Marcel Hartlage

Stahl

Glänzend. Und irgendwie beruhigend.

Die massive Stahlklinge in seinen Händen. Ihre Oberfläche so schön hell, ihre Konturen scharf und spitz. So glatt und edel, strahlender als ein Diamant. Corpers Finger glitten sanft über den Dolch, spürten die Reinheit des Stahls, das funkelnde Licht, die Schärfe der Kanten und das Blut seiner Opfer.

Seiner vielen, schwachen Opfer.

Viel Blut hatte diese Klinge gesehen, in viele Körper war sie gedrungen. Viel Adern und Knochen, Herzen und Hirne hatte sie zerstört, sie durchtrennt und heraus gequetscht. Aber sie war standhaft geblieben, seine schöne, massive Stahlklinge. Trotz des getrockneten Blutes an der Spitze, war sie immer noch so schön glänzend und irgendwie beruhigend.

Heute musste ein neues Opfer gefunden werden.

Corper befand sich schon seit zwei erbarmungslosen Stunden auf der Jagd. Zuerst hatte er in Seitengassen und leerstehenden Fabriken geguckt, doch niemand wollte sich seinem Stahl offenbaren. Sie alle waren noch ängstlich. Corper verstand nicht, warum.

Jetzt befand er sich in einer U-Bahnhaltestelle. Kein Mensch war da, doch er hörte schon den nahekommenden Zug mit den vielen Menschen. Jeder von ihnen mit eigenem Blut, Herz und Hirn. Jeder auf die ein oder andere Art besonders.

Ein Lichtkegel erhellte den Schacht der U-Bahn.

Corper grinste. Er saß auf einer Bank, die Lichter flackerten, draußen tobte das Nachtleben der Stadt, hier unten war es leer und trübe. Die Ellenbogen stütze er auf seinen Knien, die Hände hatte er gefaltet. Und er hatte sich eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen. Niemand sollte sein Gesicht sehen. Sonst musste Corper noch böse werden. Und zur Not sein Stahl an Nichtauserwählte einsetzen.

Ein lautes Grollen durchbrach die Stille. Die U-Bahn kam angerollt, mörderisch schnell, aber bremsend und quietschend. Corper erblickte kaum Menschen durch die Fenster, nur einzelne, verzerrte Gesichter, die in der Geschwindigkeit zu sehen waren.

Dann kam der Zug zum Stehen.

Corper stand auf.

Die rumpelnden Doppeltüren der Waggons öffneten sich, insgesamt sechs Leute stiegen aus, nicht einer von ihnen würdigte Corper eines Blickes. Das machte natürlich nichts. Das Risiko, sein Stahl unter dem Mantel zu entdecken, war dadurch viel geringer. Er grinste noch immer.

Corper stieg in die U-Bahn, setzte sich auf einen Platz, unter dem Kaugummis klebten.

Nur zwei weitere Leute befanden sich mit ihm im Waggon; einer las Zeitung, der andere starrte auf das Display seines Handys.

Langsam, nach dem Schließen der Türen, kam der Zug ins Rollen. Die Lichter der Haltestelle wurden schwächer, verschwanden, zurück blieb ein dunkler U-Bahnschacht mit einem rasenden Zug und wenigen Menschen an Bord.

Corper lehnte sich zurück. Er hatte natürlich alles geplant. Der Zug hatte die Innenstadt längst verlassen, er befand sich nun unter den Wohnvierteln der Stadt; auf einer Linie, die nur von einem Zug am Tag genutzt wurde. Sie hatten noch eine Haltestelle vor sich, bevor der Zug wieder ins Depot zurückkehren musste. Auf der Hälfte der Strecke würde Corper zuschlagen.

Er würde seinen Stahl zum Einsatz bringen können.

Er musterte die beiden Leute. Der mit dem Handy war ein junger Bursche, Kopfhörer hingen in seinen Ohren, sein schwarzes Haar war durchzogen von gefärbten, blonden Strähnen. Lederjacke, lange Jeanshose, Sneakers. Ein typischer Mann, sicher im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren.

Der andere hatte einen Anzug an, gepflegte Harre, klarer Blick und von hoher Gestalt. Die Gesichtszüge waren jung, und doch sah Corper die ersten grauen Harre an der Stirn des Mannes. Weises Blut, dachte Corper. Und schlaues Hirn.

Und der andere? Was hatte er besonderes? Corper sah ihn noch einmal an. Dumm, egoistisch, vorlaut. Corper sah es an seinem Gesicht, an seiner Mimik und dem Blick. Ein junger Mann, der sicher viel durchgemacht hatte. Auf der Straße leben, Drogen nehmen, vom Vater geschlagen werden. Sein Herz hatte vieles durchlebt, war oft zerbrochen. Deshalb war es umso wertvoller.

Sie beide waren also von Nutzen. Das war gut.

Sie hatten jetzt etwa die Hälfte der Strecke erreicht.

Sein Stahl. Der Moment war endlich gekommen.

Corper stand langsam aber sicher auf, starrte dabei zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah er seine beiden Opfer, jedes mit seinen Dingen beschäftigt, abgelenkt durch gesellschaftliche Mittel, die die Menschheit erschaffen hatte. Er machte seinen ersten Schritt. Ging langsam auf die beiden Menschen zu.

Er spürte seinen Stahl unter dem Mantel. Es wollte zustechen, redete er sich ein. Es wollte endlich zustechen und das Blut anderer sehen.

Corper stand nun direkt zwischen den Anzugmann und dem Jungen mit dem Handy.

Folgendes geschah innerhalb von fünf Sekunden.

