André Beinke

Jedem seine Freiheit

Heinz sollte nach einem langen Leben heute seinen Tod finden. Zu keiner Sekunde hatte er es an sich vorbei ziehen lassen; Immer intensiv gelebt. Ein positiver alter Mann. Seine Frau liebte ihn. Sie strich sich eine Träne weg, während sie neben seinem Krankenbett stand und ihm seine zitternde Hand hielt. Die treue Seele des Sterbenden funkelte den glasigen Augen seiner liebende Frau entgegen. Mit aller kraft versuchte er noch einmal einen tiefen Luftzug in sich aufzunehmen, dann sprach er seine letzten Worte aus:
„Du weißt alles, Linda." Seine Frau nickte ihm sachte zu. Mit dem Handrücken streichelte sie ihrem Mann über die Wangenknochen. „Wir sind eins, Linda, und wir werden eins sein... immer.“ Linda schluchzte auf. „Ja“, sagte sie nach einer angespannten Pause. „Ich weiß das... Das musst du mir nicht-“ Heinz war war nicht zu Ende mit seinen Worten. Er unterbrach sie: „Ich habe unsere Tochter vergewaltigt, Linda.“ Heinz Augen verschoben sich endgültig nach hinten. Seine nun kraftlose Hand sank auf sein weißes Bettlaken. Lindas Herz fiel mit ihr zu Grunde. Sie stand nicht mehr auf. Alles um sie herum verschwamm in eine Masse aus schwarz und grauen Farbtönen. Sie drehten sich wie Elektronen in einem immerwährenden Kreislauf und wollten nicht mehr vom anziehenden Potential des Atomkerns loskommen. In ihr wurde es sehr heiß. Nur der Krankenhausstuhl bewahrte sie vor einer Ohnmacht. Es schien, als würde das kalte grelle Krankenhauslicht, was den Raum flutete, wie ein Scheinwerfer auf sie gerichtet sein. Schweißperlen vermischten sich mit ihren Tränen. Der kontinuierliche Piepton der Gerätschaften um sie herum, hallte nur Dumpf in ihren Gedanken wieder. Die schreckliche Gewissheit in ihrem Kopf war lauter: Er hatte sie vergewaltigt...

Sie wusste nicht wie lange sie nicht mehr geredet hatte, aber als ihre ersten Worte über die Lippen kamen, war sie zusammen mit noch einer anderen Person in ihrem Wohnzimmer. Die Person machte sich grade daran den Holzscheit im Kamin für ein gemütliches Feuer zurecht zu legen. Wärme durchtränkte Lindas schwachen Körper, als würde sie nach einer langen Narkose wieder zu Bewusstsein kommen. Die grazile Dame merkte ihre Erschlafften Gliedmaßen; Die müden alten Arme; Die hängenden Tränensäcke. Die treue, die sonst immer in ihrem Gesicht lag, wurde von einem sterilem Tain überdeckt. Wie lange hatte sie wohl geweint? Ihr langes weißes Haar war ihr zu einem Zopf gebunden. Linda hasste Zöpfe. Sie fühlte sich dann immer so gefesselt, wenn ihre Haare nicht offen ihren Körper bedeckten.
In ihrem ganzen Leben war sie immer ein freiheitsliebendes Wesen gewesen. Ihr Mutter wollte sie als Kind schlagen und sie war abgehauen. In der Schule wollte sie der Lehrer schlagen und sie war weggelaufen. Auf der Arbeit musste sie 14 Stunden am Stück an der Nähmaschine und zerstochenen Fingern Kleider für den europäischen Markt nähen, bis sie verschwinden wollte. Doch sie war schwanger im sechsten Monat und machte ihren ersten Kompromiss. Sie vergaß einfach ein Stück ihrer Freiheit; Ließ es einfach über sich ergehen und schaffte so zusammen mit ihrem Mann eine sichere Grundlage für ihr erstes Kind. Das war schwer für sie. Frei sein zu können bedeutete für Linda ab diesem Moment, Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen; Sachen zu verdrängen. Trotzdem fühlte sie sich durch diesen Trick immer noch frei; Auch von Zöpfen.
„Mutter?“ Die schemenhafte Gestalt vom Kamin hatte Konturen angenommen. „Jesssika, was ist passiert?“ Die etwas rundliche Brillenträgerin hatte sich vom Kamin weg aufgerichtet und langsam neben ihre Mutter gesetzt. Auch Jessika trug zusammengebundenes Haar, doch schien es bei ihr, als würde sie es immer so tragen. Die Brille und der Hosenanzug ließen sie in diesem Ambiente irgendwie falsch erscheinen. Ihr Ausdruck war matt. Lachfalten gab es nicht. Ihre Gesichtszüge kontrolliert.
„Heinz...“, sagte Jessika endlich. Ihr Stimme zitterte kurz. Jessika schaute für einen Augenblick zu Boden und atmete kaum hörbar einmal tief durch. Dann guckte sie wieder starr wie all die anderen Tage in das Gesicht ihrer Mutter: „Er ist-“ „Ich weiß“, brach Linda den Satz ihrer Tochter ab. Auf einmal wurde der alten Dame bei den Gedanken der vergangenen Ereignisse wieder schwindelig.

