Steffen Wietzorek

Drachenfeuer

Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er das Ende der Wendeltreppe erreicht hatte, die mit ihren über 200 steilen Stufen in den Glockenstuhl führte. Es war weniger die Anstrengung des langen Treppensteigens, was ihm das Blut wie wild durch die Adern jagte, sondern vielmehr die freudige Erwartung des unmittelbar Bevorstehenden. Die lodernde Fackel in seiner Rechten warf ein warmes Licht auf die halb verrottete Tür vor ihm. Ein gezielter Tritt sprengte sie aus den Angeln und sie stürzte krachend zu Boden. Ein kühler Luftzug begrüßte den Zwerg, als er auf den wandlosen Glockenstuhl hinaustrat und ließ die rotbraunen Zöpfe seines Bartes tanzen. Kashmir war froh, dem engen, steinernen Treppenhaus entkommen zu sein und nun endlich wieder den frischen Atem der Nacht auf seiner Haut zu spüren. Es war ungewöhnlich für einen Zwerg, den freien Himmel einem dunklen Gewölbe vorzuziehen und die anderen beäugten ihn deshalb oft misstrauisch. Doch was war schon normal an einem Zwerg wie ihm?
Er betrachtete die längst verrostete Glockenhaube, welche wie eine große Kuppel in der Mitte des Stuhls von der hohen Steindecke herabhing. Tiefe Risse zogen sich durch das spröde Eisen und Kashmir versuchte abzuschätzen, wann diese Glocke wohl zum letzten mal ihren Dienst verrichtet hatte. Nicht weniger als ein Jahrzehnt musste es her sein. Das alte Kloster stand schon lange leer. Außer den Wölfen, die ab und zu im Winter hier herkamen, um der eisigen Nacht zu entfliehen, wagte sich niemand mehr hier herauf. Die dunklen Mauern waren zerfallen, das Holz morsch vom unerbittlich niederprasselnden Regen, es stank nach verwesenden Kadavern, welche die Wölfe nach ihren Beutezügen mitbrachten.
Dies war der perfekt Ort für Kashmirs Vorhaben.
Vorsichtig stieg er über das lose Geröll hinweg an den Rand des Glockenstuhls. Ein Zwerg kannte keine Angst vor der Höhe, schon gar nicht Kashmir. Hier würde sein Angriff beginnen. Ein neuerlicher Adrenalinschub durchstieß seinen Körper.
"Zu viele Wolken", murmelte er besorgt mit einem Blick hinauf zum Himmelszelt. Er wusste um die Schärfe seiner Augen bei Dunkelheit, doch die seines Feindes waren schärfer. Er musste noch vorsichtiger sein.
Er warf die Fackel hinab in die Tiefe. Er würde sie nicht mehr brauchen, gegen diesen Gegner richtete Feuer nichts aus. Die Flamme zog einen lodernden Schweif hinter sich her.
 
