Klaus-D. Heid

211 – die Apokalypse

So etwas geschah immer wieder. Obwohl Faber den Sitz mit der Nummer 211 reserviert hatte, saß ein Mann auf seinem Platz. Einen Augenblick überlegte Faber, ob er einfach einen der anderen freien Sitze wählen sollte – aber dann entschied er sich, auf seinem Recht zu beharren!

„Bitte entschuldigen Sie..., aber Sie sitzen auf meinem Platz. 211. Sie sitzen auf Platz 211. 211 ist mein Platz. Ich habe ihn mir extra reservieren lassen!“

Prinzipien. Diese Angelegenheit hatte nichts mit Vernunft zu tun. Bestimmte Situationen erforderten eben, dass man seinen Willen durchsetzte. Selbst, wenn alle anderen Plätze frei gewesen wären, hätte Faber darauf bestanden, dass der Mann seinen Platz zu wechseln hatte.

Der Mann rührte sich jedoch nicht.

„Hallo? Haben Sie mich nicht verstanden? Sie sitzen auf meinem Platz! 211 ist mein Platz! Ich kann Ihnen gerne die Reservierungskarte zeigen, wenn sie möchten. Hier, bitte. Da steht’s. Mein Name und die Nummer. 211. Würden sie sich nun bitte auf einen anderen Platz setzen? Es sind genügend Plätze frei, wie Sie sehen können!“

Nichts. Keine Reaktion. Faber versuchte, bei den anderen Menschen auf den Sitzen Zustimmung für sein Anliegen zu finden. Hilflos blickte er in die Gesichter der Leute, um sich moralische Unterstützung einzuholen. Es konnte doch nicht angehen, dass hier einfach jemand seinen Platz belegte – und sich noch nicht einmal ansprechen ließ.

Bevor Faber seinen flehentlichen Blick verteilen konnte, verlosch das Licht im Kinosaal. Faber stand noch immer. Der Mann auf Platz 211 blieb unbeweglich sitzen. Mit nun etwas gedämpfter Stimme wagte Faber einen letztes Mal, den Mann anzusprechen.

„Sie haben nicht das Recht, hier zu sitzen! Ich könnte mich über Sie beschweren, verstehen Sie? Ich könnte sogar dafür sorgen, dass sie das Kino verlassen müssen. Man wird sicher Verständnis für mich haben, wenn ich auf meinem reservierten Platz sitzen möchte. Zum letzten Mal bitte ich sie nun, sich einen anderen Platz zu suchen!“

Jeden Moment würden sich die Leute, denen Faber die Sicht nahm, beschweren, weil er sich nicht auf einen anderen Platz setzen wollte. Einfach unglaublich! Der Mann dachte gar nicht daran, Faber wenigstens anzusehen. Stur sah er auf die Leinwand, auf der in diesem Moment der eigentliche Film zu laufen begann.

Konfrontation? Machte es Sinn, einen Aufstand vom Zaum zu reißen, nur weil dieser Sturkopf nicht nachgeben wollte? Faber überlegte sich, dass es wahrscheinlich besser war, wenn er, als der Klügere von beiden, nachgab.

„Bleiben Sie also sitzen! Mir ist nämlich der Film wichtiger, als ein bescheuerter Streit mit Ihnen! Aber lassen Sie es sich gesagt sein, dass ich beim nächsten Mal nicht so nachgiebig sein werde!“

Natürlich folgte auch auf diesen Satz keine Reaktion des Mannes, der weiterhin unverwandt Richtung Leinwand starrte. Faber schluckte seinen Zorn hinunter und setzte sich auf den freien Platz neben diesem seltsam schweigenden Mann.

‚Tompilo’ hieß der Film.

Ein lustiger Film, in dem es um irgendwelche Verwechslungen zwischen Männern und Frauen und vertauschten Kindern ging. Ein typischer Film, bei dem das Publikum normalerweise laut lachte, reichlich mit Gummibärchentüten knisterte und Unmengen von Popcorn durch die Luft fliegen ließ. Bei solchen Filmen wurde wenig geknutscht, aber dafür umso mehr gekichert und gegrölt.