„Mutter?“ Der vorher eher steife Gesichtsausdruck der Tochter zeigte erste Spuren von Mitgefühl. Doch auch dieses wenige Menschliche schien eher so, als hätte sie es irgendwann einmal lernen müssen. Keiner hätte sich sonst an diese kalte Persönlichkeit ran gewagt. Alles an Jessika schien auf irgendeine Weise künstlich. So war es in diesem Augenblick nicht verwunderlich, dass die 42 Jahre alte Geschäftsfrau aus Frankfurt nicht wusste, welchen Gesichtsausdruck sie an den Tag legen sollte, als ihre Mutter auf einmal stark anfing zu zittern. Situationen wie diese waren ihr nicht bekannt. „Alles gut, Schatz“, brachte Linda hervor und zog ein leicht gequältes Lächeln hinterher. Doch ihr Zittern wollte nicht aufhören. „Ist es wegen-?“ Linda schüttelte ihren Kopf. „Nein Kind, nein...“ Tränen rannen ihr lautlos die Wangen herunter und überdeckten die Salzspuren der versiegten Tränenflüsse. „Nein, es ist etwas anderes, Linda...“ „Ich verstehe nicht.“ Linda biss sich zuerst leicht, dann immer stärker auf ihre zitternden Lippen, bis sich zu den Tränen erste Blutflüsse bildeten. „Mutter!“ Es war das erste mal, dass Jessika eine ehrliche Emotion zulassen musste. Ihr Augen waren weit aufgerissen. Schnell lief die Tochter in die Küche um der Mutter sogleich mit einem Küchentuch das Blut von der Lippe zu wischen. Linda ließ es geschähen und fing noch während der Behandlung an über das zu reden, was ihr Herz hatte zerbrechen lassen: „Dein Vater hat mir etwas erzählt, bevor er starb.“ Lindas Handbewegungen wurden langsamer, doch sie hörte nicht auf das Blut von ihrer Mutter zu putzen. Ihre Augen waren starr auf das Papiertuch gerichtet. „Jessika...“ Das Blut was Jessika von ihrer Mutter abgewischt hatte war nun auch auf ihrem teuren Hosenanzug geträufelt. Wütend sprang sie auf und lief in die Küche. „Jessika?“ Mit immer noch verärgerten Gesichtsausdruck kam ihre Tochter zurück in das Wohnzimmer. Auf ihrer weißen Bluse hatte sie versucht mit Wasser zu retten was zu retten war. Doch das Blut schien jetzt nur noch intensiver ! hervorzu stechen.

„Er hat dich vergewaltigt.“ Die Zeit vereiste. Alles um sie herum war still. Selbst die Standuhr neben dem Esstisch im hinteren Teil der Stube schien ihr Ticken verlernt zu haben. Bevor das Pendel an der obersten Stelle war, um wieder zurück zu anderen Seite zu Pendeln, begann Jessika abrupt ihren Blick zur Mutter zu lenken. „Ich weiß.“ Jessika war weiß im Gesicht. Lindas Mund ging leicht auf und ein schwaches „aber-“, stolperte ihr über die Lippen.
„Und du weißt es auch. Schon immer.“
Linda riss die Augen weit auf. Mit dieser Antwort hätte sie nicht gerechnet.
„Du weißt es seit ich 7 Jahre alt war. Seit er mich das erste mal in meinem Kinderzimmer oben vergewaltigt hat.“
Jessika hatte sich urplötzlich aufgerichtet.
"Du hast das Blut am nächsten morgen von meinem Fußboden aufgewischt. Du hast bei der Schule angerufen und gesagt, dass ich diesen Morgen krank sei und Ruhe bräuchte!"
Zu ihrer blassen Hautfarbe kam nun eine fast schon schreiende Stimme hinzu, die Jessika zuvor nie so benutzt hatte.
"Du hast dich all die Jahre über immer und immer wieder selbst belogen. Dass Heinz doch nicht anders könne; Dass die Familie doch zusammen halten muss!"
Fast war Jessika über sich selbst erschrocken, als sie nach ihren starken Worten zu ihrer gewohnten Kontrollposition kam:
„Jahre hast du dir unser Leben schön gelogen! Was die Jansens über uns denken, war die wichtiger als das, was-“, Jessika stockte kurz, „-dieser Mensch Tag ein Tag aus mit mir getan hatte!“
Linda schüttelte ihren Kopf. „Nein...“

In Lindas Gesicht schien es zu arbeiten. Von außen betrachtet hätte man sagen können, dass ein Bildhauer am Werke war, einen alten Gesichtsausdruck mit Hammer und Meißel aus der kalkweißen Statur abzuschaben, um einen neuen zu hinein zuprägen. Als der Bildhauer sich entschieden hatte, wie Linda nun aussehen sollte, wusste ihre Tochter schon, was als nächstes kommen würde: „Wie kannst du es wagen so über unseren Vater zu reden! Er ist doch grade erst gestorben! Was du dir da raus nimmst!“

In Sekundenbruchteilen hatte sich Lindas Körperhaltung von einer in sich gezogenen alten Dame zu einer imposanten Größe aufgerichtet, die sich wütend gegen ihre Tochter stellte. Sie schrie ihrer Tochter einer schrillen Art und Weise entgegen, dass es das ganze Wohnzimmer umfasste und selbst das Kaminfeuer hätte erlöschen lassen, hätte die Tochter es angezündet. Nachdem der Nachhall verklungen war, nickte Linda kurz. Es war ihr verständiges Nicken, welches sie aufsätze. Noch einmal senkte Jessika ihren Blick kurz zu Boden, dann setzte sie sich wieder neben ihre Mutter und hielt ihre Hand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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