Stephan Lill

Im Tempel von Olympia

Leonidas wartete, bis er alleine war im Tempel des Zeus. Dann sah er empor zu der sitzenden Statue des Zeus. »Ich weiß, du bist von Menschenhand gefertigt: Phidias gestaltete dich, nahm Ebenholz, Gold und Elfenbein; was man so nimmt an Edlem für den Edelsten. Ich bin aus anderem Material. Wohl nicht so dauerhaft. Ich habe Anteil daran, wie ich gestaltet bin: Meine Muskelkraft, meine Schnelligkeit verdanke ich meinem Training. Doch wie soll ich heute hier in Olympia siegen, wenn mir dein Segen fehlt? Ich meine nicht den Segen deiner Statue, auch wenn sie edel ist und groß. Du bist fast siebenmal größer als ich, schon als Statue. Wie groß bist du wirklich, in der Wirklichkeit, die ich nicht schauen kann? Versperrt ist mir der Blick auf das Andere, das Jenseitige. Ich erkenne, nehme nur wahr, was meine Sinne und mein Verstand mir ermöglichen. Gelange ich auf dem Umweg über deine Statue zu dir selbst? Dringen meine Worte bis zu dir vor? Ich weiß, dass du mir grollst. Wie kann ich dich versöhnen?«

Leonidas schwieg. Er sah sich um. Er war immer noch allein im Tempel, doch jederzeit konnten Priester oder Ratsuchende hereintreten. »Ich will dich nicht drängen mit deiner Antwort. Aber ich muss gleich springen. Und das möglichst weit. Fünf Sprünge bis zum Sieg. Hättest du etwas dagegen einzuwenden, wenn ich siege?«

Das Zepter, welches Zeus in der linken Hand hielt, bewegte sich. Der goldene Adler, der oben auf dem Zepter saß, flog herab zu Leonidas. »Ich bin ein göttlicher Bote und bin bereit dir die Botschaft von Zeus jetzt zu übermitteln.«

Leonidas starrte den Adler an. »Das kannst du nicht. Du bist Teil der Statue.«

»Könnte ein richtiger Adler verständliche Worte mit dir wechseln? Deren Flüge müssen eure Wahrsager erst deuten und fehldeuten. Ich aber verbinde dich direkt mit dem Anderen Bereich, dem Jenseitigen. Das schaffen Symbol-Figuren. Also willst du nun meine Botschaft hören?«

Leonidas strich dem Adler vorsichtig über seinen Kopf. »Du bist größer als ein Stier. Wenn Phidias wüsste, dass ich mich mit seiner Schöpfung unterhalte, seinem Adler, den er geformt hat ...«

Der Adler unterbrach ihn. »Geformt nach meinen Vorgaben. Ich habe ihn beeinflusst bei seinem Schaffensprozess. Ich bin das Urbild des Adlers. Aber wir kommen vom Thema ab. Du willst gleich Springen. Weitsprung. Habe ich nicht nötig. Ich fliege einfach. Solltest du auch einmal probieren.«

Leonidas deutete auf seinen Rücken. »Ich habe keine Flügel. Will auch keine haben. Aber was ich gerne hätte, das ist der Segen von Zeus. Sein Wohlwollen. Ich habe das Gefühl, er grollt nicht nur mir, sondern der gesamten Menschheit. Er kann uns Menschen nicht besonders gut leiden, oder?«

Der Adler nickte. »Deshalb spreche ich auch stellvertretend für ihn hier. Sein Groll würde diesen Tempel zerstören. Ihr betet ihn an. Verehrt ihn. Doch er hasst euch. Ihm ist euer Sieg bei Olympia sehr egal. Es ist für ihn eine Ruhebelästigung. Ihr rückt ihm zu nah, sucht seine Nähe allzu sehr. Drängt euch zu Füßen seines Olymps. Wie soll er segnen, was ihn stört?«

»Dann rede ich jetzt besser nicht weiter. Ich flüstere auch beinahe nur noch. Wir wollen den mächtigsten Herrscher nicht bedrängen. Rat und Segen werden überbewertet. Ich verlasse mich ganz auf mein Können, mein Training.«

»Das wäre fatal. Berücksichtige die Umstände, das, was dich umgibt. Für wen springst du in diesem Fünfkampf, der dir so wichtig ist? Für das Publikum? Sie sind vergänglich. Für den Ruhm?«

»Wenn ich zu viel darüber nachdenke, dann gelingt mir der Sieg sicherlich nicht. Ich muss mich konzentrieren auf den Absprung und muss glauben, dass ich beinahe fliegen kann. Dann werden mich meine Kräfte weit tragen. Du aber ziehst mich hinunter mit deinem Gerede von Absicht und Plan.«

Der Adler haute ihm mit einem Flügel gegen die Schulter. Leonidas riss dem Adler eine goldene Feder aus. »Die behalte ich als Andenken an einen überheblichen Adler.«

»Sie werden dich wegen Tempelraubes von dem Felsen stürzen. Leider kannst du nicht fliegen, auch wenn du jetzt eine goldene Adler-Feder besitzt.«

Nike, die auf der rechten Hand des Zeus stand, sprang zu ihnen herab und öffnete ihre Flügel kurz vor der Landung. »Das ist jetzt wirklich kein schönes, harmonisches Ersuchen um Segen und Beistand. Unschönes Gezeter vor dem Thron des Erhabenen!«

Der Adler sagte: »Du mit deinem Schönheitssinn. Muss jeder Sieg schön sein? Jede Lösung elegant, ergreifend schön? Es gibt das Brüchige, Eckige. Kompromisse, die in höchstem Maße unschön sind, aber erforderlich. Willst du nur das Schöne siegen lassen?«

Leonidas rieb sich die Augen. »Du bist Nike, die Siegesgöttin. Wenn ich jetzt mit dir streite kurz vor meinem Wettkampf ist das irgendwie unklug, will mir scheinen. Könnten wir uns alle nicht vertragen? Dann verhelft ihr mir zum Sieg, tut das Eurige, ich tue das Meinige, was ja ein erheblich größerer Anteil ist, und danach bringe ich euch nach guter alter Sitte einige Brandopfer dar. Und die Adler-Feder gebe ich selbstverständlich zurück.«

Leonidas hielt dem Adler die Feder entgegen. Der nahm sie mit seinem Schnabel und steckte sie sich wieder in sein goldenes Gefieder. Nike betrachtete den Körper von Leonidas, strich ihm über seine Beinmuskeln. »Du könntest am weitesten springen heute. Hängt es ab von meinem Wohlwollen, meiner Absicht? Was meinst du?«

Leonidas sah Nike ins Gesicht. »Du bist schön. Der Sieg ist immer schön. Doch auch er ist vergänglich. Ich zwinge mich – mit Erfolg – nicht über den Aberwitz dieser Situation nachzudenken. Ich plaudere mit Nike und dem göttlichen, goldenen Adler. Die Aufregung kurz vor dem Wettkampf wühlt meine Sinne auf und wirbelt sie mir durcheinander. Besteht eine Chance, dass ich irgendwie den Segen von Zeus erlangen kann? Ich will ihn gewiss nicht stören in seiner Ruhe. Doch ist Ruhe nicht auch langweilig mitunter? Könnte ein kleines Gespräch mit einem außergewöhnlichen Menschen ihn nicht erheitern?«

Der Adler nickte. »Außergewöhnlich bist du. Das ist jeder Mensch. Erkenne dich selbst. Den ersten Schritt hast du getan. Weißt du, wie dein nächster Schritt sein wird?«

