Mechanik fiel zum wiederholten mal aus, etwas, das ich schon lange beheben lassen wollte.
Ich stürzte in den Schacht und landete auf dem Liftdach. Meine Lichter gingen aus.

***
Wie aus weiter Ferne drangen Stimmen an mein Ohr, ohne dass ich zunächst
fähig gewesen wäre, den Sinn der Gespräche zu erfassen.
Ich war absolut schmerzfrei und tiefe Dankbarkeit erfüllte mich.
Ich kämpfte mich mehr und mehr an die Oberfläche meines Bewusstseins und nun
konnte ich, obwohl meine Augen noch geschlossen waren, zumindest hören was gesprochen wurde.

“ Armer Kerl,” sagte eine weibliche Stimme, “der ist wohl fertig.
Professor Klittel gibt ihm wenig Chancen.
Der Schlaganfall war gar nicht so bedeutend, aber bei dem Sturz auf das Liftdach hat er sich eine
Rückgratverletzung zugezogen.

Die Gefahr einer Querschnittslähmung ist noch nicht ausgeschlossen.”

“Dann erwarte ich aber, dass der Professor dem Patienten diese Nachricht selbst beibringt.
Ich bins leid, immer seine Arbeit zu übernehmen, während er sich als der große
Helfer und Heiler bewundern lässt.” Der männliche Sprecher klang ungeduldig und aufgebracht.

Nein, da konnte nicht von mir die Rede sein. KEINESFALLS.
Mühsam öffnete ich die Augen und starrte die beiden Personen neben
meinem Bett wütend an.
Die weibliche Person war ungefähr in meinem Alter, vollschlank aber nicht dick,
sondern das, was Männer als *handfest* zu bezeichnen pflegen.
Die Formen unter dem weißen Kittel schienen mir durchaus ansprechend,
schön aber waren Augen und Haare.
Der weizenblonde Zopf hing schwer und glänzend bis zur Hüfte und die
tiefblauen Augen sahen mich unangenehm überrascht an.

Der Mann war klein, mickrig und das übelnehmerisches Gesicht schien Standard
bei ihm zu sein. Auch er wandte sich mir eher überrascht zu, als habe er nicht
erwartet, mich schon wieder unter den Lebenden zu finden.

Die Ärtzin fasste sich zuerst. Freundlich lächelte sie mich an und die schönen
Zähne in dem leicht gebräunten Gesicht blitzten .
“ Hallo Herr Grünert, da sind Sie ja wieder, wie fühlen Sie sich”.

“Top wäre gestrunzt,” antwortete ich...NEIN, ICH WOLLTE ANTWORTEN.
Aber undeutliches Gestammel kam aus meinem ausgetrockneten Mund.
Ich versuchte es erneut, während Panik bereits alles in mir überflutete.
“ Langsam, langsam,” sie griff nach meiner linken Hand.

Jetzt flippte ich völlig aus, denn ich sah zwar, dass sie meine Hand hielt,
aber ich fühlte es nicht.

Der Schreck war gewaltig und ich unfähig, ihn in Worte zu fassen.
Mit einem unartikulierten Laut des Schreckens griff ich mit der Rechten hinüber
und riß meinen linken Arm hoch, der an mir hing wie etwas, das nicht zu mir gehörte.

“ Er weiß Bescheid “, die Ärztin zog blitzschnell eine Spritze auf, die sie mir geschickt und rasch injizierte. 

Unvermittelt schien alles, was um mich herum geschah, bedeutungslos zu werden.
Mein Bewusstsein wehrte sich noch kurz dagegen, auf diese Weise
ausgeschaltet zu werden, aber der Kampf ging verloren, ich trat weg.

„Was ist Aphasie?“
Das war die Stimme meines Bosses, die da gedämpft an mein Ohr drang.
Ich kehrte zurück aus dem Land der Sorglosen.

„Aphasie ist Verlust der normalen Sprachfähigkeit durch Schlaganfall oder Unfall.
Es kann allgemein mit dem Wort "Sprachlosigkeit" übersetzt werden .
Dieser Begriff wird aber nur für Sprachstörungen verwendet, wenn der
Betroffene seine normale Sprachfähigkeit durch einen Schlaganfall oder
einen Unfall verloren hat. Es gibt sehr große Unterschiede.
Störungen bei Aphasie können massiv und bleibend, aber auch reparabel sein.
Oft sind sprachliche Fähigkeiten lediglich eingeschränkt, z. B. das Finden der richtigen Wörter.
Es ist aber auch möglich, dass das gesamte Sprachverständnis verloren ging.

