Helmut Wurm

Sokrates und der nebenher viel beschäftigte Lehrer

 
Sokrates kommt in eine kleine Stadt in Deutschland. Er soll dort einen Vortrag halten über richtige und falsche Auffassungen vom Lehrerberuf innerhalb der Lehrerschaft. Das ist ein aktuelles Thema. Denn die Gründe, weshalb man den Lehrerberuf ergreift, sind vielfältig und nicht immer anspruchsvoll.
 
Weil er etwas früher als notwendig in die Stadt gekommen ist, geht er noch etwas spazieren,  spricht einige Leute an und fragt sie nach diesem und jenem. Daraus entwickeln sich zwar einige längere Gespräche, aber es sind relativ belanglose Gespräche, denn nicht immer münden Gespräche in einen sokratischen Dialog. Das geschieht oft zufällig und unerwartet. Aber Sokrates fällt auf, dass häufig der Name Herr V… oder Lehrer V… fällt, den er fragen solle.., der wüsste…, der Genaueres sagen könne. Herr V… scheint also ein bekannter und vielfältig aktiver Mann in dieser kleinen Stadt zu sein. Sokrates beschließt, ihn in der noch verbleibenden Zeit einmal kennen zu lernen. Denn engagierte und interessante Menschen haben Sokrates immer angezogen. Er fragt also Passanten nach dessen Wohnung. Zuletzt trifft er einige Jugendliche, offensichtlich Schüler.
 
Sokrates: Liebe Schüler, könnt Ihr mir sagen, wo Herr V… wohnt. Ich würde gerne mit ihm einmal sprechen.
 
Die Jugendlichen (ihre unterschiedlichen Reaktionen sind überraschend. Die einen grinsen etwas spöttisch, die anderen machen freudigere Gesichter): Klar, das können wir. Herr V…
 ist einer unserer Lehrer… Er wohnt dort… Sollen wir Sie hin begleiten?
 
Sokrates: Das wäre eine große Hilfe. Herr V… scheint ein viel beschäftigter und viel engagierter Mann zu sein. Könnt Ihr ihn etwas näher beschreiben?
 
Die Jugendlichen (abwechselnd): Der ist so eine Art „Überall-dabei“…, keine Feier ohne Herrn V…, kein Verein ohne Herrn V…, überall in der Kommunalpolitik ist Herr V… präsent…, kein Jugendgottesdienst ohne Herrn V…
 
Sokrates (horcht auf): Das ist ja ein wichtiger, viel beschäftigter Mann hier. Sicher ist er auch in euerer Schule ein wichtiger Mann.
 
Ein Jugendlicher (gedehnt): Er mengt überall mit…, insofern ist er das schon. Aber bezüglich des Unterrichts hält es sich in Grenzen…
 
Sokrates (wird nun sehr aufmerksam): Das müsstest du mir etwas genauer erklären. Einmal scheint er auch in der Schule vielfältig engagiert zu sein, andererseits bist du als Schüler nicht gerade begeistert.
 
Der Jugendliche (grinst etwas verlegen): Ja, was soll ich sagen… In der Schule mengt er eben überall mit, aber immer nur dünn drüber… Aber ich möchte studieren und ein gutes Abitur machen und da reicht es im Unterricht von Herrn V… eben nicht für gute Grundlagen.
 
Ein anderer Jugendlicher: Du Arsch! Ich bin froh, dass wir den Herrn V… im Unterricht haben. Der lässt einen wenigstens nicht hängen. Da braucht man nur ein bisschen mit zu machen und mit etwas Blabla zum Unterricht beizutragen, dann kriegst du wenigstens eine 4. Und seine Arbeiten, wenn er überhaupt welche schreibt, kann man auf dem Schulhof von den Älteren kaufen. Im Rhythmus von 3 Jahren schreibt er immer dieselben Arbeiten und dann mit nur kurzen Antworten…
 
Sokrates (hat einen Notizblock hervorgezogen und beginnt sich Notizen zu machen): Welche Fächer vertritt denn  Herr V…
 
Ein anderer Jugendlicher: Nur so 2 Nebenfächer…, die hat er sich vermutlich gewählt, weil er dann  etwas weniger Arbeit hat…
 
Sokrates (unterbricht ihn): Man sollte sagen 2 so genannte Nebenfächer. Denn wenn man Nebenfächer als Lehrer ernst nimmt, machen sie genau so viel Mühe wie die so genannte Hauptfächer und der allgemeine Bildungseffekt ist bei gutem Unterricht ebenfalls hoch.
 