Faber dachte an einen Film, den er vor unendlich vielen Jahren mit seiner Frau im Kino gesehen hatte. Auch in diesem Film ging es um einen Mann, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden konnte. Er versuchte in einem irrwitzigen Spiel von Verkleidungen beiden Frauen ein guter Liebhaber zu sein. Faber erinnerte sich, wie ihm seine Frau damals ins Ohr geflüstert hatte, dass er ja niemals auf die gleiche Idee kommen solle.

„Irgendwann würdest Du Dich ja doch im Schlaf verraten, Schatz!“ neckte sie ihn, während sie zärtlich seinen Oberschenkel streichelte.

Er erinnerte sich auch daran, wie unruhig es damals im Kino war. Die Pärchen flüsterten, kicherten und schäkerten miteinander, es wurden Colaflaschen umgestoßen und ständig flog einem Popcorn ins Genick. Einige Zuschauer hielt es vor Lachen kaum noch auf den Plätzen und andere waren so aufgedreht, dass sie ununterbrochen pfiffen und klatschten.

Obwohl bereits die ersten lustigen Szenen zu sehen waren, klatschte und raschelte niemand. Faber hörte auch nicht, dass geflüstert wurde. Es kippten keine Flaschen um. Es waren überhaupt keine Geräusche zu hören! Wirklich überhaupt keine!

Verunsichert sah er sich um. Es mussten mindestens fünfzig Leute im Kino sein. Fünfzig Leute, die man nicht atmen oder flüstern hörte. Durch das bisschen Licht, dass der Filmprojektor anstrahlte und das die Leinwand reflektierte, versuchte Faber, die Gesichter der Kinobesucher zu erkennen. Ein paar Plätze weiter links von ihm saß ein junges Pärchen. Faber dachte daran, wie er sich geärgert hatte, dass die beiden sich nicht gerührt hatten, um ihn vorbeizulassen. Genau in der gleichen Position wie vorhin saßen sie noch immer. Leblos. Wie aus Stein gehauen. Faber drehte sich um. Er sah in tote, ausdrucklose Gesichter. Er sah händchenhaltende Paare, allein sitzende Männer und Frauen – und er sah ein paar Kinder neben ihren Müttern und Vätern sitzen.

Er sah in tote Augen, die ohne jedes Leben zur Leinwand gerichtet waren.

„Gott im Himmel! Das gibt’s doch nicht...“

Natürlich hatte der Mann den Platz nicht räumen können. Er war tot! Mausetot! Tote bleiben nun mal sitzen, wenn man Sie aufforderte, zu gehen.

Faber versuchte, nicht den Verstand zu verlieren. Es konnte immer mal passieren, dass ein Mann in einem Kino einen Herzanfall erlitt und starb. Statistisch gesehen konnte es sogar zwei Kinobesuchern gleichzeitig geschehen, dass sie an irgendeinem Leiden starben. Zeitgleich! Aber es war unmöglich, undenkbar und unbegreiflich, dass alle Besucher eines Kinofilms zur gleichen Zeit – weiß der Teufel, warum – das Zeitliche segneten! Das gab es nicht. Das konnte es nicht geben!

Das durfte es nicht geben...

Ganz langsam erhob sich Faber von seinem Platz.

‚Tompilo’ lief fröhlich weiter. Auf der Leinwand lachten und scherzten die Darsteller. Nur der Film lebte. In ihm bewegten sich die Menschen, während Faber von erstarrten Leichen umgeben war.

Sie waren doch wirklich alle tot, oder?

Er musste Gewissheit haben.

Niemand beschwerte sich, als Faber durch sein Aufstehen den Projektorstrahl unterbrach. Er sah nun seinen eigenen Schatten, der sich mit den bunten Figuren des Films vermischte. Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Er wollte zumindest ein winziges Räuspern hören, dass ihm seine Angst vor dem Unglaublichen genommen hätte.

Absolute Stille im Kinosaal.

Faber näherte sich dem Mann auf Platz 211. Er stieß ihn leicht mit der Hand an, in der Hoffnung, dass der Mann sich zornig darüber aufregte. Aber statt sich zu beschweren, kippte der Mann in dem Moment nach rechts, als Faber ihn berührte. Der Mann fiel wie ein nasser Sack von seinem Kinostuhl. Wenn jemand tot war, richtig tot war, dann war es dieser Mann auf Platz 211. Und wahrscheinlich waren ebenfalls alle anderen Kinobesucher tot.

