Simon Käßheimer

Pillanas Nachtausflug



Der Tag ging langsam zu Ende.
Zuerst wurde es in der Kirche und dann auch um die Kirchturmspitze stockdunkle Nacht.
Ganz oben in der Kirchturmspitze saßen Fledermäuse und eine von ihnen, die sich an einer Seitenstrebe des Gebälks festklammerte, war eben wach geworden.
Pillana, so hieß die Fledermaus, war normalerweise keine Frühaufsteherin, die vor allen andern erwachte, aber heute war sie ausnahmsweise die Erste.
Sie streckte sich und spannte ihre Flügel auf, um wach zu werden und dann schaute sie sich um.
Sonst regte sich noch keine ihrer Kolleginnen im Kirchturm, allerdings schienen diese auch gerade langsam zu erwachen: die eine spannte bereits im Schlaf die Flügel auf und flatterte ein wenig damit, während eine andere leise vor sich hin murmelte.
Pillana schaute dem Treiben eine Weile zu, dann öffnete sie ihre Flügel und flog zwischen den Wandlammelen der Kirchturmspitze hindurch ins Freie.
Den Mond, der eben aufgegangen war, im Rücken flatterte sie geradewegs auf den Stadtrand zu in Richtung eines Teichs, der meist eine gute Speise versprach.
Als sie in die Nähe des Biotops kam, flog sie langsamer und ließ sich vom Wind in tiefere Regionen treiben. Auf Höhe der Schilfdolden angelangt, flog sie um eine Dolde herum und landete dann auf einem alten Baum in der Nähe des Ufers.
Dort hängte sie sich in Fledermausmanier an einem der unteren Äste auf und dachte bei sich:
„Erst mal sehen wo die Fliegen und Schnaken sind“.
In der Mitte eines langen Schilfstreifens machte sie einen Reigen von Schnaken aus.
„Ooh, wie leicht“, dachte sie sich vergnügt, „und es ist noch keine der anderen Fledermäuse da!“
„Los jetzt!“, spornte sie sich selbst an und hob vom Ast ab, um zu dem Reigen zu fliegen.
Sie flatterte hinüber und eins und zwei und drei, fing sie die ersten Schnaken in raschem Flug. Weiter ging es mit vier, fünf und sechs, dann war sie satt.
„Hmm, jetzt noch ein wenig Wasser“, dachte sie bei sich und flog zu einer Stelle am Teich, wo ein kleiner Ast lag über den sie zum Wasser gelangen konnte.
Sie landete und trank sich voll, ohne auf die Umgebung zu achten.
Als sie, den Durst gelöscht, auf dem Ast zurückrobbte, stand plötzlich hinter ihr eine Katze.
Diese blickte sie verdutzt an, mit im Mondlicht leuchtenden Augen.
„Was bist du denn?“, fragte die Katze.
Pillana, überrascht und verängstigt zugleich, brachte im ersten Moment nichts heraus.
Dann stammelte sie: „Ich bin eine Fledermaus!“
Die Katze musterte sie neugierig.
„Ich heiße Pillana“, reichte sie eingeschüchtert nach.
„Soso, eine Fledermaus“, sagte die Katze beeindruckt, „das ist ja hochinteressant! So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen. Eine Maus mit Flügeln!“ Dabei fuhr sie sich mit der Pfote über eines ihrer Katzenohren und ergänzte voll Begeisterung: „Ich habe dir vorher beim Fliegen zugesehen - eine wirklich tolle Sache! Wie habt ihr Mäuse das bloß gelernt?“
Pillana saß verdutzt da und sagte dann, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte:
 
„Das kann ich, seit ich auf der Welt bin. Ich wüßte auch gar nicht, wie ich mich sonst fortbewegen sollte.“
 
Die Katze saß da, hörte sich alles an und stellte dann fest:
 
„Nun, bis gerade eben wußte ich auch nicht, daß es Mäuse gibt, die fliegen können!
Das wäre bisher für mich undenkbar gewesen…“
 
„Ja, wie bewegen sich denn sonst die Mäuse, die du kennst, fort?“ fragte Pillana irritiert nach.
 
„Auf vier Beinen.“, kam die Antwort der Katze kurz und knapp.
 
 Pillana war nun ähnlich wie die Katze fasziniert und plapperte euphorisch:
„Das ist ja toll! Wie machen die das bloß? Das würde ich zu gern einmal sehn!“
Die Katze schaute sie an, überlegte einen Moment und nach einer Weile sagte sie dann:
„Ich kann dir ja mal eine deiner Verwandten zeigen, wenn du willst“.
Pillana besann sich kurz und meinte dann: „In Ordnung, aber vor Sonnenaufgang muß ich wieder im Kirchturm sein!“
Die Katze schaute sie noch überraschter als zuvor an und erwiderte:
„Ihr Mäuse seid schon seltsame Tiere… Also gut, dann komm mal mit“.
Pillana hob ihre Flügel und erhob sich flatternd in die Luft.
Die Katze blickte zu ihr auf und staunte ein weiteres Mal: „Einfach Toll! Na, dann flieg mir mal nach!“
Sie sprang durch das Gestrüpp, heraus aus dem Biotop und über eines der Felder, das zwischen dem Biotop und der Stadt lag. Weiter ging es durch einige Vorgärten, bis sie gemeinsam an einem kleineren Gehöft ankamen.
Die Katze wies mit ihrer Pfote auf eine der Scheunen, in denen das Stroh gelagert wurde. Dann deutete sie der Fledermaus ein Fenster an, das sich seitlich an der Scheune befand und sagte:
 
