Elisabeth Uhlmann

Auch eine Stadt kann fühlen

Es war einmal eine kleine Stadt, doch für die Menschen war die Stadt ganz groß, es war ihre Stadt, ihre Heimat. Die Menschen wohnten gern dort und erfreuten sich an jedem Haus und jedem Baum.
Alles war friedlich, die Menschen glücklich. Nur kleine Alltagsprobleme gab es, nicht wichtig, schnell gelöst. Die kleine Stadt freute sich über die vielen fröhlichen Menschen, die in ihr wohnten.
Doch so mit der Zeit veränderte sich die Welt und somit auch die Menschen. Nicht schlagartig von einem Tag zum anderen, nein, eher langsam, schleichend, unheimlich. Die kleine Stadt fühlte, dass irgendetwas anders war, doch machte sie sich nicht weiter Gedanken darüber. “Es wird schon alles in Ordnung sein” , ermunterte sich das Städtchen selbst. Sie hatte Vertrauen in ihre Bewohner, die sie doch so lieb gewonnen hatte und Tag für Tag beobachtete. Das mulmige Gefühl aber blieb und mit der Zeit wurde die kleine Stadt immer trauriger. Sie fühlte sich trotz ihrer vielen Bewohner einsam. Natürlich liefen die Menschen immer noch tagtäglich über die Straßen wie eh und je. Doch die Fröhlichkeit war verschwunden, einfach weg. Die Menschen riefen ihr nicht mehr zu: “Ach mein schönes Städtchen, wie gern wohn’ ich hier!”. In den Gesichtern machte sich Traurigkeit und Wut breit. Die Menschen redeten wirr durcheinander. Die kleine Stadt verstand Worte wie Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Umzug. Doch ihre Bedeutung kannte sie nicht. An manchen Tagen rollten schwere LKWs über die Straßen, “Umzugswagen”, sagte man. Die Menschen in der Stadt waren immer seltener zu sehen, viele waren auch einfach verschwunden. Die kleine Stadt hörte die Leute sagen: “Ich hab’ gern hier gelebt, doch hier hält mich nichts mehr!”.
 
Was hatte die kleine Stadt nur getan? Hatte sie die Menschen schlecht behandelt? War sie gemein und unhöflich gewesen? Ratlos und traurig weinte die kleine Stadt vor sich hin, Tag für Tag. Die Bewohner merkten es nicht. Alles war so unpersönlich geworden, die kleine Stadt fühlte sich nicht mehr schön und einzigartig. Die Menschen trampelten einfach durch die Straßen, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, ohne sich an manch alten Gemäuern zu erfreuen. Sie warfen Müll auf die Straße, verpesteten die Luft mit ihren Autos und ihren Zigaretten und schimpften vor sich hin. Das Auto war nun scheinbar des Menschen größtes Heiligtum. Nur noch ganz selten machte jemand einen schönen Sonntagsspaziergang. Das Städtchen versank in der Rauchwolke, die die Menschen verursachten. Somit sah niemand ihre Tränen, ihren Schmerz. Immer mal wieder versuchte die kleine Stadt, sich von ihrer besten Seite zu präsentieren, doch niemand bemerkte es.
Oder wollte es niemand bemerken? Irgendwie kannte die Stadt viele Bewohner auch nur noch flüchtig und so manches Gesicht kam ihr ganz fremd vor. Viele Menschen hielten es nicht mehr lange in der kleinen Stadt aus. “Ich werd in die Großstadt versetzt!” riefen die einen. “Ich zieh lieber aufs Land”,  freuten sich die anderen. Die kleine Stadt schaute von einem zum anderen und verstand nur wenig von dem, was die Leute murmelten. Schuldig fühlte sie sich, auch wenn sie nicht wusste, was sie getan hatte. “Ach wäre ich doch so wie meine großen Schwestern...”, dachte die kleine Stadt wehmütig. Schon immer wurde sie von ihren Schwestern, größeren Städten in Deutschland, ausgelacht. Wie klein sie doch sei und sie hätte ja nicht soviel zu bieten. Gestört hatte das die kleine Stadt wenig, war sie doch lange Zeit sehr glücklich gewesen mit ihren Bewohnern. Doch jetzt...
 
Und so kam es, dass die kleine Stadt sich völlig verschloss. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Nein. Anfangs fiel ihr das noch schwer, weil sie doch so neugierig war und sehen wollte, was ihre Bewohner so machten. Und besorgt war die kleine Stadt auch, hatte sie doch ein großes Herz. Mit der Zeit aber wurde sie immer verbitterter. Ihr wurde vieles egal. Schließlich interessierte sich auch niemand für sie, wozu also die Mühe? Immer mal wieder wurde an ihr herum gewerkelt, “Stadtverschönerung”, sagte man. Der kleinen Stadt war das alles so ziemlich egal geworden. Da, wo einmal ihr großes Herz war, ist nur noch ein großer schwerer Stein.
 
Ach kleine Stadt, was hat man dir nur angetan, wie hat man über dich geredet. Dabei kannst du doch nichts dafür! Viele schimpfen, sagen, du wärst nicht schön. So grau, so trüb. Ohne Zukunft. Doch niemand sieht, dass nicht du die Schuld trägst, sondern die Menschen selbst. Die Menschen haben dich dazu gebracht, so grau und trüb zu sein, so hoffnungslos. Dabei müssten sie sich nur umsehen und genauer hinschauen, dann würden sie merken, wie du wirklich bist. Es sind die Kleinigkeiten, die das Leben schön machen. Einem Menschen sieht man an, wenn es ihm schlecht geht. Einer Stadt auch. Auch eine Stadt kann fühlen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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