Diethelm Reiner Kaminski

Meine Freundin Emily

Luisa führt beständig ihre Freundin Emily im Munde. Emily hier, Emily da. Emily hat dies gesagt, Emily hat das geschrieben. Nicht zum Aushalten. Mitunter geht Luisa uns gewaltig auf den Geist. Was hat ihre Freundin uns denn wohl voraus? Dass sie Gedichte schreibt? Das könnten wir auch. Wenn wir wollten. Aber wenn wir´s täten, würden wir uns nicht so damit brüsten wie Luisa mit dieser Emily. Wir bilden uns ein, eng mit Luisa befreundet zu sein, doch uns zitiert sie nie. Ganz anders bei dieser Emily. Luisa scheint ihr total verfallen zu sein, sonst würde sie nicht jede Äußerung, die diese Frau irgendwann mal von sich gegeben hat, auswendig wissen und bei passender oder unpassender Gelegenheit wiederkäuen. Auch wenn wir vielleicht nicht viel von Poesie verstehen, kommt uns diese Emily doch reichlich zurückgeblieben vor mit ihrer altmodischen Sprache. Gehen wir im Herbst spazieren, tönt es garantiert aus Luisas Mund 'Der Schmuck in den Alleen  und oh, der Farben Fest, wenn Wind im Brunnen wellt und wühlt und Scharlach regnen lässt.'
Wir spötteln schon: „Na, hat deine Busenfreundin Emily wieder was für die Ewigkeit gedichtet…?“
Auf die schlichte Frage: „Hi, Luisa, wie geht´s dir heute?“, entgegnet sie:
Im Haus bemerkte man mich nicht, der kleinste Raum war mein; Geranienstöckchen, Buch und Licht , so saß ich nachts allein.“
Oder Luisa verabschiedet  sich nach einer durchfeierten Nacht theatralisch lallend: „Die Nacht zog früher ein, fremd sah der Morgen aus – das bittersüße Höflichsein  des Gasts, den zieht´s nach Haus.“
Wohin geht Luisa anschließend? Zu ihrer Emily? Haben sie gar ein lesbisches Verhältnis? Warum sonst hält sie sie vor uns versteckt, obwohl wir ihr schon oft gesagt haben: „Bring sie doch mal mit. Stell uns deine Freundin Emily doch endlich einmal vor.“
Und sie: „Das geht leider nicht.“
Oder „Das tue ich doch schon die ganze Zeit.“
Das einzige, was wir aus Luisa rausquetschen können, ist, dass Emily Amerikanerin ist und kein Deutsch spricht, und dass Luisa deshalb ihre Gedichte übersetzt.
„Aber deine Freunde sollten doch auch unsere Freunde sein.“
Darauf Luisa: „My best acquaintances are those with whom I spoke no word“, und fügt auch gleich ihre Übersetzung an: „Die besten Freunde nenn´ ich die, mit denen ich nie sprach.“
Als Luisa uns wieder einmal besucht, machen wir uns, während sie im Bad ist, über ihre Handtasche her. Vielleicht finden wir ja Emilys Adresse oder Telefonnummer, um Luisas heimliche Liebe endlich zu enttarnen. Grit zieht einen schmalen grauen Leinenband aus der Tasche: ‚Emily Dickinson (1830 – 1886) Letters and Poetry'.

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