Diethelm Reiner Kaminski

Flugversuche





Gut kann ich mich an den Tag erinnern. Nur zu gut. Nicht so sehr an den Tag des Erwerbs, sondern an den Tag der Entdeckung. Als meine Frau den alten Lumpen auf dem Basar nach langem Feilschen erhandelte, war ich erbost und schalt sie wegen der unnützen Ausgabe, denn in unserem Haus gibt es Kelims und Teppiche zuhauf, und bei Allah, jeder Einzelne von ihnen schien hundertmal wertvoller zu sein als dieser verstaubte Lappen. Weil Fatima durch ihren leichtsinnigen Kauf keinen Dinar mehr in der Tasche und ich mein Geld absichtlich zu Hause gelassen hatte, um allen Verlockungen des Basars zu widerstehen, mussten wir, statt eine Pferdedroschke zu mieten, den weiten Weg zu Fuß zurücklaufen, was Anlass zu neuerlichem Streit gab. Fatima versuchte mich zu besänftigen, breitete den Teppich auf einem von der Sommersonne vertrockneten Rasenstück aus und sagte: „Lass uns ausruhen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
Was soll ich sagen, kaum hatten wir auf dem Teppich, der größer war, als er zusammengerollt schien, Platz genommen, da rüttelte und schüttelte es unter unseren halb ausgestreckten Körpern, und ohne dass wir noch hätten abspringen können, erhob sich der Teppich, eine Staubwolke hinter sich lassend, in die Luft.
„Ein fliegender Teppich“, schrie Fatima. „Als ob ich es geahnt hätte. Wir haben einen Glückstag. Jetzt sind wir gemachte Leute.“
Der Teppich machte, wohl infolge eines Luftlochs, einen jähen Hüpfer und schleuderte uns zu Boden.
„Festhalten“, schrie Fatima und krallte ihre Hände in die langen Fransen des Teppichs. Das hätte sie besser nicht tun sollen, denn der Teppich beschleunigte in derselben Sekunde. Und nicht nur das. Er gewann auch zunehmend an Höhe. Schon lag die Stadt mit ihren prächtigen Palästen und Moscheen weit unter uns und schien immer winziger zu werden.
„Und wie kommen wir wieder runter?“, fragte ich ängstlich.
„Irgendwie“, sagte Fatima. „Wir sind ja auch raufgekommen. Was vorwärtsgeht, geht immer auch rückwärts. Wir müssen es nur herausfinden. Reg dich nicht auf. Denk an dein schwaches Herz. Nun genieß doch erst mal die fantastische Aussicht und die grenzenlose Freiheit der Lüfte. Leg dich hin, mach es dir bequem.“
„Ich habe Hunger“, maulte ich. „Und Durst. Die Luft hier oben ist so verdammt trocken.“
„Reiß dich zusammen“, sagte Fatima. „Du wirst doch wohl mal ein paar Stunden ohne Essen und Trinken auskommen können. So einen herrlichen Rundflug hätten wir uns ohne den Teppich niemals leisten können. Schau runter. Was für ein unvergessliches Erlebnis.“
„Mir wird gleich schlecht“, sagte ich. Um meinen Worten mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen und meine Frau zu einer raschen Landung zu bewegen, ließ ich meinen Oberkörper nach hinten fallen und streckte Arme und Beine von mir. Meine heftige Bewegung löste einen senkrechten Sturzflug aus, der uns zu Tode erschreckte. Mit dieser Geschwindigkeit zu landen, hätte den sicheren Tod bedeutet.
„Zieh an den Fransen“, schrie ich, „zieh an den Fransen.“
Der Teppich bremste ab und zog in einer eleganten Kurve über die Dattelpalmenhaine hinweg, die wie ein grüner Ring unsere Hauptstadt umgeben.
„Das wäre um ein Haar schief gegangen“, seufzte Fatima. „Nun nimm dich aber zusammen, wir müssen den Teppich vorsichtig und systematisch untersuchen, um nach und nach seine Funktionen kennenzulernen. Jedes Flugzeug hat Landeklappen. Warum nicht auch ein Teppich. Lass mich nur machen.“
Sie hob das eine Ende des Teppichs behutsam an, und schon glitt er in einem sanften Senkflug abwärts.
„Wo willst du hin?“, rief ich. „Wir landen mitten in der Wüste. Frauen haben aber auch nicht den geringsten Orientierungssinn.“
„Und du keinen Schimmer von Luftteppichtechnik. Du musst steuern. Ich kann schließlich nicht alles alleine machen“, schimpfte Fatima zurück.
„Und wie?“, rief ich hilflos.             
„Zieh vorsichtig an dem Teppichzipfel rechts von dir. Mach schon. Wir kommen sonst zu weit ab“, rief Fatima.
Ich tat es, und siehe da, der Teppich drehte und flog in die entgegensetzte Richtung zurück stadteinwärts.
„Sieh doch“, schrie Fatima, „da unten, unser Garten, unser Haus. Hier müssen wir landen. Überlass das ganz mir, damit nicht wieder alles schief geht. Beweg dich nicht, bleib ganz ruhig, und schließ die Augen, damit dir nicht wieder schlecht wird.“
Fatima landete so sacht und punktgenau in unserem Innenhof, dass ich fast ein bisschen stolz auf sie gewesen wäre. Aber das laut zu sagen, verkniff ich mir. Frauen dürfen nicht übermütig werden, sonst vergessen sie, welchen Platz Allah ihnen in der Weltordnung zugestanden hat. Fatima neigte ohnehin dazu, Allahs Gebote zu missachten. Das durfte ich nicht zulassen. Der Teppich musste weg, bevor er unsere Familienharmonie zerstörte. Ich wollte ihn vergraben. Oder besser noch: verbrennen. Wenn sie fragte, wo er geblieben sei, wollte ich sagen: „Was weiß ich, jemand wird ihn gestohlen haben.“
Doch dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr, denn am nächsten Morgen war Fatima fort. Davongeflogen. Und auch unser Nachbar Abdullah, dieser hinterhältige Bastard, dem ich noch nie über den Weg getraut hatte, war seitdem wie vom Erdboden verschluckt.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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