Diethelm Reiner Kaminski

Der neue Mensch



Die Vorstellung des neuen Menschen war lange in der hiesigen Presse angekündigt worden. Da musste ich hin. Die Präsentation sollte heute Mittag feierlich im Wissenschaftszentrum erfolgen. Noch nicht der echte neue Mensch, sondern vorerst nur das Modell. Das ausgereifte Modell, wie ausdrücklich betont wurde. Die Umsetzung in die Realität sei dann Sache der Chirurgen. Letztlich bloße Routine. Und noch eine Einschränkung. Man wolle die Menschen nicht überfordern, deshalb habe man sich im ersten Schritt auf den Kopf konzentriert, die Umgestaltung der übrigen Körperteile würde dann peu á peu erfolgen.
Der Andrang war groß. Die ganze Stadt war gespannt auf den neuen Menschen. Selbst aus anderen Städten waren Besucher angereist, während die Nachbarländer sich zurückhielten. Neid? Zweifel? Misstrauen? Ich denke, sie wollten abwarten, um sich nicht vorwerfen zu lassen, auf einen Schwindel hereingefallen zu sein.
Professor Krautwickel hielt eine mit Fremdwörtern gespickte Eröffnungsrede, die wegen des Andrangs sogar ins Foyer und in die Kantine übertragen wurde. Soweit ich mitkriegte, worauf er hinauswollte, war das Ziel seiner jahrzehntelangen Forschung die kompromisslose Anpassung des Menschen an die Bedürfnisse unserer modernen Leistungsgesellschaft.
„Wir müssen endlich den Mut finden, alles über Bord zu werfen, was sich als unpraktisch und hinderlich erwiesen hat, müssen uns trennen von lieb gewonnenen, aber nutzlosen romantischen Vorstellungen, um uns auf den Kern unseres Menschseins zu konzentrieren. Und das ist die reine Funktionalität.“
Mit diesen Worten riss er mit theatralischer Gebärde das Tuch von der Puppe, die hinter ihm auf einem Podest aufgestellt war. Vom Hals an abwärts war die Puppe verhüllt. Aus dem Kleiderbündel ragte rosig ein Kopf hervor. Er erschien in riesiger Vergrößerung gleichzeitig auf drei Monitoren unter der Decke der Halle. Einer an der Stirnseite und je einer auf der linken und rechten Seite. Der Kopf glich einem Ei. Vollkommen nackt. Keine Haare, keine Nase, keine Ohren, keine Lippen. Nur sechs Öffnungen in der glatten rosigen Fläche. Die Kamera fuhr um den Kopf herum, damit er von allen Seiten eingesehen werden konnte.
Ein Raunen ging durch die Menge, vereinzelt war ein leises Kichern zu hören. Aber den meisten hatte die Enthüllung die Sprache verschlagen.
Professor Krautwickel ließ den ungewohnten Anblick mehrere Minuten auf die Anwesenden wirken, bevor er wieder das Wort ergriff.
„Gewöhnungsbedürftig, ich weiß. Wie alles Revolutionäre. Wie ich schon sagte: Ein radikales Umdenken wird erforderlich sein, bevor sich das neue Menschenbild durchsetzt. Drei Hauptziele haben wir Wissenschaftler uns bei der Schaffung des neuen Menschen gesetzt: Sauberkeit, Gleichheit und Sicherheit.
Ohne Haare wird die Körperhygiene viel leichter zu verwirklichen sein. Schluss mit teuren umweltschädlichen Shampoos und Deos. Ein feuchtes Tuch, mehr wird in Zukunft nicht gebraucht.
Die Gleichheit der Geschlechter – in meinem Modell vorbildlich verwirklicht. Nur an der Stimme erkennen Sie zukünftig noch Mann oder Frau. Das reicht für die gegenseitige Geschlechtererkennung.
Am wichtigsten aber ist der Aspekt der Sicherheit und Gesundheit. Alle wichtigen Sinnesorgane sind nach innen verlegt. Damit sind sie nicht mehr den tausendfachen Gefährdungen von Verletzungen und schädlichen Einflüssen von Klima und Wetter ausgesetzt.
Ich höre schon Ihre Einwände: Und wo bleibt die Ästhetik? Alles eine Frage der Zeit. Die Menschen werden sich gewöhnen an das neue Menschenbild. Sie werden sich, da bin ich mir sicher, auch weiterhin verlieben und das Ebenmaß des neuen Kopfes preisen. Denn bewusst lassen wir kleine Unterschiede zu: Größe des Kopfes und der Funktionsöffnungen werden variieren, so dass sich von ganz allein ein neues Schönheitsideal herausbilden wird.“
Neben mir stand eine junge Mutter mit üppiger brauner Haarpracht. Sie hatte ihren schätzungsweise fünfjährigen Sohn auf den Arm genommen, damit er besser sehen konnte. Sie versuchte, ihren Sohn zu besänftigen, der weinerlich maulte: „Mein Mondgesicht. Der Mann hat mein Mondgesicht geklaut. Punkt, Punkt, Komma, Strich. Das ist mein Mondgesicht. Darf der Mann das? Sag ihm, dass das mein Mondgesicht ist.“
„Das finde ich auch nicht nett“, mischte ich mich ein, um die Aufmerksamkeit der hübschen Mutter zu erringen. „Hast du verstanden, was der Mann gesagt hat? Er will aus deiner Mutter auch ein solches Mondgesicht machen. Ohne Haare, ohne Nase, ohne Ohren und Mund. Möchtest du das?“
Der Junge schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Dann lassen Sie uns ganz schnell von hier verschwinden“, wandte ich mich an die Mutter, „darf ich Sie mit Ihrem Jungen zu einem Eis einladen?“
Die Mutter schaute mich verständnislos an. „Wir werden hier Zeugen einer epochalen Umwälzung, und Sie haben nichts anderes in Ihrem veralteten Schädel, als an so banale Dinge wie Eis zu denken. Mit Fortschrittsfeinden wie Ihnen möchte ich nichts zu tun haben. Und nun lassen Sie uns zufrieden.“
Ich drängelte mich aus dem überfüllten Saal. Geschockt und frustriert. Der Fortschritt war nicht aufzuhalten.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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