Aphasiker sind nicht geistig behindert.
Die Sprache ist gestört, nicht das Denken und Wissen der Betroffenen.
Aphasie hat nichts mit geistiger Behinderung zu tun.
Die Betroffenen können Zusammenhänge begreifen und
die Realität wahrnehmen, sie haben lediglich die Fähigkeit verloren, sich
sprachlich mitzuteilen.
Dies wird oft als "Kerker der Sprachlosigkeit" beschrieben und ist für die
Betroffenen besonders quälend.
Sie denken, verstehen und fühlen, können sich aber nicht mitteilen.
Sprechen Sie also mit dem Patienten, wie sie es tun würden, wenn er sich
nur ein Bein gebrochen hätte.“
Die blonde Ärztin sprach, als sei es ungeheuer
wichtig, meinem Besucher die Art meiner Erkrankung zu verdeutlichen.

Na fein dachte ich wütend, und versuchte die beiden Personen, die neben
meinem Bett standen zu ignorieren.
Ich hielt die Augen weiter geschlossen, nicht bereit, meinem Boss mehr zu gönnen,
als den Anblick eines schlafenden Mitarbeiters.

Es kam ja gar nicht in Frage, dass er mich als stammelndes und weitgehend
bewegungsloses ETWAS wahrnahm.
Ich würde meine Situation zunächst einmal für mich zu klären haben, ehe ich zuließ,
dass die Leute aus meinem beruflichen Umfeld Mitleid oder Schadenfreude raushängen ließen.
Das würde je nach Veranlagung und meiner Beziehung zu ihnen durchaus
unterschiedlich sein, aber was Rottenhuber, meinen Boss betraf, war mir völlig klar,
dass er triumphieren würde.
Er war mich losgeworden, ohne sich mit dem Vorstand anlegen zu müssen.
Zumindest wähnte er sich gerade in dieser begrüßenswerten Situation.
Ein kurzes Blinzeln und ich erkannte seinen satten zufriedenen Gesichtsausdruck.

Wenn der Ärztin anhand der Apparaturen, an die ich angeschlossen war,
mein Erwachen nicht entgangen war, dann ließ sie sich das nicht anmerken.
Sie komplimentierte meinen Besucher mit dem Hinweis,
ich brauchte in aller erster Linie Ruhe, freundlich aber entschieden aus dem Krankenzimmer.

“Nun, denken Sie nicht es wird Zeit, sie stellen sich dem Leben”?

Sie stand neben meinem Bett und ihre Stimme war nicht etwa einfühlsam und
aufbauend, sondern eher aggressiv, mit einem deutlichen Unterton von Verachtung.
Die Dame war wohl aus der Gilde der Kasernenhofschleifer .

Ich öffnete ein Auge und war ihr einen mörderischen Blick zu.
Dann winkte ich aufgebracht mit dem gesunden rechten Arm und machte
ein paar Schreibbewegungen. Sie verstand sofort und reichte mir Block und Kugelschreiber.

"Wenn Sie einen zum Essen einladen, kann man aber wirklich sicher sein,
Sie scheuen keine Ausgaben,"schrieb ich etwas krakelig auf den Block und als sie
mich verständnislos ansah, wies ich auf die am Halter baumelnde Flasche, deren Zuleitung in meiner  linken Armvene lag und kniff ein Auge zu.

Sie lachte laut los und dann setzte sie sich auf den Bettrand.
” Gott sei Dank, Sie begreifen, wie wichtig es ist, jetzt nicht die Nerven zu
verlieren, es würde Ihnen keinen Schritt weiterhelfen.
Im Gegenteil, depressive Aufgabe wird ihren Zustand nur verfestigen.
Wenn Sie da wieder rauskommen wollen - und glauben Sie mir, es ist möglich -
dann müssen Sie sofort damit anfangen, es darf keine Sekunde ungenützt vergehen.

Sie nahm meine gesunde Rechte, drückte sie und hielt meinen Blick fest,
als wolle sie mich hypnotisieren.
“Ich werde Ihnen zur Seite stehen. Das hier müssen Sie nicht allein bewältigen.
Ich werde da sein, wann immer Sie mich brauchen, wir schaffen das.”

Dessen war ich sicher, denn alle meine Erwartungen waren auf diesen
einen Punkt gerichtet und ich verschwendete keinen Gedanken daran,
wie sehr sich dieses neue Ziel von jenen unterschied, die ich noch 24 Stunden
vorher so ehrgeizig und zielsicher angestrebt hatte.
Ich würde zu kämpfen wissen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Lieselore Warmeling).
Der Beitrag wurde von Lieselore Warmeling auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Lieselore Warmeling als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Erlebtes Leben: Mein Meerestraum von Fritz Rubin



Versunken in des Meeres Brandung / sitz’ ich am weiten Strand, / das Salz der Gischt auf meinen Lippen, / durch meine Finger rinnt der Sand.
Ich schließ’ die Augen, / geh’ ein in die Unendlichkeit, / es ist ein irres Sehnen / bis hin zur Ewigkeit.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Lieselore Warmeling

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Hundewäldchen von Lieselore Warmeling (Tiergeschichten)
Der Weihnachtsstern von Irene Beddies (Wie das Leben so spielt)
Seidiges Rot von Claudia Jendrillek (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen