Angelika Berenboim

Eine leitende Persönlichkeit

Eine leitende Persönlichkeit



Mir wurde erzählt- und ich habe keinen Grund es nicht zu glauben- dass er im Alter von 2 Jahren sehr laut geweint hat, weil seine Oma ihm nicht erlaubt hat, sie zu füttern. Im Alter von 3 ½ Jahren hat man ihn halb lebendig aus einem Fass voller Wasser rausgeholt, wo er reingekrochen ist, um einem Frosch das Schwimmen beizubringen.
Zwei Jahre später hat er fast beide Augen verloren, als er einer Katze zeigen wollte, wie man kleine Kätzchen transportiert ohne ihnen weh zu tun. Im selben Jahr wurde er stark von einer Biene gestochen, die er von einer Blume, wo sie seiner Meinung nach ihre Zeit nur verschwendet hatte, auf eine andere Blume mit viel reichhaltigem Nektar setzten wollte.
Er brannte darauf anderen zu helfen. Er konnte den ganzen Morgen vor einer alten Bruthenne sitzen und ihr erklären wie man optimal die Eier hütet. Er hat gerne den Nachmittagspaziergang abgelehnt und blieb zu Hause, um ein Paar Nüsse für sein beliebtes Eichhörnchen zu knacken. Noch bevor er sein siebtes Lebensjahr erreicht hat, hat er seiner Mutter gezeigt, wie man mit Kindern umgehen sollte und hat seinem Vater starke Vorwürfe gemacht, dass er ihn falsch erziehen würde.
In seiner Kindheit hat er am Liebsten auf Kinder aufgepasst. Das hat ihm sehr viel Spaß bereitet und der Kindern nicht weniger Kummer. Er hat sich diese unruhige Aufgabe freiwillig auferlegt ohne irgendwelche Gedanken über einen Lob. Es war ihm egal, ob diese Kinder älter oder jünger als er, schwächer waren oder stärker – egal wo er sie getroffen hat, fing er direkt an, auf sie aufzupassen. Einmal, während eines Schulausflugs, hat man laute Schreie aus dem Wald gehört. Der Lehrer ging hin, um nachzuschauen, was dort passierte. Hansi lag auf dem Boden und ein Schüler der Oberstufe saß auf ihm und schlug ihn heftig mit der Faust. Nachdem der Lehrer das unglückliche Opfer befreit hatte, fragte er:
„Warum spielst du nicht mit den Kleinen? Warum hängst du dich an die Älteren?“
„Entschuldigen Sie“, folgte eine Antwort „ich habe auf ihn aufgepasst.“
Hansi war ein sehr gutherziger Junge und während seiner Schulzeit ließ er alle von seinen Hausaufgaben abschreiben. Er zwang sie sogar, dies zu tun. Er wünschte ihnen nur Gutes. Da aber seine Antworten immer absolut falsch waren, hat er sehr geringe Erfolge erzielen können und wegen ihrer Jugend, die nicht nach den Absichten, sondern nach Ergebnissen urteilt, warteten sie jeden Tag auf ihn auf dem Schulhof und schlugen ihn.
Seine ganze Energie hat er für Belehrungen der Anderen verbraucht, für seine persönlichen Sachen blieb nichts mehr übrig. Er lud kleine Jungs zu sich nach Hause ein und hat ihnen Boxen beigebracht.
„Na, versuch mal, schlag mich auf die Nase“, sagte er und stellte sich auf in eine Verteidigungsposition. „Hab keine Angst, schlag mit der ganzen Kraft zu!“
Und der Junge schlug…. Als unser Held wieder sprechen konnte und seine Nase nicht mehr so stark geblutet hat, erklärte er dem Jungen, dass er völlig falsch zugeschlagen hat.