"Dann ist alles bereit für das große Finale!", sagte Kashmir zu sich selbst und konnte die Vorfreude kaum länger in Zaum halten. Es war die Nacht der Rache, die Nacht seiner Rache! Der Blick des Zwerges glitt hinab an seine linke Hand. Behutsam zog er den ledernen Handschuh von den Fingern. Der Anblick des silbernen Rings versetzte seinem Herz einen schmerzhaften Stich, als werde dieses von einem spitzen Dolch durchstoßen. Er biss sich auf die Unterlippe, um die drohenden Tränen zurückzuhalten, bis er sein eigenes süßes Blut schmeckte. "Ich tue dies alles nur für dich, Ari. Das Geschöpf, das uns beide entzweit hat, soll dafür büßen. Ich habe dich so sehr geliebt, Ari! Oh, wie habe ich dich geliebt!" Er schloss die Hand zu einer Faust und küsste den kalten Ring, während er mit geschlossenen Augen in schönen, wie zugleich schmerzvollen Erinnerungen schwelgte. Dann mit einem Ruck riss er sich von der über ihn hereinbrechenden Vergangenheit los und richtete den Blick entschlossen in Richtung Zukunft. Die Zukunft, die ihm seine langersehnte Rache bringen würde.
Ein letztes Mal prüfte Kashmir die Riemen und Schnallen an seinem Lederwams, zupfte noch einmal die schwarzen Bänder in seinem geflochtenen Bart zurecht und strich sich mit der Linken über den kahlen Schädel. Die beiden an seinem Gürtel befestigten Äxte, mit dem spitzen Widerhaken auf der einen, der scharfen Schneide auf der anderen Seite, schienen genauso ungeduldig auf den bevorstehenden Kampf zu warten wie er.
Zufrieden nickte er. Die Vorbereitungen waren getroffen, nun fehlte nur noch eine winzige Kleinigkeit: Sein Feind.
Die Finger griffen vorsichtig in eines der kleinen Täschchen an seinem Gürtel und zogen eine kristallene Phiole heraus, die eine beinahe durchsichtige, leicht rötlich schimmernde Flüssigkeit in sich trug. Es war nicht einfach gewesen, an das destillierte Blut eines Jungdrachen heranzukommen, doch es würde seinen Zweck erfüllen. Es würde seinen Feind zu ihm locken.
Behutsam löste er den Verschluss vom langen Phiolenhals und verteilte die klare Flüssigkeit auf dem Steinboden vor seinen Füßen. Die Anspannung übermannte ihn und das feine Glas zersprang zwischen seinen zu fest zudrückenden Fingern. Winzige Glassplitter und feines Drachenblut haftete an seinem ledernen Handschuh. Ein kurzer Fluch huschte dem Zwerg über die Lippen, dann sann er sich wieder zur Ruhe. Er musste kühlen Kopf bewahren.
Nun hieß es warten, der schwierigste und nervenzährendste Teil seines Vorhabens.
Wieder wanderte sein Blick gen Himmel und mit zunehmendem Unbehagen registrierte er die dichter werdende Wolkendecke, welche kaum noch ein Sternenfunkeln durchdringen ließ. Der bleiche Sichelmond lugte ab und an noch beinahe schüchtern hervor und tauchte die Welt in ein mystischblaues Licht.
Kashmir ließ sich auf einem größeren Steintrümmer nieder und zog den schwarzen Umhang etwas fester um den Leib. Er bot Schutz vor Kälte und wachsamen Augen. Normalerweiße wäre dies nun die Zeit für ein kurzes Stoßgebet gewesen, doch Kashmir hatte sich nach alledem, was ihm wiederfahren war, von den Göttern abgewandt. Sie hatten ihn schon einmal im Stich gelassen, sie würden es auch wieder tun.
Der Wind trug die verschiedensten Gerüche an seine Nase und dann auf einmal war da noch etwas anderes... weniger ein Geräusch als vielmehr ein kaum wahrnehmbares Vibrieren der Luft. Der stechende Gestank verbrannter Asche kitzelte Kashmirs Nase.
Kein Zweifel, sein Feind war auf dem Weg.
Kashmir richtete sich auf und löste in einer fließenden Bewegung die beiden Äxte von seinem Gürtel.
Das Vibrieren wurde stärker. Wusch... wusch...
Der Zwerg vollführte einige Probeschläge, um seine Arme zu lockern. Sein Blut brodelte vor Erregung.
Wusch... wusch...
Bilder brachen wie eine schäumende Woge über ihn herein, schossen über ihn hinweg, wühlten seinen Verstand auf. Der geschundene Leib seiner geliebten Ari in seinen Armen, der letzte Blick ihrer tiefblauen Augen, das Gefühl, alles Wichtige im Leben verloren zu haben in nur einem einzigen Augenblick.
Wusch... wusch... wusch...
Fern am Horizont zeichnete sich ein grauer Schatten gegen den verhüllten Nachthimmel ab. Sekunden wurden zu Stunden, während sich der Schatten stetig näherte. Und dann endlich konnte Kashmir ihn klar und deutlich im fahlen Mondlicht sehen.
Ghorlocjin, der Fürst der Drachen.
Die mächtigen Schwingen gingen majestätisch auf und nieder, grau-schwarze Schuppen bedeckten matt schimmernd den massigen und doch zugleich elegant anmutenden Leib. Glitzernde Augen wie Goldmünzen stachen aus dem schmalen, kantigen Kopf hervor. Die dolchähnlichen Krallen am Unterleib warteten nur darauf, sich tief in das Fleisch seiner Feinde zu graben.
Ghorlocjin hielt direkt auf den Glockenturm zu.
Entschlossen zog Kashmir die Augenbrauen zusammen und ließ die Äxte locker in den Händen kreisen. Er musste schnell sein, um den richtigen Augenblick nicht zu verpassen. Der Drache war inzwischen so nahe, dass die Luft geschwängert war vom beisenden Schwefelgestank. Die breiten Nüstern des Wesens mussten das Jungdrachenblut gewittert
haben.
 