Leonidas sprang. Er machte fünf große Sprünge rings um die Zeus-Statue herum. »Wenn wir springen, dann ist es, als ob wir für einen winzigen Moment fliegen würden. Göttergleich, nicht gebunden an das Schwere. Doch schon wieder zieht es uns herab, zwingt uns zur Landung. Vielleicht wollte ich deshalb schon immer weiter springen können als jeder andere. Nicht wegen des Ruhms, sondern weil ich losgelöst sein will von dem, was uns bindet, festhält. Es ist ein Gefängnis: Diese Welt können wir nicht verlassen. Selbst im Tode werden wir wieder zu einem Teil dieser Welt, der verwendet wird, um Neues zu formen, neue Gebilde, die sich ranken in Raum und Zeit. Wie Kletterpflanzen, Efeu, das sich windet zum Himmel empor, zum Licht. Doch die Zeit reicht nie; immer wieder verendet alles, stirbt ab, bevor es beachtliche Höhe erlangt. Ihr beide, ihr könnt fliegen, habt Flügel. Ich, als Flügelloser, suche andere Wege, um meinem Menschsein zu entkommen. Ich springe hoch, weit. Möchte über das Menschliche hinausgelangen. Es überwinden durch den Sprung. Ich freue mich über dieses Gespräch im Tempel des Zeus, auch wenn mir unheimlich ist dabei. Denn ist es nicht so, dass mir ein Erfolg schon beschieden ist: das Jenseitige öffnet sich mir, spricht zu mir. Es sei denn, ich bin lediglich verwirrt oder trunken vom Rausch des Sieges in Olympia, den ich schon koste auf meinen Lippen. Geschmückt mit dem Lorbeerkranz kehre ich nachher zu euch zurück. Werdet ihr mich dann nur schweigend aus starren Statuen-Augen ansehen, oder wird Leben in euch sein?«

Nike lächelte. »Du belebst das Tote. Symbole sprechen zu dir. Bewahre dir diese Kraft. Lasse dich nicht von deiner Furcht übermannen, dass du dich verlieren könntest in deinem Fantasie-Reich. Mischung ist alles von Fantasie und Gegebenem. Wer nur das Gegebene gelten lässt, wird nicht erkennen können. Das Wissen braucht die Fantasie, um erkannt zu werden. Verändere das Gegebene in Gedanken, verforme es, negiere es; dann sieh, wie es sich dir offenbart. Ich stehe noch immer reglos auf der rechten Hand von Zeus; doch du hast mich verändert in deinen Gedanken: siehst mich neben dir stehen, meine Flügelspitzen streifen deinen Körper. Ist beides wahr? Wenn du springst, dann sieh dich am Sprungbalken schon am Ziel, wo du landen wirst. Sei zur selben Zeit an beiden Orten. Dann kann dir niemand den Sieg nehmen. Das sagt dir Nike, die Siegesgöttin.«

»Ich bekomme nicht den Segen von Zeus?«

Der Adler sagte: »Es ist nicht deine Schuld. Ihr Menschen habt Eigendynamik, seid chaotisch, für ihn unberechenbar. Er hat keine Lust euch zu berechnen, vorauszusehen, was ihr plant. Ihr seid ihm eine Last. Tiere haben nicht diese Vielzahl an Möglichkeiten. Ich befürchte, er sperrt euch demnächst ein in den Tartaros, in den finstersten Teil des Hades zu den Titanen. Alle die ihm missfallen, die landen dort. Ich werde mich wohl auch dort einfinden. Es ist so leicht seinen Zorn zu erregen.«

Die Zeus-Statue bewegte ihren Fuß.