Als er den Golfanfängern zeigen wollte, wie man einen Ball trifft, hat er zwei Mal seinen Fuß verletzt und hinkte danach eine Woche lang. Und was den Fußball anbetrifft, so kann ich mich erinnern, dass der Ball mitten ins Tor rollte während er einem Spieler leidenschaftlich erklärte wie man ein Tor angreifen sollte.
Er konnte tatsächlich einem absolut verzweifelten Physikstudenten erklären, um ihn aufzumuntern, dass das Studium und die Prüfungen für niemanden eine Schwierigkeit darstellen, die er kennt. Hansi hätte auch Mathematik oder Informatik studieren können, aber laut seinen Angaben wäre es viel zu einfach für ihn, da er dort nichts Neues lernen würde. Überdurchschnittlich intelligent, im Herzen ein Künstler und mit Verstand eines Mathematikers hat er auf sein persönliches Glück verzichtet, und seine vielfältige Talente auf die Öffentlichkeit gerichtet mit der vornehmen Absicht anderen zu helfen.
Wenn Hansi die Gelegenheit hatte mit dem Bus zu fahren, dann setzte er sich natürlich immer neben dem Fahrer und zeigte ihm auf unterschiedliche Gegenstände auf der Strasse, die ihrer Fortbewegung hindern könnten.
In einem Bus begann auch unsere Bekanntschaft. Ich saß vorne und beobachtete wie zwei neu eingestiegenen Frauen eine Fahrkarte beim Busfahrer gekauft haben. Eine von ihnen gab ihm sechs Euromünzen und sagte:
„Bis Junkersdorf“, was nur 1,80 kostete.
„Nein“, sagte die andere Frau zur ersten. „Ich schulde ihnen noch sechs Euro. Geben sie mir vier und ich bezahle für uns beide.“ Und Sie gab dem Fahrer ein 10-Euro-Schein.
Der Fahrer nahm das Geld, druckte zwei Fahrkarten und fing an zu überlegen, wie viel er zurückgeben muss.
„Sehr gut“, sagte die Frau mit dem 10-Euro Schein. „Geben Sie meiner Freundin 4 Euro.“ Der Fahrer machte das. „Jetzt gib diese 4 Euro mir.“ Die Frau gab sie ihr. „Und sie geben mir noch 2 Euro und wir sind dann quitt“, sagte sie zum Fahrer.
Der Fahrer zählte misstrauisch zwei Euro ab und gab sie der Frau. Dann setzten sich die Damen und er murmelte etwas davon, dass er kein Mathematiker wäre, und nicht verpflichtet ist so schnell im Kopf zu rechen.
„Und jetzt“, sagte die ältere Frau zur jüngeren „schulde ich ihnen noch 0,50 Euro.“
Ich dachte, damit wäre die Geschichte beendet, als plötzlich ein Herr mit roten backen aus der hinteren Reihe laut geschrieen hat:
„Hey, Fahrer- sie haben diesen Frauen 1 Euro zu viel berechnet!“
„Wer hat wem zuviel berechnet?“ schrie der Fahrer. „Die Fahrkarten kosten 1,80 Euro.“
„Zwei mal 1,80 sind nicht 4 Euro“, widersprach leidenschaftlich der Herr aus der hinteren Reihe. „Wie viel haben Sie ihm gegeben?“
„Ich habe ihm 4 Euro gegeben“, sagte die erste Frau nach dem Blick in den Geldbeutel. „Und dann, erinnern Sie sich, habe ich dir noch zwei Euro gegeben“, fügte sie hinzu zu ihrer Freundin.
„Die Fahrkarten waren was teuer“, bemerkte ein anderer Fahrgast, der am Gang in der Mitte saß.
„Nein, Liebchen- wie kann es passieren?“ antwortete die andere Frau. „Ich war ihnen von Anfang an noch sechs Euro schuldig.“
„Und ich habe ihnen vier gegeben“, beharrte die andere.
