Jürgen Berndt-Lüders

Standpunkte, die nun mal differieren

Gar nicht lange her, da saß mir im ICE ein Mann im gleichen Alter gegenüber, der sich von mir schon durch seine Kleidung und seinen durch Reichtum geprägten Gesichtsausdruck unterschied. Erfolg macht eben schön, das ist unumstritten.

 

Wir taxierten einander und bildeten uns eine Meinung, und ich muss einen positiven Eindruck auf ihn gemacht haben, denn er begann ein Gespräch.

 

„Sie kühlen die Temperatur im Sommer um fünf, sechs Grad herunter“, bemerkte er. „Bei achtundzwanzig Grad mag das reichen, aber wenn es auf die vierzig zugeht...“

 

„...wann hatten wir denn schon mal vierzig Grad?“, fragte ich verwundert.

 

Er winkte ab. „Das kommt, da seien Sie mal sicher“, meinte er. „Die Klimaerwärmung, wissen Sie...“

 

Donnerwetter, dachte ich. Einer von den oberen Zehntausend, der die Fakten anerkennt, ist selten. Meistens streiten sie alles ab, was auf eine Reduktion der CO²-Werte hinaus laufen könnte. Aber ich sagte nichts dazu.

 

„Wenn wir hier in Indien wären und zahlten ein paar Rupies für die Bahnfahrt“, fuhr er fort, „könnten wir nichts sagen, aber wir sind hier in Deutschland, blechen Höchstpreise, und da können wir wohl einiges verlangen.“

 

Er stieg in meiner Achtung. Wieder so eine Aussage, die ich ihm nicht zugetraut hätte.

 

„Wissen Sie, meine Firma stellt Drucker für Computer her“, erklärte er, „und da müssen wir drauf achten, dass die Drucker billig und trotzdem gut und wartungsarm arbeiten.“

 

„Dafür ist ein Satz Farbbehälter so teuer  wie der ganze Drucker“, wandte ich ein.

 

Er lachte. „In jeder einzelnen Kartusche steckt die gesamte Drucktechnik. Die ist teuer, aber wenn Sie nicht viel drucken, macht sich das bei Ihnen kaum bemerkbar“, meinte er. Und als er merkte, dass er mein Interesse kaum geweckt hatte, begann er ein neues Thema.

 

„Alles ist im Wandel, und wer nicht in der Sache steckt, beschwert sich oft über Fakten, die ein Fachmann leicht erklären könnte. Aber die Leute suchen sich die einfachste Lösung und bilden sich daraus eine feste Meinung.“

 

„Es ist aber auch nicht leicht, sich jedes Mal, wenn man auf einen scheinbaren Widerspruch stößt, eine fundierte Meinung zu bilden. Oft treffen gerade die einfachsten Erklärungen zu. Sehen Sie, seit die Konfrontation zwischen Ost und West entfallen ist, sind die Löhne im Keller. Das ist doch deshalb, weil die Osteuropäer  und die Chinesen so billig...“

 

Sein erstaunter Gesichtsausdruck brachte mich zum Schweigen.

 

„Haben Sie überhaupt eine Ahnung“, rief er, „dass wir Unternehmer jetzt erstmals überhaupt richtig kalkulieren können? Gerade die einfachsten Montagearbeiten waren kaum bezahlbar. Wir waren zur Automatisierung gezwungen, weil der Krankenstand so enorm hoch war. Sie kennen doch diese abfällige Bezeichnung für die Krankmeldung, von wegen ‚Gelber Urlaubsschein’.“

 

Wie erstaunt ich war...

 

„Aber das waren doch Ausnahmeerscheinungen. Ich beispielsweise habe nie krank gefeiert...“

 

„...und ich habe nie Leute raus geworfen, weil ich billigere Arbeitskräfte bekommen konnte.“

 

Wir schwiegen und suchten den Konsens.

 

„Jedenfalls ist die Zeit vorbei, wo die Gewerkschaften hemmungslos unter Androhung von Streik Lohnerhöhungen erpressen konnten“, sagte er.

 

„Und auch die Zeit, wo deutsche Unternehmen jeden Preis im Ausland erzielen konnten, weil die Qualität einfach besser war“, ergänzte ich. „Die Rohstoffe billig einkaufen und die Fertigprodukte an die gleichen Länder wieder teuer verkaufen...“

 

„...was die hohen Löhne überhaupt erst möglich gemacht hat.“

 

Er lächelte sanft. Draußen stiegen die Temperaturen und im Waggon wurde es wärmer und wärmer.

 

„...und die Bahn“, begannen wir gleichzeitig. Wir lachten. Ich ließ ihm den Vortritt.

 

„Und die Bahn braucht Konkurrenz, damit sie bessere Klimaanlagen in die Züge einbaut“, fand er.

 

Ich schüttelte den Kopf.

 

„Die Bahn muss staatlich bleiben“, rief ich. „Wer mit Gewalt Gewinne erwirtschaften muss, spart eben, wo er kann.“

 

Er runzelte die Stirn. „Fängt das jetzt wieder an? Wie gut, dass ich eigentlich ein Erste-Klasse-Ticket habe. Vielleicht ist es dort angenehmer.“

 

Ich muss wohl beleidigt gewirkt haben. Jedenfalls fügte er  ein schüchternes „von der Temperatur her gesehen“ hinzu.

 

Er stand auf und griff nach seinem Koffer. Und weil er zwei davon hatte, half ich ihm beim anderen. Auch ohne unbefristeten Arbeitsvertrag und Garantielohn.

 

© Jürgen Berndt-Lüders

 

 

 

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