Angelika Berenboim

Warum man nicht auf Ratschläge anderer hören sollte

Warum man nicht auf Ratschläge anderer hören sollte

Einmal spät abends im Winter spazierte ich auf dem Bahnsteig des Südbahnhofs in Köln und wartete auf den letzten Zug Richtung Leverkusen, als ich plötzlich einen Mann bemerkte, der vom ganzen Herzen einen Zigarettenautomat beschimpfte. Zweimal bedrohte er den Automaten mit seiner rechten Faust, es schien, als ob er gleich zuschlagen würde. Meiner natürlichen Neugier entsprechend, näherte ich mich leise dem Mann. Ich wollte hören, was er sagt, aber er hörte meine Schritte und drehte sich um.
„Waren Sie eben hier?“
„Wo genau?“ fragte ich nach, da ich schon seit fünf Minuten auf dem Bahnsteig hin und her gegangen bin.
„Na hier, wo wir grade stehen!“ schrie er. „Denken Sie etwa, dass hier dort ist, oder was?“
Anscheinend war er sehr gereizt.
„Es könnte gut möglich sein, dass ich hier schon mal gewesen bin während meinem nicht ganz freiwilligen Spaziergang auf dem Bahnsteig, wenn Sie das meinen. Wollten Sie das wissen?“ antwortete ich mit besonderer Höflichkeit, um seine Grobheit zu unterstreichen.
„Ich will wissen“, setzte er fort „ob ich vor einer Minute mit Ihnen gesprochen habe oder nicht mit Ihnen?“
„Nein, nicht mit mir“, bezeugte ich.
„Sind Sie sicher?“ ließ er mich nicht in Ruhe.
„Also wirklich! Ein Gespräch mit Ihnen vergisst man nicht so schnell!“ Ich hielt es nicht mehr aus. Mich beleidigte sein Ton.
„Entschuldigen Sie“, drückte er ungewollt heraus „ hier war eine, hat mit mir gesprochen, ich dachte, das wären Sie.“
Ich habe mich etwas abreagiert. Auf dem Bahnsteig war sonst niemand und ich musste noch eine Viertel Stunde warten.
„Nein, das konnte ich nicht gewesen sein“, sagte ich in einem freundlichen Ton. „Suchen Sie sie etwa?“
„Ja, ich suche sie“, antwortete er. „Ich warf eine Mütze in diesen Automaten rein und wollte eine Packung Zigaretten haben, aber sie kam nicht raus“, setzte er fort, wahrscheinlich hatte er Verlangen sich von der Seele zu sprechen. „Ich schüttelte und schlug diesen Automaten. Und dann kam eine so von ihrer Größe. Hören Sie mal, Sie sind sicher, dass Sie es nicht waren?“
„Nein, das war ich nicht!“ antwortete ich betont höflich, da ich anfing die Geduld zu verlieren. „Ich würde Ihnen sagen, wenn ich es gewesen wäre. Und was hat sie getan?“
„Sie hat gesehen, was passiert ist und meinte: „Diese Automaten sind ja so launische Dinge. Man muss schon wissen, wie man sie richtig bedient.“ Und ich sagte ihr: „Man muss sie alle zusammen nehmen und ins Meer schmeißen!“ Verstehen Sie, ich hatte keine einzige Zigarette und ich bin ein Kettenraucher. Dann sagt sie mir: „Manchmal bleibt die Münze stecken, das bedeutet, dass ihr Gewicht nicht ausreichend ist. Dann muss man eine zweite hinterher werfen und sie schiebt die erste Münze dann weiter. Sie bekommen ihre Zigaretten und die Münze noch dazu. Ich mache das immer so.“ Die Erklärung ist nicht ganz glaubhaft, aber sie hat so überzeugend gesprochen. Und ich Idiot habe ihr geglaubt! Ich warf eine zweite Münze rein und da kam weder eine Packung noch mein Geld raus. Alles weg!“
Schweigend gingen wir zum Ende des Bahnsteiges und dann wieder zurück.
