Seda Ipek

Zwei Worte in Leben und Tod

 Eine neue Welt eröffnete sich in ihrem Anblick. Ein neues Leben, ein neues Ich waren ihre Folge. In ihren blauen Augen fand sich ein eisiger Sturm auf hoher See, in ihrem schwarzen, feinen Haar suchte man vergebens nach Sonnenschein. Ihre Haut war von einer Blässe, die an Eis erinnerte, ebenso hart, ebenso freudlos. Sie zog sich über jeden Winkel in ihrem kantigen Gesicht und machte nicht einmal vor den Lippen halt. Ihre Kleider versprühten keine Fröhlichkeit. Sie war kalt. Von einer aggressiven Schönheit. Eine mystische Gestalt, die den Betrachter in Angst wickelte und ihn festhielt. Die seinen Blick gefangen nahm.
Sie war nicht das Schneewittchen. An ihr war nichts liebenswert. Nichts unschuldig. Vielmehr war sie die böse Stiefmutter. Sie war nicht bezaubernd, sondern ein Fluch. Eine Lüge, zu der man gezwungen war. Oder sich gezwungen sah.
Er schaute sie an. Er verlor sich in ihren Zügen. Ihre Kälte ließ ihn frösteln, er war nicht in der Lage, zu sprechen. Kein Wort. Stattdessen verlor er sich in Gedanken, sein Blick war an sie geheftet. Er sah sich. Er sah seine eigene Hand, wie sie die ihre ergriff, dann an ihrem Arm entlangfuhr, hinauf zur Schulter, zum Hals, über das Gesicht, ins Haar, hindurch, zu ihrem Rücken, an ihrer Wirbelsäule entlang.
Weiter traute er sich nicht. Nicht einmal in Gedanken.
Als er ihre Stimme vernahm, erschauderte er. Ihr Klang war spitz, aber nicht hoch. Scharf, aber nicht kräftig. Sie sprach leise, dennoch durchdrang ihn die Stimme. Ein Gruß.
Zwei Worte.
Guten Tag.

Es war Nacht. Dunkel. Kalt. Leise.
Er erinnerte sich an ihren Anblick. Ging zum Fenster. Schaute hinaus. Sie war nicht zu sehen. Nichts war zu sehen. Er schaute hinaus, doch er konnte nur erahnen, was sich dort befand. Auch als er sie angeschaut hatte, hatte er nichts sehen können. Er konnte nicht einmal ahnen, was sich in ihr befinden mochte. Schließlich wandte er sich dem Bett zu, dann betrachtete er sich im Spiegel. Sich selbst konnte er erkennen, so glaubte er. Oder er kannte sich zu gut. So dachte er.
Er fuhr sich durch seine dichten, kurzen Locken und dachte an ein dunkles Blond. Dann fuhr er seinen Zügen nach und berührte seinen eigenen Körper. Er bot ihm nichts. Er kannte ihn zu gut. Er fand kein Geheimnis an sich, er sah keine Bilder in sich. Sein Anblick langweilte ihn. Sogar im Dunkeln.
Dann stellte er sich vor, sie stünde vor ihm. In dieser Dunkelheit hätten sich nur ihre Haut und ihre Augen vom Hintergrund abgehoben. Er fröstelte erneut, stellte sich vor, wie er nach ihr griff. Doch er konnte sie nicht zu sich ziehen. Sie war ihm zu fern, zu mystisch, zu kostbar. Er konnte sich ihr nicht nähern, er konnte nicht weitergehen, nicht einmal in seinen Gedanken.
Er sah erneut zum Fenster. Seine Stimme schenke ihm kein Gefühl. Er konnte darin nichts Interessantes finden. Nichts Aufregendes. Ein Flüstern.
Zwei Worte.
Gute Nacht.