Der Zwerg ging leicht in die Knie und machte sich bereit zum Sprung. Nervös doch zu allem entschlossen sah er zu, wie sich der Drache unbeirrt dem Glockenstuhl näherte. Der Dornenbesetzte Schwanz peitschte wild durch die Luft, die tiefsitzenden Augen durchdrangen die Nacht. Er musste Kashmir längst bemerkt haben.
Dann auf einmal schwangen die Flügel herum, der Drache glitt nach oben und schoss über das Dach des Glockenturms hinweg. Kashmir wurde von der plötzlich aufkommenden Böe erfasst und von den Beinen gerissen. Hart schlug er auf dem losen Geröll auf, dass ihm kurz die Luft aus den Lungen gepresst wurde, doch er rappelte sich sofort wieder auf. Eilig blickte er in alle Richtungen, doch Ghorlojin war nirgends zu sehen.
Ein lautes Fauchen. Kashmir wirbelte herum und konnte sich gerade noch schützend zu Boden werfen, ehe eine lodernde Stichflamme über seinen Kopf hinwegfegte und den Glockenstuhl in ein flirrendes Hitzebad verwandelte. Einige Zöpfe seines Bartes wurden von der Hitze versengt, die Haut des haarlosen Hauptes kribbelte. In seinem Rücken löste sich die tonnenschwere Eisenglocke aus ihrer Halterung und stürzte krachend zu Boden. Scharfkantige Splitter jagten tödlichen Geschossen gleich durch die Luft. Ein spitzes Stück Eisen bohrte sich in den Oberschenkel des Zwerges. Tränen schossen ihm in die Augen, doch er unterdrückte einen Schmerzensschrei, während er den Splitter mit einem Ruck aus dem Fleisch zog. Ein Schwall warmes Blut schoss aus der Wunde, doch Kashmir hatte jetzt keine Zeit sie zu behandeln. Statt dessen sprang er eilig wieder auf die Beine und hielt sich bereit für den nächsten Angriff. Diesmal würde ihn sein Gegner nicht unvorbereitet treffen.
 