„Sie haben mir 10-Euro Schein gegeben“ sagte der Fahrer und zeigte mit dem Finger auf die ältere Dame. „Und ich habe ihnen 2 Euro gegeben. Stimmt es?“
„Die ich ihnen gegeben habe“, sagte die jüngere Frau zu der älteren.
„Erlauben Sie, heißt es also, dass sie mir noch 1 Euro schulden?“ schrie der Fahrer.
Aber dann hat sich wieder der Herr mit den roten Backen eingemischt und sagte:
„Sie hat ihnen doch schon davor sechs Euro gegeben.“
Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand mehr wie alles gewesen war und alle stritten sich untereinander während sie sich selber widersprachen.
Der Herr mit den roten Backen hat sich freiwillig dazu erklärt, Ordnung wieder herzustellen. Noch bevor der Bus Junkersdorf erreichen konnte, haben drei Fahrgäste dem Fahrer gedroht ihn wegen seiner Ausdrucksweise zu verklagen. Der Fahrer rief einen Polizisten, mit dessen Hilfe er alle Namen und Adressen der Passagiere notiert hatte, um sie dann vor Gericht zu zwingen den Euro zu bezahlen (den die beiden Frauen ihm gerne gegeben hätten, wenn der Herr mit den roten Backen ihnen es nicht ausdrücklich verboten hätte.) Zum Ende der Fahrt war die jüngere Frau davon überzeugt, dass die ältere sie betrogen hat und die ältere Frau konnte diese Beleidigung nicht ertragen und fing an zu weinen.
Der Herr mit den roten Backen fuhr ab Junkersdorf weiter mit mir. Die ganze weitere Fahrt war damit beschäftigt, über diesen Euro zu diskutieren. Wir verabschiedeten uns vor meinem Haus und er stellte begeistert fest, dass wir Nachbarn waren. Ich konnte einfach nicht verstehen, was dieser Mann so tolles an mir fand. Ich fand ihn todlangweilig. Später habe ich erfahren, dass er von jedem begeistert war, der ihn offen ins Gesicht nicht beleidigte.
Drei Tage später kam er durch die Tür ohne vorher Bescheid zu sagen, da er sich wahrscheinlich schon als einen alten Freund von mir bezeichnete. Er fing sofort an sich zu entschuldigen, dass er nicht eher vorbeigekommen ist und ich verzieh ihm gerne diesen kleinen Fehler.
„Auf dem Weg zu Ihnen habe den Postboten getroffen“, sagte er. „Und er gab mir diesen Brief für sie.“
Ich bemerkte, dass es eine Rechnung war.
„Sie müssen protestieren“, setzte er fort. „Das ist eine Rechnung für das Wasser bis zum 29. September, aber wir haben erst Juni. Denken Sie gar nicht daran im Voraus zu bezahlen.“
Ich murmelte etwas davon, dass man fürs Wasser eh bezahlen muss, egal wann im September oder Juni.
„Darum geht es nicht“, sagte er aufgeregt „es geht ums Prinzip. Warum sollen Sie für das Wasser bezahlen, was Sie noch nicht verbraucht haben? Welches Recht haben sie von Ihnen zu verlangen, was sie nicht schulden?“
Er hat sehr leidenschaftlich gesprochen und hat mich nach einer halben Stunde überredet, dass es hier um meine Menschen- und Bürgerrechte geht und wenn ich diese 19,90 Euro im Juni und nicht im September zahle, dann bin ich die Rechte und Privilege nicht Wert, die meine Vorfahren so hart im Kampf ums Leben und Tod erkämpft haben. Er bewies mir, dass die Wassergesellschaft auf keinen Fall Recht hatte und ich setzte mich selbst hin und schrieb einen beleidigenden Brief an den Direktor der Gesellschaft.
Der Fall kam vors Gericht und Hansi sah sich verpflichtet, mich zu verteidigen.