Leonidas ging einige Schritte rückwärts. »Meine Frage war eigentlich nicht so wichtig. Betrachte meine Bitte um Gehör als zurückgenommen. Wieso liegt mir so viel an dem Segen von Zeus? Ich habe trainiert und habe eine gute Chance zu gewinnen. Habt Dank für das Gespräch mit euch, für eure Aufmerksamkeit, dass ihr euch mir zugewandt habt. Doch der Zuwendung wird es mir nun, fürchte ich, zu viel.«

Zeus versperrte ihm mit seinem Zepter den Weg. »Warte, Leonidas. Du bist einer der Menschen, auf die mein Groll nicht ganz so groß ist. Mag sein, dass ich deswegen geneigt bin einzutauchen in deine Welt und teilzuhaben am Sinnlichen. Eure Sinne ermöglichen euch eine eigenartige Sicht auf die Welt, beschränkt, verzerrt, aber ich finde Geschmack daran mit Sinnen die Welt wahrzunehmen. Es hat etwas Erfreuliches. Besonders die Liebe soll genossen werden mit vollem Einsatz der Sinne. Es wurde mir zu einer Leidenschaft die Liebe auszuüben, zu experimentieren mit nicht nur Göttinnen sondern auch mit den schönsten Töchtern von euch Menschen. Heroen schuf ich auf diese Weise. Halbgötter. Du selber, Leonidas, vollbringst Außergewöhnliches. Du läufst schneller, springst weiter als jeder andere Mensch. Du wirst siegen heute in Olympia und auch die nächsten Jahre. Bis deine Kraft verbraucht ist. Die Menschenkraft erschöpft sich rasch. Einen Augenblick später bevölkern ganz andere Menschen die Länder; ich sehe mich um und erkenne keinen wieder. Mit denen ich gerade Gespräche geführt habe, sie vermodern unter der Erde. Dein Sprung führt dich weiter, als du gedacht hast. Er führt dich bis ins Jenseits und wer weiß darüber hinaus. Spring kühn und kräftig, anders gelangst du nicht aus deiner Welt hinaus.«

Leonidas kniete sich nieder. »Habe ich deinen Segen? Muss dir gefallen, was wir unternehmen und versuchen? Musst du es genehmigen im Voraus? Was ist, wenn wir selber nicht genau wissen, wohin es führt, was wir da versuchen und ausprobieren? Wir machen nur so langsam Fortschritte, verändern uns wenig, häufen kaum Wissen an. Ich ahne, dass wir zu weitaus mehr in der Lage wären, könnten schneller Wissen einsammeln.«

Zeus strich sich über seinen Bart. »Ist das eine Olympische Disziplin demnächst: das rasche Wissens-Anhäufen? Ich schaue euch zu bei euren Wettkämpfen hier in Olympia. Mir zu Ehren macht ihr es? Ehrt euch auch selbst durch hervorragende Leistung. Wir Götter könnten euch mit Leichtigkeit überflügeln bei jeder eurer Bemühungen. Sei dankbar dem Adler, dass er den Bann gebrochen hat und bereit war mit dir zu sprechen. Er muss Gefallen an dir gefunden haben. Denn sonst verbleibt er eine Statue. Nur mit Sinnen kannst du seine wahre Identität nicht erfassen. Sie ragt hinaus in andere Bereiche. Das Symbolische verknüpft, verbindet diese Bereiche, diese getrennten Welten. Etwas, was über sich selbst hinausdeutet und etwas anderes auch noch meint – das ist ein Symbol. Ich selber bin ein Symbol, wenn ich an mir so hinunterschaue. Als Zeus-Statue sitze ich vor dir und kann nicht einmal aufstehen ohne meinen Tempel zu zerstören. Mit dem Kopf würde ich durch die Decke stoßen und dann mit meinem ganzen Leib. Alles würde niederstürzen, was ihr mühsam mir errichtet habt. So bleibe ich denn sitzen. Du aber, Leonidas, spring. Nimm die Hanteln in deine Hände, schwinge sie geschickt und kräftig. Die Welt ist Sprung. Von den Titanen zu mir, war es ein Sprung. Und auch der Raum, die Zeit – eingeteilt in Sprünge. Was liegt zwischen den Sprüngen? Ein Niemandsland? Existiert der Bereich zwischen den Sprüngen? Findet es heraus – ihr Menschen. Doch ich werde viele von euch kommen und gehen sehen, bis ihr euch der Antwort nähert. Macht das Denken olympisch! Macht darin eure Sprünge. Wem hilft es, dass ihr auf dem Sandplatz hüpft und springt. Mir zu Ehren? Ehrt mich durch euren Verstand. Bewegt euch nicht wie Schildkröten auf diesem Gebiet! Und sagt nicht, die Götter hätten was dagegen, dass ihr forscht und euch umschaut, wie die Natur funktioniert und was es auf sich hat mit eurer Realität.«