„Es gibt solche Leute!“ ärgerte er sich erneut. „Kommen ständig mit ihren nutzlosen Ratschlägen…“
Wo er Recht hat, hat er Recht, dachte ich mir. Ich fühlte mit meinem Gesprächspartner. Ich selber hatte schon genug Schaden dadurch, dass ich auf andere gehört habe. Mein erster Gönner wollte unheimlich, dass ich Reich werde. Wir sahen uns selten, aber jedes Mal hat er mir einen erfolgreichen Aktienkauf angeboten. Einmal habe ich sogar mitgemacht. Das war vor sehr langer Zeit. Ich besitze sie bis heute und mein Kumpel ist bis jetzt überzeugt, dass ich irgendwann in ferner Zukunft damit Millionär werde. Aber da ich das Geld jetzt brauche, würde ich meine Aktien gerne jemandem überlassen. Mein anderer Kumpel war immer informiert über alle Pferderennen. Das sind Leute, denen man vor dem Rennen mit offenem Mund zuhört und nach dem Rennen sucht, um sie zu erschlagen. Noch ein Kumpel vom mir beschäftigte sich mit unterschiedlichen Diäten. Einmal brachte er mir einen Teebeutel und gab ihn mir mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der mich von allen meinen Problemen befreien kann.
„Was ist das?“ fragte ich ihn.
„Mach auf, dann siehst du es“, antwortete er geheimnisvoll, wie eine gute Fee im Theater.
Ich machte das Packet auf und schaute rein, aber ich hatte noch immer keine Ahnung was das sein sollte.
„Das ist ein Tee“, sagte er.
„Aha“, sagte ich nachdenklich „und ich dachte, dass es Tabak wäre“.
„Nun, das ist kein gewöhnlicher Tee“, setzte er fort. „Trink eine oder zwei Tassen davon und du wirst nie wieder einen anderen Tee trinken wollen.“
Er hatte vollkommen Recht. Ich trank eine Tasse von diesem Tee und danach wollte ich keinen anderen Tee mehr; ich wollte gar nichts mehr, nur dass ich in Ruhe sterben könnte. Er besuchte mich in einer Woche.
„Erinnerst du dich an den Tee, den ich dir gegeben habe?“ fragte er mich.
„Wie soll man ihn je vergessen?!“ antwortete ich. „Ich habe immer noch diesen Geschmack im Mund.“
„Warst du vielleicht krank?“ fragte er vorsichtig. „Weißt du, das war wirklich Tabak. Ich habe ihn aus Indien zugeschickt bekommen, ein besonders duftender. Ich habe irgendwie die Päckchen verwechselt…“
„Na macht nichts“, sagte ich. „Es ist ja schon eine Woche her. Aber das nächste Mal wird es dir nicht durchgehen…zumindest nicht mit mir.“
Ja, Ratschläge geben, mögen wir alle.
Ein bekannter Jurist von mir sagte immer: „Wenn ein Straßendieb meine Uhr wollte und mir mit Gewalt drohen würde, hätte ich sie ihm trotz meines nicht mehr sehr jungen Alters nicht gegeben. Würde er aber sagen: „Ich gehe vor Gericht und zwinge sie mir ihre Uhr zu geben!“, würde ich sofort mit meiner Uhr rausrücken, und ihn darum beten, nicht mehr darüber zu reden. Und ich wäre noch sehr billig davon gekommen. Der selber alte Jurist hat seinen Nachbar vor Gericht geladen, weil angeblich seine Katze den Wellensittich gefressen hat. Die Welt ist doch erstaunlich.
Wir wissen alle, wie ein Pudding schmecken soll. Wir erheben keinen Anspruch darauf, dass wir ihn kochen können. Das ist nicht unsere Sache. Unsere Sache ist die Kritik von dem Koch. Es scheint so, als ob unsere Sache fast immer zu kritisieren wäre, was wir selber nicht erschaffen haben. Ja, Kritik ist eine der beliebtesten Zeitvertreibungen. Und dabei geht es uns weniger um unsere eigene, egoistische Meinung, sondern um vornehme Absicht etwas zu verbessern. Besonders gut können wir uns einmischen in die Dinge, die unserer Meinung nach wesentlich schlechter sind ohne unsere Hilfe.
Ich weiß nicht, ob Sie jemals Zeuge waren von einer Vereinigung der Zuschauer und der Schauspieler während eines Theaterstücks. Diese intime Atmosphäre habe ich einmal erlebt bei einer unheimlich traurigen Drama, die ich vor ein paar Jahren gesehen habe. Der Regisseur, wie es uns damals schien, hat übertrieben viel Text an die Hauptdarstellerin verteilt. Wo immer sie aufgetaucht war, hat sie angefangen zu reden und ihr Redenfluss nahm einfach kein Ende. Sie musste einfach nur den Bösewicht beschimpfen und sie hat dafür nicht weniger als zwanzig Zeilen gebraucht. Und als der Hauptdarsteller sie gefragt hat, ob sie ihn liebt, hat sie nach der Uhr drei Minuten lang geredet. Jedes mal, wenn sie den Mund aufgemacht hat, bekamen wir Panik. Im dritten Akt schnappte sie jemand und warf in die Zelle. Derjenige, der es gemacht hatte, war eigentlich ein böser Mensch, aber wir sahen ihn als unseren Befreier und applaudierten sehr laut. Wir hofften, dass wir uns von ihr für den ganzen Abend verabschiedet haben, aber dann tauchte ein dummer Gefängniswärter auf, den sie angefleht hat, sie raus zulassen. Der Gefängniswärter- ein sehr gutherziger Mensch- zweifelte.
