Jacqueline Bollmann

Die Jagd



Und es war doch eine Briefbombe. Das war dir doch gleich klar. Du bist mit der flachen Hand zwei Mal über den Umschlag gefahren, hast gestutzt und ihn langsam vor dich auf den Küchentisch gelegt.
Ich achtete nicht weiter darauf. Dann hast du mich angeschrien, als ich ihn am nächsten Tag den Brief in den Müll werfen wollte.
„Eben hast du gesagt, du willst ihn nicht lesen!“
Du hast mir den Umschlag aus der Hand gerissen und bist damit rausgestürmt. Ohne Jacke. Im November. Ich hab sie dir nach getragen. Du hast am Kanal gestanden und geheult wie ein Schlosshund. Das Paket trieb faul auf dem dunklen Wasser.
Deine Augen blieben noch lange rot und geschwollen. Auch, als du mir in der Küche schon fast alles erzählt hattest.
„Es war ein Fehler, Angela“, sagst du immer wieder, „Ein furchtbarer Fehler.“
 
Vor einer Woche bist du wieder in Berlin aufgetaucht. Du warst nur knapp zehn Jahre weg. Aber ich habe dich fast nicht wieder erkannt. Mager bist du geworden. Und fahrig.
„Trotz der vielen Ruhe in der Villa vor der Stadt?“, frage ich.
Seit Kents Unfall muss es ruhig gewesen sein da draussen. Nur du und Mo, seine Tochter. Die war vierzehn als er umgekommen ist. Du erzählst oft von ihr. Wie intelligent sie schon immer war. Hochbegabt und ein süsser Fratz dazu. Mit
ihren roten Pippi Langstumpf-Locken. Du hast sie allein aufgezogen.
„Richtige Freundinnen sind wir geworden“, sagst du. Nicht nur, weil ihr euch gegenseitig gebraucht hättet.
„Da ist so viel mehr, Angi.“
Jetzt habe sie ihr Informatikstudium abgeschlossen. Einen neuen Job in Stockholm angefangen.
Du wolltest einige Wochen hier bleiben.
„Gerne“, habe ich mich gefreut, „Bleib so lange du willst.“
Bis ich dich vor drei Tagen unten am Kanal beobachtet habe. Vom Küchenfenster aus.
Eine heftige Bewegung. Du fällst ins Wasser.
„Die will sich ersäufen“, fuhr es mir durch den Kopf. Ich rannte los.
Als ich unten ankam, standen da drei Leute. Und haben der Person nachgesehen, die dich übers Geländer gedrängt hat.

Du musstest einige Meter schwimmen bis zur nächsten Betontreppe.
„Selbstmord“, keuchst du aufm Weg nach oben. „Ich hab einfach die Nerven verloren.“ Zwingst dich zu einem Lächeln. „Die Nerven, weißt du.“
Warum lächelst du? Ein grausiges Lächeln. So hohl wie deine Wangen.
Am nächsten Tag sehe ich diese hastige Bewegung wieder. Du wirfst dich auf den Boden. Als jemand drei Schüsse auf uns abfeuert. Nicht sehr gut gezielt, glaube ich jetzt. Aber wir trauen uns beide nicht so schnell aufzustehen. Vom nassen Kies hinter den Mülltonnen. Zwei Einschusslöcher. Du machst keine Miene zu erzählen.
Wenn du nicht so gespensterweiss wärst, würde ich dich ohrfeigen. Diese Absicht scheint zu helfen.
An der Uni habe Mo ihn kennen gelernt.
„Dieses kleine Schwein.“
Ich denke an einen Drogendealer. Du lachst hart.
"Schlimmer."
Wie das Mädel sich in ihn verliebt habe! Soziologie sein Fach, und natürlich seine Band. Bald war da nur noch seine Band, mit der er auf Tournee ging. Ganz Skandinavien und halb Europa.
„Tango“, sagst du. „Tango spielen die.“ Auf Schwedisch. Ein Insidertipp.
Mo habe ihm seinen Erfolg gegönnt. Die Sauferei. Die Fans. Du schaust mich fest an.
„Sie ist ein grosszügiger Mensch.“
Und dir sei es nicht in den Sinn gekommen, ihr da reinzureden. So seist du nicht. Obwohl Mo irgendwann angefangen habe zu leiden. Immer mehr. Und ordentlich zuzunehmen.
„Kummerspeck.“
Lange und kompliziert erklärst du. Aber es ist ganz einfach. Auf der Website der Band gibt es ein Forum. Mit der Antwort auf eine eindeutige Frage:
„Groupies sind warme, freundliche Menschen, die bei uns jederzeit willkommen sind.“
Mo hat das gesehen. Du auch. Und du bist durchgedreht. Ganz einfach durchgedreht.
„Du hättest sehen sollen, wie Mo gelitten hat“, brüllst du. Ohne mich anzusehen.
Durchgedreht.
Du bist nach Paris gereist. Um dem Jungen die Kehle durchzuschneiden. So wie du das erzählst, muss es einfach gewesen sein.
Nein, du weisst nicht, ob die Ermittlungen schon ein Ergebnis gebracht haben. 
Aber Mo flippte aus. Und fing an abzunehmen. Drei Wochen lang fast nichts gegessen.
„Weißt du, ich habe sie einfach in Ruhe gelassen, Angi...“
Als sie dich endlich wieder angesehen hat, muss sie ganz ähnlich gewirkt haben, wie du jetzt.
Sie hat dir ins Gesicht gesagt, dass du es warst. Wer sonst.
Und abstreiten mochtest du nicht. Freundinnen belüge man nicht. Sagst du allen Ernstes.
„Wie lange ist Mo jetzt schon hinter dir her, Anna?“ Meine Stimme ist weicher, als ich will.
Aber du sagst nichts mehr.
Gehst ins Zimmer rüber. Um deine Sachen zu packen. Bestellst dir ein Taxi an eine Stelle zwei Blöcke weiter. Gerade mal umarmen lässt du dich noch.
„Mensch, bleib doch!“, schreie ich die Treppen hinunter. „Ich ruf die Polizei!“

Du drehst dich nur halb um.
„Mo arbeitet bei Interpol“, sagst du müde.
Bevor dich die Novembernacht verschluckt.

"Die Jagd" ist Teil der Serie "Keine Tausend Worte". Zehn Kurzgeschichten, von denen keine mehr als tausend Worte lange dauert.Jacqueline Bollmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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