Jürgen Berndt-Lüders

Das merkwürdige Haus III (Schluss)

Der Kriminalist in mir war geweckt worden. Hatte sich einer aus der Familie meines Onkels oder gar meiner an Gerda vergangen? Hatte er sie hinterher umgebracht, sobald sie damit drohte, ihn anzuzeigen, so wie man dies überall liest?
 
Hatte nicht mein Onkel Hinnerk angedeutet, dass er keinen Grund gesehen hatte, noch weiter Kontakt zu meiner Familie zu pflegen? Hatte vielleicht gar mein Vater...
 
Unvorstellbar
 
Nein, das konnte nicht sein. Mein Vater war ein anständiger Mann. Aber das glauben viele Kinder von ihren Eltern, auch wenn sie’s vielleicht gar nicht sind.
 
Was war, wenn er 1956 nicht etwa deshalb mit Frau und Kind in den Westen gegangen war, weil er die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nicht hatte ertragen können, sondern, weil ich sich wegen solcher Schandtaten wie mit Gerda nirgens um Umkreis von 100 Kilometern mehr hätte sehen lassen dürfen?
 
Gut, das Tagebuch konnte Auskunft geben, und ich beschloss, es in aller Ruhe in der freien Natur zu studieren, von der ersten Seite an. Aber dazu brauchte ich Gelassenheit. Die würde ich nicht finden, solange mir nicht klar war, in welcher Reihenfolge die für den Fall relevanten Dinge passiert passiert waren.
 
Anfangs hatte ich geglaubt, ein Deserteur der letzten Kriegsmonate habe das Maschinengewehr Baujahr 1942, bekannt als MG 42, auf dem Heuboden versteckt und seine Soldaten-Identität womöglich mit der Arbeitskleidung eines Knechtes getarnt. Aber das konnte nicht sein, denn der letzte Eintrag in Gerdas Tagebuch, welches ich weiter innerhalb des Dachbodens gefunden hatte, stammte aus dem Jahre 1947, und der Krieg war 45 zuende gewesen.
 
Hatte sich die Handlung vielleicht doch von außen nach innen und nicht etwa – wie es logisch gewesen wäre – von innen nach außen abgespielt? Aber war das Heu nicht viel zu dicht gestopft, um sich bis zu Gerdas Verschlag hindurch zu wühlen?
 
Wenn aber der letzte Satz in Gerdas Tagebuch zwei Jahre nach Kriegsende geschrieben worden war, hatte dann vielleicht einer unserer beiden Familien noch viel später mit dem MG hantiert?
 
Ich hatte aber keine Munition gefunden. 
 
Nein, wahrscheinlicher, wenn auch zugleich unwahrscheinlicher, war der Dachboden von der Dachluke innerhalb des Hauses aus befüllt worden. Aber hatte ich nicht bereits nach Öffnen dieser Luke festgestellt, dass mir bereits das trockene Heu entgegen fiel, sobald ich die Luke auch nur einen Spalt...
 
Ein schauriger Gedanke überfiel mich. Was würde ich erst finden müssen, wenn ich es von der Dachluke aus versuchte und nicht von der Außenseite, von der Heuklappe her? Vielleicht Gerdas Leiche? Hatte sie jemand dort umgebracht und mühsam Heu um und über ihre Leiche geschichtet?
 
Ich schnappte mir Gerdas Tagebuch und bewegte mich damit, trotz Arthrose, mit schmwezverzerrtem Gesicht Richtung Meer. Dort gab es einen Truppenübungsplatz, von wo aus man schon zu DDR-Zeiten mit Leuchtspur-Munition  auf die Ostsee hinaus geschossen hatte.  Nachts hatte ich als Kind die Szenerie mit leuchtenden Augen beobachten können.
 
Der Truppenübungsplatz war längst zu einer noblen Villensiedlung umgebaut worden. Hier wohnten Neu- und Altreiche aus Ost und West, mit wundervollem Blick auf die Ostsee hinaus. Ich setzte mich an die Promenade und schlug Gerdas Buch auf. Die erste Seite war kaum noch lesbar. Das Buch musste eine Weile in Feuchtigkeit gelegen haben.
 
Haltstop, ich staunte, die erste Seite handelte von mir.
 
„De Dööskopp hett mi argert. He meent, ick wer to blöd tum schieten. Un dat bloot, weil he Hochdütsch schnacken doot un ick nich.“
 
Stimmt, meine Mutter, von der ich das Sprechen gelernt hatte, war nicht aus der Gegend gewesen.
 
Ein paar Seiten weiter beschrieb sie die Abreise meiner Familie.
 
„De Lüü sinn to fin för use Gegend. Min Vadder seggt dat oog. Hüüd sinn se na’n Westen rüber. Naja, denn hebb wie mehr Platz für us sülms.“
 
Kurz vor Ende meiner Lektüre las ich davon, dass die Dorfjugend nun auch zur Wehrerziehung hatte antreten müssen. Auch Gerda hatte mit dem Holzgewehr zielen und „schießen“ müssen, und Onkel Hinnerk hatte sie gar dazu bringen wollen, mit dem alten MG aus dem Zweiten Weltkrieg...
 
War es das, was Gerda keinen Spaß, sondern Schmerzen bereitet hatte? Hatte sie gar den Rückstoß einer automatischen Waffe aushalten sollen?
 
Jemand tippte mir auf die Schulter. 
 
„Ach, kiek an, min vornehmer Neffe, min Klookschieter. Ick wull di schon besöken kamen,  aber denn wer mi dat doch nich wichtig genuch. Ick ha mi van de ganze beschetene Familie trennt.“
 
Ich sag’s euch vorab: ein paar Tage später  erkundigte ich mich in ihrem Auftrag beim Familiengericht in Schwerin, ob Neffe und Nichte „hiraden“ dürfen. Gerda bestand nämlich darauf, bevor wir im Heu auf meinem Dachboden intim würden...
 

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