Meike Schrut

1. Fassung des Märchens "Vogel Aori"

Hinter den Bergen, die das Märchenland umspannen, liegt das Land der traurigen Lieder. Lieder, die aus zerbrechenden Herzen strömen, Grabeslieder auch. Sie lassen so einsam werden, wie es nur möglich ist. Das Land verlor vor Urzeiten seinen echten Namen. Niemand konnte ihn aussprechen, man fürchtete sich auch vor der Magie der unheimlichen Zeichen, die den realen Namen umgab. So lange die Märchenlandbewohner denken konnten, hieß es nur "Land der Wehmut". Rumpelstilzchen, Aschenputtel, Dornröschen und andere Wesen meiden dies Land. Nur, wer auf einem Schiff in einen der unzähligen Stürme gerät, dem kann es geschehen, daß er die wunderbare kleine Glocke vernimmt. Am Tor des traurigen Landes erklingt das Glöckchen, so klein, daß es eine zierliche Frau in der Hand verbergen kann, aber so laut, daß man es weithin über dem Meere hört. Fast ununterbrochen bimmelt die Glocke, immer wenn ein Mensch weint, dann geschieht das..
 

Aori, der sprechende und singende Vogel ist hier zu Hause. Jeden Tag besucht er Menschen und Märchenwesen. Sie sehen ihn nicht, da sie mit sich selbst zu sehr beschäftigt sind. Aori, das wissen die Märchenlandbewohner, hilft ihnen. Er gibt ihren Herzen die nötige Stärke, seine schönen Melodien schwingen in den Gedanken der Menschen sehr leise. Aori ist sehr zart und kann sich auch verwandeln. Mal wandelt er als junger Mann, mal als junge Frau umher, sieht sich in den wenigen Stunden, die ihm von der Herrscherin des Märchenlandes frei gegeben wurden, die heitere und schönere Seite des Landes an. Er lacht mit den Fabelwesen, kann mit ihnen tanzen. Tut das, obwohl ihm selbst oft fast das Herz bricht, denn seine einzige Aufgabe ist es, Menschen zu trösten. Etwas anderes darf er nicht. Sein großes Mitgefühl spiegelt sich auch in seinen Tränen wider, die manchmal hervortreten. Ist er ein menschliches Wesen, laufen sie hellblau an seiner Kleidung herunter, ist er ein Vogel, machen sie sein Gefieder schwer und schmutzig.

Es sind viele graue Tage, an denen Aori in die Fenster von Märchenwesen und Menschen hinein schaut. Er lächelt den Liebenden zu, neckt die schlafenden Kinder. Er schüttelt den Kopf über jene, die eine unglückliche Liebe nicht erkennen können und sich auch nicht aus unseeligen Beziehungen lösen. Er bedauert die Unerbittlichen, die nicht wahr haben wollen, das sie von ihrer Traumfrau, dem Traummann nicht geliebt werden. Er kann nicht verhindern, daß sie ihr Leben vergeuden.

Seine unsichtbaren Schwingen breitet er um jene, die im Herzen frieren, wenn sie mit denen zusammen sind, die sie einmal lieben konnten oder von denen sie einst geliebt wurden. Er spricht ihnen unhörbar Mut zu, der nur selten in ihr Bewusstsein dringt. Denn viele Menschenkinder glauben nicht mehr so sehr an die Macht der eigenen Gedanken oder gar der Märchen, die man selbst schreiben kann, um das Leben zu verschönern. Aori, der allgegenwärtige Vogel aus dem Märchenland, wird es schwer haben in dieser komplizierten Zeit. In einer Zeit, in der manche Menschen sich nur noch um sich selbst sorgen...

(13.12.1992 geschrieben in einer sehr schlimmen Phase für mich)







 

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