Jürgen Berndt-Lüders

Mein schönstes Ferienerlebnis

August 2010. Frau Gänseklein, die Klassenlehrerin der 6 b des Hanns-Eisler-Gymnasiums teilte die korrigierten Aufsätze aus.
 
Gemäß dem Thema hatte jedes Kind sein schönstes Ferienerlebnis so geschildert, wie es dies erlebt und empfunden hatte.
 
Genau  so hatte Frau Gänseklein die Aufsätze erwartet. Was sie allerdings nicht erwartet hatte, waren Ein-Satz-Aufsätze, die mehr auf Faulheit denn auf reale Empfindungen  zurück schließen ließen.
 
„Mein schönstes Ferienerlebnis war, als es endlich anfing zu regnen“, hatte Paul geschrieben. Und Malcolm das genaue Gegenteil, nämlich, dass wenigstens am letzten Urlaubstag die Sonne geschienen hatte.
 
„Aber das ist doch Unsinn“, rief Christiane, die eine genaue Abhandlung ihres Sommerkleides gebracht hatte. „Wie soll es besonders schön sein, wenn es regnet?“
 
Paul fühlte sich angegriffen. „Ich war in einem Zeltlager an der Oder, und mein Zelt, in dem ich mit fünf Freunden wohnte, hatte keinen Schatten. Alle anderen hatten welchen, aber unseres heizte sich tagsüber besonders auf.  Deshalb konnten wir nachts nicht schlafen und hatten keinen Spaß an den Ausflügen, die die Lagerleitung tagsüber veranstaltete. Als es dann endlich regnete, hatten wir doch noch etwas Erholung.“
 
„Dann hättest du das so schreiben sollen“, tadelte Frau Gänseklein. „Dann wäre es ein Aufsatz gewesen.“
 
„Finde ich nicht“, rief Christiane und schnippste mit den Fingern. „Dazu gehört noch, dass die sechs Burschen zu faul gewesen sind, sich Gedanken über das Zelt zu machen, in dem sie untergebracht waren. Oder konntet ihr euch keins aussuchen?“
 
„Doch, aber wer konnte schon wissen, dass es so lange heiß bleiben würde?“, fragte Paul. „Außerdem hätten dann andere über Nacht keine Ruhe gehabt.“
 
Christiane schüttelte den Kopf und grinste.
 
„Und wie findest du Malcolms Erlebnis?“, fragte Frau Gänseklein Christiane. „Ist es für dich ein Aufsatz, wenn jemand schreibt, dass es besonders schön war, wenn wenigstens am letzten Tag noch einmal die Sonne schien?“
 
„Sicher“, rief Christiane. „Da erfährt man sofort, dass es die ganze Zeit über geregnet hatte, dass schon alles durchnässt war und dass eigentlich alle nur noch nach Hause wollten.“
 
„So war es aber nicht“, sagte Malcolm. „Ich war mit einer Gruppe von Höhlenforschern unterwegs. Uns war das Wetter egal. Wir hatten ja ein dickes Dach über dem Kopf. Gefreut habe ich mich nur deshalb, weil ich wusste, dass ich auf der Rückreise nicht so nass werden würde. Ich hatte nämlich keine Regen-Klamotten mit.“
 
Frau Gänseklein lächelte. „So kann man sich täuschen, wenn man seine eigene Phantasie für die einzig realistische hält. Weshalb hast du eigentlich dein Kleid so genau beschrieben, als es um dein schönstes Ferienerlebnis ging, Christiane?“
 
„Weil meine Mutter mir ständig Klamotten kauft, bei denen ich nicht mitreden darf“, rief Christiane. „Meine Freundinnen lästern und ich fühle mich unwohl. Während der Ferien hätte ich endlich die Möglichkeit, mir selber eins auszusuchen. Eins in Pink, meiner Lieblingsfarbe. Endlich hatte meine Mutter die Geduld, einfach nur nebenher zu trotten und mich shoppen zu lassen, wie ich shoppen wollte.“
 
Alles lachte.
 
„Dann war dein schönstes Ferienerlebnis aber nicht, dass du ein so tolles Kleid bekamst, sondern, dass deine Mutter endlich mal Zeit hatte“, kritisierte Frau Gänseklein.
 
„Ich habe es übrigens an“, rief Christiane, stand auf, trat aus der Bank und drehte sich wie ein Model. Sie hatte es wirklich zutreffend beschieben, und alle Mädchen der 6 b, bis auf eins,  klatschten Beifall, während den Jungs solche Lappalien völlig egal waren.
 
„Also war dein schönstes Ferienerlebnis, endlich ein Kleid bekommen zu haben, mit dem du vor den Mädels angeben kannst“, rief Paul.
 
„Das war ja nicht in den Ferien“, protestierte Christiane.
 
„Doch ich habe es schon an dir gesehen, als noch Ferien waren“, rief Frauke, Christianes beste Feindin, die nie schöne Kleider hatte, sondern nur praktische Hosen trug.
 
„Also, Pauls und Malcolms Aufsätze sind keine, weil sie keine Entwicklung aufzeigen. Die beiden beschreiben nicht, weshalb sie einmal die Sonne und einmal den Regen als besonders schön empfanden. Und Christianes Aufsatz hat das Thema verfehlt, weil er zwar Hintergründe beschrieb, aber nicht den Kernpunkt traf. Und bei den Kernpunkten ist es völlig egal, ob man die nachvollziehen kann oder nicht. Wichtig sind nur die Empfindungen der im Aufsatz Handelnden.“
 
Christiane stützte wütend den Kopf auf die Hand und starrte aus dem Fenster. „Sie sind ja nur neidisch, weil sie kein so schönes Kleid haben, Fräulein Gänseleberpastete.“
 
Copyright Jürgen Berndt-Lüders
 
 

Was ihr nicht wissen könnt: es gibt hier eine Autorin, die eine völlig andere Auffassung vom Wesen einer Kurzgeschichte hat. Der möchte ich einmal in Kurzgeschichten-Form deutlich machen, was sie in meinen Augen tut.

Euer Jürgen
Jürgen Berndt-Lüders, Anmerkung zur Geschichte

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