Der letzte Jugendliche: Der Herr V…  will aber mit seinen Fächern nur eine ruhige Kugel schieben und das Lehrergehalt einstreichen… Sein Unterricht ist nur seine Nebentätigkeit, sein Hauptbedürfnis ist, überall mit zu mengen und genannt zu werden…
 
Sokrates (macht sich Notizen und murmelt): Das wird ja interessanter, als ich dachte. Das passt ja direkt zu meinen Vortrag. (Und zu den Schülern): Erzählt nur weiter von Herrn V…
 
Ein anderer Schüler: Mein Vater meint, der Herr V… wolle noch in eine Schulleitung oder in die obere Etage der Stadtverwaltung… Oder in beide Positionen zugleich… Deshalb mache er sich den vielen Stress, überall dabei zu sein und mit zu mengen… Aber bei allem dünn drüber.
 
Der begeisterte Jugendliche (von vorhin): Ich weiß nicht, was ihr habt. Der Herr V… ist doch total nett, immer freundlich… Wenn der Bürgermeister wäre, wäre hier viel mehr erlaubt. Meine Stimme hätte er…
 
Damit sind sie an der Wohnung des Herrn V… angekommen. Sokrates schellt, die Frau von Herrn V… öffnet. Sie macht einen etwas enttäuscht-unzufriedenen Eindruck.
 
Die Frau des Herrn V…: Kann ich etwas ausrichten? Mein Mann ist nicht da, wie meistens… Wenn Besuch kommt, bin ich gewissermaßen seine Vertretung… Und das ist sehr oft so, selbst an den Wochenenden hat er regelmäßig Termine. Dabei könnte er als Lehrer doch die meisten Nachmittage zu Hause verbringen. In welchem Beruf kann man das schon…
 
Sokrates: Ich habe kein dringendes Anliegen, ich hätte nur gerne ihren Mann einmal kennen gelernt… Ich bin neu hier in dieser Stadt und sein Name fiel wiederholt in Gesprächen… Hätte es Sinn zu warten?
 
Die Frau des Herrn V…: Kommen Sie bitte herein, vielleicht kommt er ja gleich auf einen Sprung hier vorbei… Ja, er ist in mehreren Bereichen zugleich engagiert, neben der Schule meine ich, die steht nicht mal an erster Stelle… Das ist so, seit ich ihn im Sportverein kennen gelernt habe. Damals hat er auch schon dazu geneigt, überall mit dabei zu sein… Und Lehrer ist er nur geworden, weil er in diesem Beruf viel frei verfügbare Zeit hat…, für die anderen Aktivitäten.
 
Sokrates: Aus Passion, primär um die Jugend zu bilden und zu fördern, scheint Ihr Mann also nicht Lehrer geworden zu sein? Das sollte eigentlich aber die Haupttriebfeder sein, wenn man Lehrer wird. Kommt er denn trotzdem seinen beruflichen Verpflichtungen als Lehrer zufrieden-stellend nach?
 
Die Frau des Herrn V…(etwas zögerlich): Ich weiß nicht… Oft spottet er über diejenigen seiner Kollegen, die alles so ernst und gewissenhaft nähmen, und noch Hauptfächer gewählt hätten… In den letzten Jahren bemerkt er immer wieder, das neue Methodentraining und die Euphorie darüber wären ihm gerade passend gekommen. So könne man viel Zeit sparen, z.B. die Schüler ihre Arbeiten selber korrigieren lassen. Ob das so richtig ist?... Und er plant auch, sich zum frühest-möglichem Zeitpunkt pensionieren zu lassen. Er hätte genügend andere Verpflichtungen und bräuchte die Schule nicht unbedingt zu seinem Glück…
 
Sokrates: Welche Verpflichtungen meint er denn damit?
 