Alle, außer Faber.

Ernst Faber, der mit seinen dreiundsiebzig Jahren eine Menge erlebt hatte und der den Tod als normale Konsequenz des Lebens betrachtete, sah sich einer Situation gegenüber, die er nicht verstand. Wenn Menschen zu Tausenden in Kriegen oder Hungersnöten starben, war das grausam, aber irgendwie ein Teil unserer Welt. Wenn Flugzeuge abstürzten, Autos zusammenstießen oder Züge entgleisten, war das eine furchtbare Realität der technisierten Zeit. Aber wenn plötzlich alle Besucher eines Kinofilms tot auf ihren Sitzen saßen, gab es dafür keine Erklärung. Es herrschte schließlich kein Kriegszustand. Niemand würde auf die Idee kommen, mit Giftgas die Zuschauer eines lustigen Films umzubringen. Warum auch?

Faber folgte mit seinem Blick dem Lichtstrahl des Projektors. Was war mit dem Filmvorführer? Er musste doch registriert haben, dass niemand im Kinosaal sich bewegte? War auch der Filmvorführer tot?

„Was ist hier passiert...?“ schrie Faber laut, als gälte es, die Toten zum Leben zu erwecken.

In panischer Hast zwängte sich Faber durch die Sitzreihen. Er berührte tote Körper, stieß immer wieder die Körper an, um vielleicht doch noch Leben in ihnen zu finden; er rüttelte die Männer und Frauen, bis auch sie, wie der Mann auf 211, von ihren Sitzen kippten. Erst, als Faber sich ganz sicher war, dass er es nicht mit betäubten Menschen zu tun hatte, manifestierte sich das ganze Grauen der Situation in seinem Kopf. Als er wirklich begriff, dass er als einzigster Lebender inmitten von Toten stand, verwandelte sich seine panische Hast in Todesangst. Hemmungslos heulte er auf, schrie nach dem ‚Warum’ und bahnte sich einen Weg zum Ausgang.

Unbeeindruckt von Faber und von den Toten, lief der Film mit gutgelaunten Schauspielern wie eine zweite Realität weiter. Die Hintergrundmusik des Films setzte ihre fröhlichen Rhythmen fort, während Faber feststellen musste, dass die Ausgangstür verschlossen war...

Er schlug wie ein Wahnsinniger auf die Tür ein.

Er schrie um Hilfe, trat mit aller Kraft gegen die robuste Holztür und bettelte darum, den Schauplatz des unbegreiflichen Horrors verlassen zu dürfen. Faber warf sich immer wieder verzweifelt gegen die Tür, die allerdings allen Anstrengungen trotzte und nicht daran dachte, nachzugeben.

„Ich will hier raus! Hört mich denn niemand? Hilfe! Hiiiilfe!“

Eine absurde, surreale Situation.

Erschöpft und vollkommen ratlos, sank Faber an der Tür zu Boden. Erst füllten nur wenige Tränen seine Augen, bevor sich dann alle Verzweifelung und Angst in wahren Strömen aus ihnen ergoss. Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen – sie alle waren tot. Nur Faber, der alte, dreiundsiebzigjährige Faber, lebte noch.

Dass irgendwann der Abspann des Films auf der Leinwand zu sehen war, nahm Faber nicht wahr. Nur noch ein weißes, inhaltloses Flackern durchbrach die Dunkelheit und warf groteske Lichtschatten auf die Gesichter der Toten.

Wie hätte Faber ahnen sollen, dass er der letzte lebende Mensch war, dem ein unbekannter Gott des Schreckens noch einige Minuten der Wahrnehmung geschenkt hatte? Die Aufregung und die Unfähigkeit des Begreifens waren schließlich das Signal für Fabers Herz, das Leben erhaltende Pumpen des Blutes einzustellen.

Bevor er das Ende der Welt durch seinen Tod vervollständigte, hauchte er im Wahnsinn der Erkenntnis immer wieder die Worte:

„Das ist mein Platz. 211. Ich habe reserviert...“

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