Die Zeit flog. Sie raste. Unaufhaltsam. Aber bestehen blieb ihr Anblick. Er sah ihre Augen jede Nacht. Ihr kalter Körper regte sich nicht in seinem Bett. Er berührte sie nicht. Er sah sie nur an. Das allein erregte ihn und befriedigte seine innersten Wünsche nahezu völlig.
Er betete sie an. Sie war sein Leben, sein Glaube. Sie war sein Geist und seine Seele. Er hatte nichts außer ihr. Er war nichts ohne sie.
Sie war alles. Er war nichts.
Ihr nächtlicher Besuch war alles, was ihn erhielt. Was ihn an das Leben band. Sie gab ihm Kraft. Sie gab ihm, was immer er wollte. Nur das, was er am allermeisten begehrte, verwerte sie ihm. Dennoch ergab er sich. Er sagte nichts. Er schämte sich dafür, dass er sie wollte. Dankbar sollte er sein, dass sie zu ihm kam.
Seine Stimme erklang nie. Sie war unwichtig. Sie passte nicht in ihre Welt. Sie gehörte nicht hierher. Also sprach er nicht. Er hörte ihrer Stimme zu. Er saugte sie auf. Sah sie dabei an. Alle seine Sinne schenkte er ihr. Jede Nacht.
Bis sie einmal später kam als sonst. Er wartete. Gespannt. Ängstlich. Er wagte nicht einmal, zu glauben, sie könnte nicht kommen in jener Nacht. Er lag in seinem Bett. Regte sich nicht. Wartete. Schließlich kam sie. Sie stand einige Sekunden länger am Bettrand als sonst. Er spürte wie jede ungewohnte Sekunde an seinem Herzen nagte. Sich darin verbiss. Und ein Stück heraus riss, als sie verstrich.
Dann endlich legte sie sich zu ihm. Ungelenk. Verkantet. Ihre Bewegungen schienen streng und kontrolliert. In ihnen lag kein Leben. Und dennoch begehrte er sie. Ihre Kälte umhüllte ihn. Entzog ihm jede Menschlichkeit. Er wagte nicht, sie zu lieben. Aber er würde für sie sterben.
Als sie dann sprach, hörte er auf zu atmen. Sie verblasste immer mehr. Jedes Wort nahm ihr einen Teil ihrer Erscheinung. Er fror. Er vereiste schließlich, als sie ihre letzten Worte sprach. Er regte sich nicht. Er konnte nicht. Als er dann versuchte, sie festzuhalten, war sie schon fort. Zum ersten Mal sprach er. Er schrie.
Zwei Worte.
Geh nicht!

Wie in einem Traum nahm er die Menschen wahr, die nun vor ihm und um ihn herum standen. Sie hatten keine Gesichter. Er vernahm Stimmen, aber verstand sie nicht. Er kannte ihre Sprache nicht. Seine Augen suchten nach ihr. Seine Sinne vernahmen sie, sie war dort. Aber wo?
Hastig drehte er sich um.
Er wusste, sie war dort.
Er stellte sich vor, er sei der Wind. Er wehte durch die Menge. Er stürmte durch die Reihen.
Er wusste es.
Immer schneller. Immer wendiger. Immer wilder. Ungestüm.
Sie war dort.
Dann hielt er an.
Dort.
Er blieb der Wind, wehte erneut, schloss sie ein, umhüllte sie, sah, wie ihre Haare herumwirbelten, in ihr hartes, blasses Gesicht peitschten und tiefe, hässliche Striemen darin hinterließen. Er wehte weiter, wirbelte um sie herum, schleuderte sie gegen eine Wand. Sah, wie sie in tausend Teile zerbrach. Wie ein Spiegel. Wie ein eingerahmtes Bild.
Er erschrak, als er sah, was er getan hatte.
Seine Wut, seine Trauer, sein Hass hatten ihn getrieben. Warum war sie gegangen?
Er kniete nieder, zutiefst erschrocken über seine Tat. Er versuchte die Teile zusammenzusuchen. Es waren zu viele. Als er einige der Bruchstücke in seinen Händen hielt und wie gebannt auf sie herabsah, formten sich aus ihnen ihre Lippen. Sein Blut färbte sie tiefrot, erfüllte sie mit Leben.
Sie sprachen zu ihm. Eine ungewohnte Güte umgab sie. Sie verabschiedeten sich.
Zwei Worte.
Lebe wohl.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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