Leonidas stellte sich wieder aufrecht hin. »Ich bin keine Schildkröte. Ich bin der schnellste Läufer. Auch springe ich am weitesten. Oder am zweitweitesten. Das wird sich gleich herausstellen. Kann ich meinen Geist, meinen Verstand genauso trainieren, wie ich meinen Körper trainiere? Meine Sprungkraft. Wenn ich ebensolche Sprungkraft hätte im Geist, wenn mein Geist springen könnte zu einer weit entfernten neuen Erkenntnis. Und dann noch einen Sprung zu etwas so weit Entferntem, dass noch kein Mensch vermutet hätte, dass es so etwas gibt. Und meine Hanteln, die ich schwinge, die mir helfen, damit ich Schwung habe und die mich mitreißen nach vorne – das sind dann meine Begeisterung und meine Visionen, meine Erinnerung an deine hoffnungsvollen, anfeuernden Worte, Zeus. Fünf Sprünge nacheinander bis zum Sieg. Wo werden wir Menschen landen, wenn wir es wagen wirklich mit aller Macht zu springen in das Ungewisse hinaus und hinein.«

Zeus stellte sein Zepter wieder neben sich und der Adler flog hinauf auf seinen Platz. »Es kommen gleich Besucher zu uns. Wir wollen sie nicht erschrecken durch Bewegung und Worte. Ich schweige und wahre Ruhe in meiner Bewegung. Beherzige, was ich dir sagte über das Springen. Lasst euch nicht Fußfesseln anlegen von Priestern oder meinem Bruder Hades. Fürchtet euch nicht. Springt über die Abgründe hinweg. Das ist das Geheimnis des Sprunges: er bringt dich über das Niemandsland, das Unsichere, hinüber zu festem Boden, so als ob du im Moor von einer festen Stelle zur nächsten springst. Wenn du nicht springst, dann versinkst du oder bleibst stehen. Doch Stillstand ist für euch Menschen der Tod. Neugier treibt euch voran, sie ist in euch aus gutem Grund. Mehr verrate ich nicht, denn ich tue so, als ob ich das Weitere nicht kenne. Doch nichts ist mir verborgen. Lebe wohl, Leonidas.«

Nike hauchte Leonidas einen Kuss auf seine Wange. »Du hast meinen Segen. Auch wenn du nicht siegst, bewahre mich in dir. Dort sind wir Götter zu Hause: im Lebendigen. Wirken mit am Erfolg, wollen das Gelingen, erstreben das Unerreichbare. Das ist unser Fluch und unser Segen: zum Außergewöhnlichen zieht es uns hin, durchbrechen wollen wir die Grenzen. Auch wir sind Springende; springen zwischen den Sphären hin und her, verbinden was getrennt. Folge mir mit deinen Sprüngen, bleibe nicht in diesem einen Reich.« Sie schwang sich empor und landete grazil auf der rechten Hand der Zeus-Statue.

Leonidas hörte hinter sich Schritte. »Hier steckst du. Kraft und Hoffnung stärken vor deinem Wettkampf? Du hast das doch nicht nötig. Ich als dein Trainer kann dir versichern, dass du auch heute alle besiegen wirst. Du bist der Beste.« Milon haute Leonidas aufmunternd auf die Schulter.