„Überlass die Sache mir“, sagte er begeistert. „Wir werden ihnen schon beibringen, wie man unschuldige Kunden betrügt.“
Und ich überließ es ihm, ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, warum. Die Entscheidung des Gerichts hat meinen Eifer etwas gemindert, dafür aber die Entschlossenheit meines neuen Freundes sehr bestärkt. Alle diese Richter wären einfach nur alte Esel, sagte er. Man muss den Fall höher schieben.
Beim höheren Gericht erklärte mir der Richter- ein sehr netter Mensch-, dass ich von Prozesskosten befreit werde wegen der Undeutlichkeit in der Formulierung der Klage. So kam ich relativ billig davon und zahle nur 100 Euro plus die ursprüngliche 19,90 Euro, die ich am Anfang zahlen musste.
Danach war unser Verhältnis kühl geworden. Aber da er mein Nachbar war, habe ich ihn oft gesehen und noch öfter von ihm gehört.
Besonders war er aktiv auf gesellschaftlichen Ereignissen, wie Bälle oder Partys. Einmal wollte ich weihnachten meinen Nachbar besuchen und kam unangemeldet vorbei. Ich sah ein sehr merkwürdiges Bild: 10 oder 11 ältere Damen und Herren liefen um die Stühle in der Mitte des Zimmers herum und Hansi spielte Klavier. Manchmal hörte er auf zu spielen und dann fielen alle müde auf die Stühle- alle, bis auf einen, für den es kein Stuhl gab. Der glückliche musste das Spiel verlassen, verfolgt von den neidischen Blicken der Anderen. Einer dieser Verlierer erklärte mir genervt:
„Noch so eine dumme Idee von Hansi.“ Und dann fügte er verärgert hinzu „Danach müssen wir noch Karten spielen.“
Hansi kannte so viele Gesellschaftsspiele. Genau dann, wenn sie mitten in einem interessanten Gespräch waren oder einen netten Flirt mit dem anderen Geschlecht anfingen, tauchte er wie aus dem Boden auf und schrie: „Kommen Sie, schnell! Wir spielen ein literarisches Spiel!“ Er schleppte Sie zum Tisch, legte ihnen ein Stück Papier vor und forderte, dass sie ihre Lieblingsdarstellerin aufschreiben. Er beobachtete Sie genau, bis Sie ihre Aufgabe nicht erfüllt haben.
Sich selbst hat er auch keineswegs geschont. Er war immer der Erste, der die älteren Damen zum Bahnhof begleitet hat und gab keine Ruh, bis er sie in den falschen Zug gesetzt hat. Er war immer derjenige, der mit den Kindern das Spiel „Wilde Tiere“ gespielt hat und hat die armen Kleinen so erschreckt, dass sie danach die ganze Nach lang geweint haben.
Er war immer bereit für gute Taten. Er lud zu einem Seespaziergang Leute ein, die seekrank waren. Er besuchte Kranke und hatte immer etwas Leckeres dabei, das umgehend das Befinden des Patienten verschlechterte.
Er liebte es, die Hochzeiten zu organisieren. Einmal hat er alles so genau geplant, dass die Braut eine Stunde vor dem Bräutigam da war und die Braut eine Stunde lang geweint hat, weil sie dachte, dass der Bräutigam nicht mehr auftaucht.
Auf den Beerdigungen stand er auch immer im Vordergrund. Er erzählte den trostlosen Verwandten des Toten, wie schön es ist, dass er endlich tot ist und zeigte eine große Hoffnung, dass sie alle bald dem Totem folgen werden.
Aber seine größte Freude war die Teilnahme an den Streitereien der Ehepaare. Normaleweise fing er an als Friedensengel und endete als Hauptzeuge des Anklägers.
Wäre er ein Politiker oder ein Journalist, so würde ihm die Gabe sich in Sachen Anderer einzumischen eine große Karriere und viel Respekt bereiten. Sein Problem aber war, dass er alle seine Talente auch praktisch angewandt hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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