Diethelm Reiner Kaminski

Langzeitwirkung


Was ist das für eine Melodie, die du die ganze Zeit summst?“, fragte Mira ihren Freund Helge, mit dem sie am Seeufer spazieren ging. Pepino, ein undefinierbares Hundewollknäuel, lief ihnen ständig kläffend zwischen den Füßen umher.
„ Gefällt sie dir?“, fragte Mirko.
„Ein deutsches Volkslied?“, fragte Mira weiter.
„Nein, ein altes Chanson, ich glaube, es war schon in den 20er Jahren sehr populär. Otto Reutter hat es gesungen“, gab Helge Auskunft.
„Otto Reutter. Was´n das fürn Grufti? Nie gehört. Muss man den kennen?“
„Muss man nicht, aber mir gefallen seine Lieder, vor allem die Texte“, verteidigte Helge seinen längst verstorbenen Lieblingssänger.
„Und wie heißt das Lied, das du da gesummt hast?“, war Mira nun doch neugierig geworden.
„Es ist nichts Halbes und es ist nichts Ganzes“, sagte Helge.
„Und was hast du dir dabei gedacht?“, fragte Mira.
„Was soll ich mir dabei gedacht haben? Gar nichts. Mir kam die Melodie in den Kopf, und da habe ich sie gesungen, nichts weiter“, verteidigte sich Helge.
„Und das soll ich dir glauben? Du hast doch immer Hintergedanken. Gib zu, woran hast du bei dem Lied gedacht?!“, verlangte Mira.
„An nichts, ehrlich. Allerdings …“.
„Was heißt allerdings?“, insistierte Mira.
„Dieses Lied passt auf vieles …“
Mira war nun hellwach. Sie befürchtete einen Angriff auf ihre Person. So gefestigt war die Beziehung zwischen Helge und ihr noch nicht. Deshalb war sie auf der Hut, klopfte seine Äußerungen auf unterschwellige Anspielungen und Zwischentöne und sein Verhalten auf versteckte Absichten hin ab.
„Zum Beispiel?“, fragte Mira leicht gereizt.
„Zum Beispiel auf Pepino. Da gibt es in dem Lied eine Strophe, in der heißt es:
 

Für Rassenhunde schwärm ich sehr,
ihr Stammbaum zeigt genau: Woher?
Bei andern ist das nicht der Fall,
die hab´n ihr´n Stammbaum überall.
Zu welcher Gattung zählen die?
Promenadenmischung nennt man sie.
 
„Komm her, mein armer Pepino“, rief Mira, „komm zu Frauchen auf den Arm, lass dich streicheln“, und zu Helge gewandt: „Also daher weht der Wind. Jetzt kommt es raus. Dann war deine angebliche Liebe zu Pepino nichts als Heuchelei. In Wahrheit kannst du Pepino nicht leiden. Gib es zu. Aber das sage ich dir, Pepino ist ein Stück von mir. Wer Pepino nicht mag, den kann auch ich nicht leiden.“
„So war das doch nicht gemeint“, versuchte Helge gut Wetter zu machen. „Ich wollte doch nur ein Beispiel geben, worauf Otto Reutter sein ‚Es ist nichts Halbes und es ist nichts Ganzes‘ bezieht. Er bezieht es ja nicht nur auf Hunde, sondern z. B. auch auf Wissenschaftler und Frauen. In einer anderen Strophe heißt es etwa:
 

Es ließ ein junges Mägdelein
sich viel zu tief mit Männern ein.
Erst nahm der Ernst von ihr Besitz,
dann kam der Franz, dann kam der Fritz.
Dann kam Herr Schmidt, dann kam Herr Kraus
und schließlich kam der Storch ins Haus.
 
„Jetzt reicht es mir aber“, rief Mira wütend aus. „Willst du mir unterstellen, dass ich neben dir noch andere Beziehungen zu Männern unterhalte? Ich kenne überhaupt keinen Franz oder Fritz, und die Herren Schmidt und Kraus schon gar nicht. Was für altmodische Namen überhaupt. Noch schlimmer als Helge. Jetzt will ich dir mal was sagen, du halber Hahn. Ich habe lange über dich und uns nachgedacht, aber jetzt ist es mir klar geworden. Du bist auch nichts Halbes und nichts Ganzes. Und unsere Beziehung erst recht nicht. Du bist eine einzige Enttäuschung. Zeit, dass wir uns trennen, bevor die letzte Zeile deines Liedes wahr wird und was nichts Halbes und nichts Ganzes in die Welt gesetzt wird.“

Anmerkung: Otto Reutter (1871 - 1931) war ein gefeierter Chansonsänger im Berlin der 20er Jahre.
 

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