Die Frau des Herrn V…: Ach, das sind allesselbst gewählte Posten und Aufgaben… Manchmal meine ich, es ist hauptsächlich versteckter Geltungsdrang und die Freude, überall mit dabei zu sein. Dabei habe ich das Gefühl, er kann gar nicht alles gründlich machen… Und die Familie und die Kinder leiden am meisten darunter… Wenn ich das gewusst hätte…
 
 In diesem Augenblick kommt Herr V… herein, ziemlich eilig. Er sieht den ehrwürdigen Sokrates und stutzt. Dann sagt er zu Sokrates:
 
Herr V…: So wie Sie wurde mir der Herr beschrieben, der in einer Stunde hier in unserer Volkshochschule den Vortrag halten soll… Das ist ein interessantes und wichtiges Thema… Natürlich werde ich auch unter den Zuhörern sein. Ich werde sicher viel lernen… Ich möchte vorher nur noch etwas essen… Äh, was führt Sie zu mir?
 
Sokrates (murmelt in sich hinein): Ich vermute, dass du vieles lernen könntest, aber nichts lernen willst, denn mir geht es in meinem Vortrag um die Ernsthaftigkeit, mit der man Lehrer sein soll. (Dann zu Herrn V… gewandt): Ihr Name fiel wiederholt bei einigen Gesprächen mit Bürgern der Stadt. Sie scheinen im öffentlichen Leben sehr engagiert zu sein.
 
Herr V…: Ja, das bin ich, ich bemühe mich, der Jugend und den Erwachsenen hier zu nutzen, wo ich nur kann… Das betrifft die Sportvereine, die kirchlichen Jugendgruppen, die Freie politische Partei hier, in deren Vorstand ich bin, und natürlich auch die Schule…
 
Sokrates (etwas scheinheilig): Da muss natürlich die Familie mitmachen… Und ich bewundere Sie, wie Sie den Lehrerberuf mit so vielen andern Verpflichtungen in Übereinklang bringen können…
 
Herr V…: Ja, die Frau eines so engagierten Menschen wie ich muss wissen und akzeptieren, dass ich nur an einem Tag in der Woche abends zu Hause bin und dass ich öfter auch an den Wochenenden Verpflichtungen habe… Und wenn man die Arbeit in der Schule ökonomisiert, vieles an die Schüler im Zuge der neuen Methodenlehre delegiert und die Schüler nicht zu sehr überfordert, dann lässt sich vieles andere damit in Übereinklang bringen… Und dann hat man als Lehrer ja auch noch die Ferien, zweieinhalb Monate Ferien, da kann man andere Aufgaben etwas gründlicher anpacken.
 
Sokrates (lauernd):  Könnten Sie sich vorstellen, kein Lehrer zu sein und dafür einen Beruf auszuüben, der Sie ganztägig voll in Anspruch nimmt?
 
Herr V…(hebt abwehrend die Hände): Das wäre furchtbar… Welch ein Glück, dass es den Lehrerberuf für Menschen wie mich gibt… Und ich bin nicht der einzige, der so denkt. Viele meiner mehr oder minder ehrenamtlichen Kollegen in der Politik, in den Sportverbänden und Jugendgruppen sind ebenfalls Lehrer. Ohne dass sich Lehrer so vielseitig neben ihrem Beruf engagieren, hätten wir weniger Politiker und Vorstandsmitglieder in vielen Gruppierungen. Die Lehrer haben noch am ehesten die Zeit für andere Aufgaben nebenher. Das ist sehr nützlich für unsere Gesellschaft… Man muss als vielseitig engagierter Lehrer natürlich sehen, wie man auch in seinem Beruf einigermaßen klar kommt…
 
Sokrates (nachdenklich): Ich weiß nicht, ob es für die Gesellschaft doch nützlicher wäre, wenn die Lehrer nebenher weniger engagiert wären… Die wichtigste Zukunftsinvestition ist immer noch eine gute Bildung und Ausbildung… Und dafür braucht man Lehrer, die viel Zeit und Kraft in ihren Lehrer-Beruf investieren… Aber jetzt ist meine Zeit um, ich muss zur Volkshochschule, wo mein Vortrag bald beginnen soll… Wir sehen uns ja dort!
 
(Sokrates geht, vor der Tür macht er sich aber schnell noch einige Notizen und murmelt): Ich werde meinen Vortrag etwas ummodeln und aktualisieren… Das war für meinen Vortrag und für meine Einstellung vom Lehrersein eine sehr nützliche Begegnung… Hoffentlich denken und handeln so wie der Herr V… möglichst wenig Lehrer…
 
(Verfasst von discipulus socratei anschließend an den sehr aktuell orientierten Vortrag)  
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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