»Ich habe meinen Verstand vernachlässigt. Aber was hätte ich lernen sollen? Viel Wissen haben wir Menschen nicht angehäuft. Sieh dir die kümmerlichen Haufen an, die wir zusammengetragen haben in all den Jahrhunderten. Gewiss, wir schaffen es solch ein wunderbares Bauwerk, wie diesen Tempel, emporwachsen zu lassen. Und wir schaffen es riesige Götter-Statuen hineinzusetzen. Doch wozu das alles, wenn es uns nicht hilft, die Grenzen unserer Welt aufzustoßen und hindurchzusehen in das, was dahinter liegt? Wir müssen springen. Von einer gesicherten Erkenntnis zur nächsten. In Gedanken den weit entfernten Landeplatz ahnen, wissen, was uns dort erwartet. Wir können im Geiste vieles vorwegnehmen. Schau dir diesen Tempel an und diese Zeus-Statue. Erst war diese Statue nur in dem Geist von Phidias, dann formte er sie aus Ton. Dann erst machte er sich ans Werk und schuf dieses Symbol aus Gold und Elfenbein. Herrlich nicht wahr? Es verweist auf das Jenseitige. Die Andere Welt. Von dort erreicht uns Nachricht, Botschaften, die der Adler übermittelt.«

Milon schüttelte den Kopf. »Du warst zu lange bei dieser Erdspalte, aus der Gase aufsteigen, die das Orakel betören sollen, aber doch nicht deinen Geist kurz vor dem Wettkampf. Du bist benebelt von diesen gefährlichen Gasen, die dir etwas vorgaukeln, was nicht ist. Das Orakel hat gelernt sich darauf einzustellen. Es weiß über die Brüchigkeit von Illusion und Realität. Du aber sei ganz und gar in der Realität nun!«

Leonidas seufzte und sah empor zu dem regungslosen Adler. »Er hat sich wohl nie bewegt. Sprach nie mit mir. Schade. Nur Gase aus der Erde. Aus einer aufgesprungen Spalte. Selbst die Erde ist mir dienlich mit einem Sprung. Sonderbar, wenn erst die Gedanken anfangen um ein Thema zu kreisen, dann erblickt man Variationen dieses Themas überall. – Nikes Flügelspitzen haben mich nicht berührt? Kein Kuss von ihr? Ich stehe hier und bin gefangen in meinem Wahn? Das Trügerische: ein Geschenk des Hades. Er will die Menschen verwirren. Oder aber zur Weisheit führen. – Glaubst du, dass wir Schildkröten sind? Wir Menschen bewegen uns auf geistigem Gebiet so langsam voran. Keine kühnen Sprünge. Woran liegt das? Was fürchten wir?«

Milon sah zu der Zeus-Statue empor. »Hat er eben die Augenbrauen bewegt? Das ist unheimlich. Menschen sollten nicht die Nähe von Göttern suchen. – Du fragst, was wir fürchten? Vielleicht den Sieg. Vielleicht sehen wir Menschen uns nicht als Sieger? Wir zögern, tun nicht das Erforderliche, um das nötige Wissen einzusammeln, lassen das Wissen achtlos liegen am Wegesrand. Wir gehen vorüber, kümmern uns um unsere täglichen Aufgaben und genau das solltest du jetzt auch tun: deine Aufgabe ist es, weiter zu springen als jeder andere. Bist du bereit? Das Publikum wartet auf dich.«

Leonidas drehte sich um und ging mit Milon aus dem Tempel. »Meine Sprünge werden die Menschheit nicht weiterbringen. Aber vielleicht bin ich ebenfalls ein Symbol. Jemand der hinausdeutet auf das Andere, das Eigentliche. Mein körperlicher Sprung als Symbol für die Sprünge, die uns bevorstehen im Geiste. Mächtige Sprünge. Wo werden wir landen? Zeus weiß es.«

 

 

ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.08.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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