Während der Zug in eine sanfte Kurve glitt, schaute der Anzugmann auf. In diesem kurzen Moment, für den Bruchteil einer Sekunde, flammten Corpers Augen auf und er zuckte sein Stahl hervor. Blitzschnell. Gnadenlos. Er holte aus, ein weiter, offener Schwung mit dem Arm, als ob er einen Ball werfen wollte, und stach anschließend mit voller Wucht durch die Zeitung und in die Brust des Anzugmannes. Die fünf Sekunden waren um, der Zug hatte die Kurve hinter sich gelassen.

Entsetzt, unter Schock stehend, von Panik attackiert, sah der Mann zitternd zu Corper auf. Dunkelrotes Blut entrann in großen Mengen der Brust des Mannes, sein Anzug, sein weißes Hemd und die Krawatte, verfärbten sich, als ob er sich mit Früchtetee begossen hätte. Blut spritze derweilen auf die Zeitung, auf Sitz und Boden, auf Corper und auf die Hose des jungen Mannes, der direkt gegenüber saß aber nichts davon mitbekam. Er hörte Musik mit seinen Kopfhörern und schrieb wahrscheinlich gerade eine SMS. Er war abgelenkt. Zu Corpers Vorteil.

Corper grinste, niemand sah es. Er packte den Griff seines Stahls und drehte die massive Eisenklinge in der Brust seines Opfers. Und erst jetzt schrie der Mann. Er schrie einen gewaltigen, entsetzten Schmerzensschrei aus, sodass der Junge mit dem Handy aufblickte und das Unheil erst jetzt zu Gesicht bekam. Ein Kopfhörer viel aus seinem Ohr, sein Mund klappte auf. »Was zum – «, begann er, doch brachte er den Satz nicht zu Ende.

Corper hatte instinktiv reagiert. Er hatte sein Stahl blitzschnell aus der Brust des Anzugmannes gerissen, sich umgedreht und die Klinge punktgenau ins Herz des jungen Mannes gestochen. Millisekunden später begann dieser zu zittern, Blut sickerte in großen Klumpen aus seinem Mund, das Handy viel ihm aus den Händen.

Noch bevor der Mann starb, bevor er auf dem Sitz zur Seite kippen würde, zog Corper die Klinge aus der Brust, wirbelte herum, stach wieder in die Wunde des Anzugmannes und drehte sich dann erneut. Seine Hand griff mit voller Wucht in die klaffende Wunde des Jungen und entriss sein Herz innerhalb einer Sekunde. Das ganze hörte sich so an, als ob man ein Blatt Papier zerreißen würde. Der Junge, zitternd, kein Blick, versuchte an die Stelle zu packen, an der eben noch sein Herz gesteckt hatte, doch dann kippte er zur Seite und war tot.

Corper hielt sein Herz in den Händen, das Herz des Jungen, das so oft gebrochene Herz, dass viel Unheil gesehen und erlebt hatte. Ein erster Erfolg.

Es fehlten trotzdem noch Blut und Gehirn.

Corper sah den Anzugmann an. Dieser krümmte sich vor Schmerz und Leid, während Corpers Stahl in seiner Brust steckte und dabei war, seine Aufgabe erfüllen. Corper griff unter seinen Mantel und holte einen Becher hervor. Diesen hielt er unter die Wunde des Mannes; und unter seinen Stahl. Dann drehte er die massive Stahlklinge. Frisches Blut, dass sich im Körper seines Widersachers versteckt gehalten hatte, sickerte nun in den Becher, füllte ihn bis zum Rand, sickerte über, bis Corper den Becher entfernte und mit dem Herz zusammen abseits der Szene auf den Boden stellte. Zwei der Reagenzien waren nun vorhanden, es fehlte nur noch das Gehirn.

Corper entfernte sein Stahl aus der Brust des Mannes. Er sah sein Stahl an, das in Blut getränkte, glitzernde Stahl.

Dann rammte er die Klinge in den Kopf des Anzugmannes und –

Die Türen am Ende des Waggons wurden aufgestoßen. Corper sah hinüber.

»Was ist hier – « Der Schaffner blieb stehen. »Oh mein Gott!« Der Schaffner drehte sich um, wollte rennen.

Das gehörte nicht zu Corpers Plan. Verdammt! Jetzt musste er blitzschnell handeln, instinktiv und skrupellos. Schnell, binnen weniger Millisekunden, zog er sein Stahl aus dem Kopf des nun toten Anzugmannes und schleuderte es quer durch den Waggon. Wie ein Wurfmesser.

Der Schaffner befand sich im Türspalt, als der Stahl seine Wirbelsäule traf. Ein erstickender Laut, sickerndes Blut aus dem Mund, und der Schaffner viel vorne über auf den Türspalt des Waggon. Corper kam derweilen auf ihn zu, um sein Stahl zu holen. Um seine gewöhnliche Arbeit zu verrichten. Niemand unterbrach ihn bei der Arbeit! Das hatte der Nichtauserwählte davon!

Er nahm sein Stahl und drehte sich wieder um.

Auch wenn der Anzugmann tot war, brauchte er das Gehirn. Er brauchte es, um weiter leben zu können.

Er machte sich ans Werk.

Sein Stahl wollte es so. Er machte es so.

Sein Stahl war der Meister, nicht er. Es wollte Blut. Es bekam Blut. Es wollte Herz und Hirn, und es bekam Herz und Hirn. Wofür war Stahl sonst da?

Corper grinste, als ihm die Antwort einfiel.

Es war eine gute Beihilfe beim Essen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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