„Da mußt du hinauffliegen und dann schau mal durch das Fenster!“
 
Pillana schaute nach oben und fragte dann: „Kommst du nicht mit?“
Die Katze blickte ebenfalls nach oben und dann zurück zu Pillana und entgegnete ihr:
„Schön wär´ s, nur kann ich leider nicht fliegen!“
Da entschuldigte sich die Fledermaus, denn sie fand ihre Bemerkung etwas taktlos der Katze gegenüber. Dann flog sie zum Fenster empor, um hindurchzuschauen.
Als sie oben ankam, wischte sie mit einem ihrer Flügel den Staub von der Fensterscheibe und sah hindurch. Erst konnte sie gar nichts erkennen und überlegte schon, was ihr die Katze da erzählt hatte. Doch dann als der Mond hinter ihr ins Fenster fiel, konnte sie auf dem Scheunenboden einige Tiere ausmachen. Bei nochmaligem Hinsehen, als der Mond sich vor eine Wolke schob, sah sie auf dem Boden mehrere Dutzend Mäuse, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie liefen über den Boden, einige saßen in ihren Nestern oder bauten sich welche, während die übrigen mit Fressen beschäftigt waren.
Pillana war vollkommen hingerissen. Die Katze hatte also doch nicht gelogen, es gab tatsächlich Mäuse, die sich statt in der Luft, auf dem Boden fortbewegten. Und mehr noch: sie ernährten sich von Weizenkörnern und Früchten statt wie sie selbst von Schnaken und Mücken.
Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, einmal wie ein Hase laufen oder wie ein Fuchs durch das Gebüsch schleichen zu können.
„Das mußten mit Sicherheit die glücklichsten Mäuse der Welt sein“, dachte sie sich und drückte ihre Nase am Fenster platt.
Eine der Mäuse unten sah sie und teilte den anderen mit, daß da etwas am Fenster saß.
Dann sprang sie auf eine Holzkiste und von dort auf einen Strohballen, an dem sie emporkletterte, bis sie nach einigen weiteren erklommenen Ballen oben am Fenster ankam.
Etwas außer Atem erreichte sie endlich die Fensterscheibe und piepste:
 „Hallo, wer bist denn du?“
„Ich bin Pillana“, antwortete die Fledermaus aufgeregt von draußen.
„Ich bin Mido“, sagte die Maus. „Was treibst du denn hier am Fenster?“
„Ich sehe euch Mäusen zu. Ich finde das toll, wie ihr laufen und springen könnt und an den höchsten Dingen hochklettern!“
Mido schaute sie erst ein wenig verwundert an und fragte dann:
„Wie bist du denn hier hoch gekommen? Ich bin der beste Kletterer von uns Mäusen, aber von außen ans Fenster komme selbst ich nicht...“
Pillana schaute sie verwundert an und erwiderte dann: „Ich bin geflogen, ich bin eine Fledermaus. Das ist nichts wirklich Besonderes“.
„Interessant, wir sind Feldmäuse. Ein paar von den Spitzmäusen sind heute auch zu Besuch hier, aber keine von uns kann fliegen. Wie machst du das?“, fragte Mido.
Pillana breitete eine ihrer Schwingen aus und deutete mit dem anderen Arm darauf: „Damit“.
Mido schaute sie an und man konnte deutlich in seinen Augen lesen, daß er sich auch solche Schwingen für sich und seine Freunde und Bekannten wünschte.
Weshalb war der Fledermaus nicht klar, aber sie merkte deutlich, daß die Vierbeiner- Mäuse etwas bedrückte.
„Sei doch nicht traurig, Mido“, sagte sie „Die Katze, die unten wartet, wünscht sich auch solche Flügel und hat keine…“
Mido erschrak „Die Katze?“, stammelte er und hatte plötzlich Todesangst.
„Was hast du mit der Katze zu schaffen?“, entfuhr es ihm halb ängstlich, halb böse.
Mido rief nach unten „Die Katze ist draußen!“ und alle Mäuse fuhren zusammen.
Pillana verstand Mido und die Reaktion der Mäuse nicht.
„Was hat euch den die Katze getan?“, fragte sie.
„Sie ist der Grund, wieso wir hier in der Scheune bleiben müssen“.
„Früher haben wir auf den Feldern und in der Nähe des Teiches gelebt und haben in dem einen oder anderen Vorgarten unsere Tunnel und Nester gebaut. Dann kam die Katze. Irgendeiner der Menschen hat sie hierher gebracht und von da an waren wir unseres Lebens draußen nicht mehr sicher“.
„Sie sucht uns und frißt uns, wenn wir nicht aufpassen“.
„Sie frißt euch?!“, antwortete Pillana entsetzt.
„Mir hat sie nichts getan… im Gegenteil, sie hat mein Fliegen bewundert, wie ihr, und hätte es am liebsten selbst nachgemacht“.
„Das glaube ich, ein Glück, daß sie es nicht kann. Auch nicht, wenn sie üben würde“.
Langsam wurde Pillana klar, wieso die Katze so fasziniert von ihrem Fliegen gewesen war.
„Natürlich, wenn sie es könnte, sie würde einen Weg finden, um in diese Scheune zu gelangen. So aber waren die Mäuse vor ihr hier sicher“, dachte sie.
Mido verstand sie nun auch und ebenso seinen Wunsch nach den Schwingen für sich und die anderen Mäuse.
Sie verabschiedete sich bei Mido und flog dann zurück zum Kirchturm, denn bald würde die Sonne wieder aufgehen.
Es war ihr klar geworden, als sie wieder an ihrem Balken hing: 
Diese ganz alltägliche Sache, die das Fliegen für sie darstellte, war für die anderen der Schlüssel zu Leben oder Tod.
Deshalb war sie sehr froh eine Fledermaus zu sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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