Vergessen liegt sie da, dunkel und still. Nichts rührt sich, kein Blick fällt auf die offene, alles verbergende Wasseroberfläche. Nur hier und da schwimmt noch eine Ente, springt noch ein Frosch und wenn es regnet, malen große und kleine Regentropfen einander überschneidende Kreise auf die silberschwarze Wasseroberfläche. Nur wenige Leute benutzen zu dieser Zeit des Jahres noch den Uferweg, doch ich radelte ihn jeden Abend auf dem Heimweg entlang. Oft hielt ich an, um die stille, einsame Dunkelheit abseits des hektischen Betriebs der Stadt zu genießen.
Eines Abends stand ich gedankenverloren an der Lahn. Sie kam mir tief und unergründlich vor, als läge eine andere Welt unter ihrer unbewegten, spiegelnden Oberfläche. Die Sterne funkelten klar vom Himmel, der Halbmond hing niedrig über den Hügeln hinter mir. Ich glaubte mich allein, als eine Gestalt im Schatten am anderen Ufer meine Aufmerksamkeit erregte. Unbewegt wie der Fluß stand sie mir ge-genüber, hinter ihr sah ich die vagen Umrisse eines Fahrrads. Sie wirkte fast wie ein Spiegelbild, als verkörpere sie den einzigen Menschen, mit dem mich etwas verband. Fasziniert starrte ich hinüber und hob, ohne den Blick abzuwenden, die Hand zum Gruß. Ich glaubte, sie erwiederte den Gruß, doch genau konnte ich es nicht ausmachen.
Ich wollte mich schon abwenden, als die Gestalt aus dem Schatten trat.
Der Mond schien ihr nun gerade ins Gesicht. Sie sah aus wie ich. Es stimmte
alles, von den zerzausten Haaren bis zu meiner braunen Wachsjacke, nur
war sie wachsbleich. Das erste, was mir einfiel, als ich wieder denken
konnte war: „Da drüben gibt’s doch gar keinen Weg".
Die Gestalt trat zurück in den Schatten und verschmolz fast völlig
darin. Undeutlich machte ich schnelle, sparsame Bewegungen aus, dann schritt
sie wieder vor. Völlig nackt leuchtete sie nun silberweiß im
Mondlicht.
Sie blieb nicht am Ufer stehen, sondern ging langsam ins Wasser. Sie
verschmolz gleichsam mit der silbern spiegelnden Wasseroberfläche.
Nach wenigen Schritten versank sie vollends. Meine Furcht fiel von mir
ab. Gerade beobachtete ich, wie jemand ein ungewöhnliches, aber nicht
unmögliches Bad nahm. Daß diese Person aussehen sollte wie ich,
schrieb ich den mehr verhüllenden als erleuchtenden Reflexionen des
Mondlichtes zu.
Tatsächlich zog mich die stille Lahn immer stärker an. Warum
nicht auch kurz ins Wasser springen, im Silberfluß schwimmen und
diese ungewöhnliche, faszinierende Person näher kennen lernen?
Schnell entledigte ich mich meiner Kleider und stieg ins Wasser. Obwohl
es eiskalt sein sollte, spürte ich keine Kälte oder auch nur
Un-behagen. Auch keine Wärme, es fühlte sich an wie ein Eintauchen
ins Nichts. Ich verlor das Gefühl für meinen Körper, wurde
schwerelos.
Noch einmal atmete ich tief ein, dann tauchte ich ganz unter. Vor mir
schwamm die Person vom Ufer. Ich ließ mich ganz los und folgte ihr,
ohne einen Gedanken an Raum oder Zeit.
Als mein Körper davontrieb fühlte ich eine Leichtigkeit, die
ewig blieb. Alle menschlichen Gefühle und Leidenschaften fielen von
mir ab wie unnötiger Ballast, den ich viel zu lange mit mir herumgetragen
hatte.
Jetzt wandele ich frei im Schatten, losgelöst von der Schwere
des Lebens spüre ich keinen Schmerz und kein Leid mehr. Ich beobachte
die Menschen und versuche, ihnen ihre Oberflächlichkeit klar zu machen,
sie zu mehr Tiefe anzuhalten. Ihre Hektik, ihre Aufgeregtheit, ihr ständiges
Streben nach ihrem persönlichen, kleinen, unbedeutenden Glück
hindert sie an der Erkenntnis der Wahrheit. „Streift eure Fesseln ab wie
ich!" rufe ich ihnen zu, doch die meisten wollen nicht hören. Aber
gestern habe ich einer verwandten Seele zugewinkt.
von Julia Bergius: Mail
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.1999.
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