Diethelm Reiner Kaminski

Fräulein Allwissend





Nie hatte jemand Britta in den dreizehn Jahren ihrer Schulzeit lernen oder gar büffeln sehen, nicht ihre Eltern und schon gar nicht ihre Klassenkameraden. Sie lernte nicht lesen. Sie konnte lesen. Sie lernte nicht rechnen. Sie konnte rechnen. Sie lernte nicht Klavier spielen. Sie setzte sich ans Klavier und spielte alles, was man ihr an Noten vorlegte, ob nun Etüden von Chopin oder Nocturnes von John Field, in höchster musikalischer Perfektion. Eltern und Lehrer standen vor einem Rätsel und versuchten das Geheimnis dieser Allwissenheit zu lüften, aber so sehr sie auch in Britta drangen – sie wusste es ja selber nicht. Kaum hatte ein Lehrer eine Frage gestellt, z. B. ‚Wie heißt die Hauptstadt von Bangladesch? Wie ist die chemische Verbindung von Kohlenwasserstoff? Wie lange regierte Heinrich VIII? Was versteht man unter Surrealismus? Welches sind die wichtigsten Werke des deutschen Naturalismus? Können Kakerlaken fliegen?‘ war die Antwort auch schon in Brittas Kopf, wie wenn ein kleines Männchen in ihrem Ohr säße und ihr die Antworten einflüsterte. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob der Stoff im Unterricht behandelt worden war oder nicht. Britta saß meistens gelangweilt in der Klasse, träumte vor sich hin, meldete sich auch nie, um sich nicht noch mehr in den Mittelpunkt zu stellen, als das ohne ihr Zutun ohnehin der Fall war. Sie galt als lebendes Universallexikon. Wenn eine Frage von niemandem, oft nicht einmal vom jeweiligen Fachlehrer beantwortet werden konnte – Britta enttäuschte nie. Präzise gab sie Auskunft, als läse sie von einem unsichtbaren Blue Screen ab. Bücher besaß sie nicht. Wozu auch? Was hätte sie aus denen wohl lernen sollen? Hausaufgaben brauchte sie nicht zu machen. In stillschweigendem Einvernehmen hatten ihre Lehrer sie von solchen unnützen Belastungen befreit.
Ihre Eltern hätten reich mit ihrem Fräulein Allwissend, wie Britta bald allgemein genannt wurde, werden können, denn sie hätte in jedem Fernsehquiz, ohne mit der Wimper zu zucken, die Hauptgewinne abräumen können. Aber das ließen die Eltern nicht zu, die ohnehin in ständiger Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter und deren weitere Zukunft waren. Sie bemühten sich vielmehr, die langsam immer hellhöriger werdende Sensationspresse von Britta fernzuhalten.
Indes wurde Britta nicht von ihrem gigantischen Wissen gequält – das nahm sie hin wie die selbstverständlichste Sache von der Welt und bildete sich nicht groß was drauf ein. Bereitwillig ließ sie, wer immer sie darum bat, an diesem Universalwissen teilhaben. Was Britta Sorgen bereitete, auch wenn sie mit niemandem darüber sprach, war die Beobachtung, dass es eine gefährliche Lücke gab.
Das zeigte sich erstmals, als Jennifer, die Britta gut leiden konnte, in der dritten Klasse unvermittelt fragte: „Möchtest du meine Freundin werden?“, und Britta wie gelähmt schwieg und kein einziges Wort hervorbrachte. „Dann eben nicht“, sagte Jennifer, zog beleidigt ab und sprach kein Wort mehr mit Britta.
Ähnliche Beispiele wiederholten sich. Als Carsten, ihr erster Schwarm, es muss in der siebenten Klasse gewesen sein, endlich Mut fasste und fragte: „ Möchtest du mit mir ins Kino gehen? Ein toller Film mit Michael Douglas“, schwieg Britta wiederum, obwohl sie am liebsten gejubelt hätte. „Wer nicht will, der hat schon“, sagte Carsten und versuchte es danach nie wieder, weil er Britta für eine eingebildete Gans hielt.
Diese Unfähigkeit, sich in wichtigen Augenblicken ihres Lebens zu äußern oder zu entscheiden, stellte ihr beharrlich ein Bein, beruflich wie privat. Ihre Chefs, begeistert von ihrem unermesslichen Wissen, boten ihr regelmäßig Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten und die interessantesten Projekte an, aber ihr hartnäckiges Schweigen konnten sie nicht anders als hochmütiges Desinteresse deuten, und so kam Britta – trotz ihrer phänomenalen Begabung – keinen Schritt voran. Sie galt als schwierig und wunderlich.
In einem Märchen taucht an dieser Stelle bekanntlich ein hutzeliges Männchen oder der Teufel höchstpersönlich oder wenigstens eine gütige Fee auf und bietet folgende Alternativen an: Allwissenheit, aber dafür eine kranke Seele. Oder Heilung der Seele, dann aber unter Verzicht auf die Allwissenheit.
Da wir uns aber nicht in einem Märchen befinden, sondern in Köln im Jahre 2010, bleibt Britta, die höchst unglücklich ist, weil sie mal wieder einen jungen Mann, in den sie sich gerade unsterblich verliebt hat, durch ihr blödsinniges Verstummen vergrault hat, nichts anderes übrig, als den besten Psychotherapeuten der Stadt aufzusuchen und zu hoffen, dass er sie von ihrem Leiden befreit. Da aber selbst diesem trotz seiner langjährigen Berufserfahrung ein solch merkwürdiger Fall noch nicht vorgekommen ist, muss sich Britta – und wir uns mit ihr – auf eine langwierige Behandlung gefasst machen und uns  im ungünstigsten Fall sogar bis 2014 gedulden. Zeit genug für euch, den enormen Wissensvorsprung den Britta euch voraushat, ein kleines Stück abzubauen. Verlernt über dem Büffeln jedoch nicht, zur rechten Zeit das Richtige zu sagen. Denn das bringt euch, wie ihr an Brittas Beispiel gesehen habt, weiter im Leben als totes Wissen, und mag es auch noch so umfassend sein.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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