„Mach das bloß nicht!“ schrie irgendein leidenschaftlicher Theaterbesucher. „Dort ist ihr Platz! Lass sie dort sitzen!“
Der alte Idiot hörte nicht auf uns und fing an zu überlegen.
„Ihre Bitte ist doch verständlich“, sagte er. „Und sie wird glücklich sein.“
„Und wir?“ fragte derselbe Theaterliebhaber. „Sie sind gerade erst gekommen und wir hören schon seit einer Stunde ihrem Gelaber zu. Jetzt schweigt sie, Gott sei Dank. Lass sie doch.“
„Oh, lassen sie mich nur für eine Minute raus!“ schrie die unglückliche Frau. „ Ich muss nur was meinem Sohn mitteilen.“
„Schreiben Sie einen Zettel und schieben Sie ihn zwischen die Gitter“, schlug jemand aus der hinteren Reihe vor. „Wir werden schon dafür sorgen, dass er es bekommt.“
„Kann ich denn eine Mutter nicht zu ihrem sterbenden Sohn lassen?“, setzte der Gefängniswärter seine Überlegungen fort. „Das wäre doch unmenschlich!“
„Nein, das wird nicht unmenschlich sein“, beharrte dieselbe Stimme aus der hinteren Reihe. „Eher umgekehrt: Der arme Junge ist wahrscheinlich wegen ihrem unendlichen Gerede krank geworden.“
Der Gefängniswärter hat trotzdem nicht auf uns gehört und hat sie unter lautem Geschrei des Publikums freigelassen. Sie rannte sofort zu ihrem Jungen, sprach ungefähr fünf Minuten und danach ist das arme Kind gestorben.
„Ach- er ist tot!“ schrie die trostlose Mutter.
„Der Glücklicher!“ sagte jemand aus dem Publikum ohne jegliches Mitgefühl.
Und so kommt es, dass wir fast die ganze Freizeit damit beschäftigt sind andere zu kritisieren und ihnen Ratschläge zu geben. Wir sind so viel besser als die anderen und tragen unsere Nasen so hoch, dass es erstaunlich ist, dass wir noch auf der Erde bleiben und nicht von dem kleinen Erdball ins All übertreten.
Die breiten Massen kritisieren die High Society. Wenn die High Society doch von ihrem Vergnügen ablassen würde und sich mehr für die breiten Massen interessieren würde, dann wäre es sehr nützlich für die Gesellschaft und für die Letzteren besonders.
Die High Society kritisiert die breiten Massen. Wenn die breiten Massen doch sparsamer wären mit ihrem Monatgehalt und nichts trinken würden, wenn die Männer täglich vierzehn Stunden Arbeiten würden und dabei friedlich singen und die Frauen zu hause bleiben würden und für das Wohlergehen der Familien sorgen würden, dann wäre alles viel besser….für die High Society.
Die Frauen setzten ihre Männer ständig hinter eine Schulbank. Zuerst muss er sich befreien von allen seinen natürlichen Neigungen und Wünschen und danach können sie einen Menschen aus ihm machen. Wie schön die Welt wäre, wenn die Männer auf diese Ratschläge hören würden!
Die Männer kritisieren auch. Ihnen gefällt sehr viel nicht an den Frauen. Sie lehren die Frauen zu leben, weil sie sich Sorgen machen, wie die Frauen ohne sie überleben können. Wenn die englischen Frauen sich so anziehen würden, wie die französischen Frauen, würden so reden können, wie die amerikanische Frauen und so kochen können wie deutsche Frauen, wenn die Frauen geduldiger und gehorsamer wären, wenn sie eine Kombination aus Intelligenz und einer perfekten Hausfrau darstellen würden- wie viel einfacher wäre es für die Männer…und natürlich auch für sie selber.
Seit kurzem haben wir auch was an unserem Schöpfer was auszusetzen. Die Welt ist schlecht. Wir sind schlecht. Wenn er uns doch um unseren Ratschlag gefragt hätte in den sechs Tagen, wo er die Welt erschaffen hat.
Wie schwer ist es die Vielfältigkeit der Welt zu akzeptieren!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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