Alle Muskeln des Zwerges waren angespannt, seine Hände umklammerten beinahe krampfhaft die beiden Äxte. Ein Geräusch!
In einer fließenden Bewegung wirbelte Kashmir herum und blickte in das nur wenige Meter entfernte Antlitz des Drachen. Er hatte sich auf dem spitzen Dach des Glockenturms niedergelassen und streckte dem Zwerg nun seinen langen Hals entgegen. Die mächtigen Nüstern bebten, der Blick seiner goldenen Augen durchdrang Kashmir, brannte sich geradezu in seinen Schädel wie glühendes Eisen. Der Geruch des Jungdrachenblutes hatte ihn erregt. Er schnaubte wütend und Kashmir schlug eine Welle heißer Luft ins Gesicht.
Dann endlich konnte sich der Zwerg aus seiner Starre befreien. Mit einer gekonnten Bewegung wirbelte er die Axt über seinen Kopf und schleuderte sie dem Drachen mit aller Wucht entgegen. Mit einem Pfeifen wirbelte die Waffe durch die Luft und schlug dem Drachen frontal ins Fleisch der langen Schnauze, noch bevor dieser das Maul öffnen und eine neuerliche Feuerwoge entsenden konnte. Mit ohrenbetäubendem Brüllen zuckte der Drachenkopf zurück und der Boden des Glockstuhls wurde von einem Sprühregen schwarzen Blutes getränkt. Die Decke über Kashmir bebte bedrohlich. Die dünnen Pfeiler des Glockenstuhls drohten unter dem Gewicht des Drachenfürsten zusammenzubrechen. Einzelne Gesteinsbröckchen rieselten von oben herab. Ein lautes Krachen und die Stützpfeiler gaben kreischend nach. Kashmir hielt schützend die Arme über den Kopf, doch er wurde dennoch von der Wucht der herabstürzenden Felstrümmer zu Boden geworfen. Der kratzige Staub wühlte sich in seine Lunge und Kashmir wurde von heftigen Würg- und Hustenattacken geschüttelt. Seine Augen brannten, ein Felsbrocken hatte ihm das linke Bein zerquetscht. Ansonsten war er bis auf ein paar Kratzer und Schrammen erstaunlicherweiße unverletzt geblieben.
Keuchend und spuckend stemmte er sich hoch. Noch blieb ihm eine Waffe, um Ghorlocjin zu bringen, was er verdiente. Den Tod.
Von dem Drachen jedoch fehlte jede Spur. Er musste sich bei dem Einsturz wieder in die Lüfte begeben haben, doch wo war er nun...
 
Diesmal bemerkte Kashmir den Angriff der Bestie zu spät. Rasiermesserscharfe Klauen bohrten sich von hinten durch seine rechte Schulter. Der stechende Schmerz war diesmal zu heftig und überraschend, als dass der Zwerg einen lauten Schrei hätte unterdrücken können. Der harte Stachel des Drachenschwanzes schlug im gegen die Wange und hinterließ einen blutigen Schnitt quer über dem Gesicht.
Kashmir versagte der Atem. Keuchend sog er die kühle, in seiner Brust schmerzende Nachtluft ein. Dichte Nebelschwaden verhüllten seinen Blick, die Umgebung schien sich vor seinen Augen zu drehen. Benommen sank er auf die Knie. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. Das Geräusch drang wie aus weiter Ferne zu ihm heran, hallte dröhnend in seinem Kopf wider. Plötzliche Eiseskälte umfing ihn.
"Es tut mir Leid, Ari!", flüsterte er kraftlos. "Ich habe versagt. Es war töricht von mir, es alleine mit einem Drachenfürsten aufnehmen zu wollen, den zu besiegen ein ganzes Zwergenheer von Nöten wäre. Ich habe versagt, Ari. Es tut mir so Leid..."
Das leise Klimpern eines kleinen Gegenstandes, der direkt vor seinen Füßen zu Boden fiel, riss ihn aus seinen selbstmitleidigen Gedanken. Er blickte hinab und gewahrte einen silbernen Ring zwischen all dem staubigen Geröll hervor blitzen. Der Ring, den ihm einst die Frau geschenkt hatte, welche er über alles geliebt hatte. Der Anblick versetzte ihn zurück in die Vergangenheit. Er fühlte noch einmal die verzehrende Hitze auf seiner Haut, hörte die erstickten Hilferufe an sein Ohr dringen, spürte den toten Leib seiner geliebten Ari in den Armen...
 
Blinde Wut schoss durch seine Adern und entflammte die berüchtigte Entschlossenheit der Zwerg aufs Neue.
"Du hast sie getötet, Ghorlocjin!", knurrte er böse. "Doch mich wirst du nicht töten!"
Der Zorn verlieh ihm neue Kraft. All die blutigen Schnitte, zertrümmerten Knochen und zerschundenen Fetzen seiner Haut waren wie weggewischt. Mit grimmiger Miene wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und stapfte an den Rand des eingestürzten Glockenstuhls. In der Tiefe gewahrten seine Augen den dunklen Schatten des Drachen.
"Dein Tod kommt mit wirbelnden Klingen!"
Mit beiden Händen den Axtgriff umklammernd und einen kehligen Kampfschrei auf den Lippen stürzte er sich in die Tiefe...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.09.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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