André Kamphaus

Betrachtungsweise

Ein schöner Sommertag, voll der herrlichsten Gerüche. Da lohnte sich der Stadtbesuch. Im prallen Licht der Sonne saßen sie zu vielen in der Gasse, legten ihre schweißfeuchte Haut großzügig frei und löffelten beherzt aus duftenden Eisbechern. Betört in all meinen Sinnen, flog ich ein wenig höher in die kühlere Luft. Frisch gestärkt wollte ich nach kurzer Pause beginnen, die leckersten Tropfen zu erfliegen. Als ich glaubte, nun hoch genug zu sein, die Düfte wurden schwächer, umwehte mich mit einem Mal ein neues Aroma. Augenblicklich vergaß ich meine Pläne, vergaß die unzähligen Kugeln Eis und flog dem fremden Duft willenlos entgegen. Er führte mich zu einem offenstehenden Fenster, einige Meter über der Gasse, und es roch zu gut, als daß ich eine rationale Entscheidung hätte treffen können. So flog ich geradewegs hinein.
Als ich das Zimmer erreichte, brauchte es einen Moment, bis ich die ersten Umrisse erkennen konnte, so dunkel war der Raum. Alle Jalousien, außer der einen über dem geöffneten Fenster, hingen vor den Scheiben und wehrten die Lichtstrahlen wie Eindringlinge ab. Zur Beruhigung erflog ich die nächstliegende Wand und ließ mich auf ihr nieder. Behutsam schaute ich mich zu allen Seiten um. Ich entdeckte einen jungen Mann in einem Sessel, der gerade mit Kaffee und Kuchen beschäftigt war. Kaum auszuhalten war der Duft. Plötzlich ließ der Mann sein Kuchenstück fallen, erhob sich schwungvoll aus dem Sessel und schlug gewaltsam das Fenster, durch welches ich hereingekommen war, zu. Das hatte ich nun davon. Jetzt saß ich hier fest. Der Mann, ein ungepflegter, hochgewachsener Typ, fing an, mit sich selbst zu reden. Ich hörte ihn nicht, so ist das nunmal, aber seine Lippen umkreisten seine Zähne. Er aß weiter vom Kuchen und trank seinen Kaffee, und ich beschloß, da es derzeit keinen Fluchtweg mehr gab, weiterhin passiv zu bleiben und mit dem Kuchen noch zu warten. Unterdessen redete der Mann immernoch mit sich selbst, er gestikulierte mit den Händen, und vermutlich regte er sich über die Leute im Eiscafé auf. Vielleicht waren sie ihm zu laut. Durch einen Spalt konnte ich erkennen, daß dort unten nahezu alle pausenlos mit den Lippen um ihre Zähne kreisten. Dann zog der Mann zu meinem Entsetzen auch noch die letzte Jalousie zu, daß nur noch ein schwaches Licht den Raum erreichte. Wie in einer Höhle hockte er auf seinem Sessel, stopfte Kuchen und Kaffee in sich hinein und redete mit sich selbst. Dann stand er wieder ruckartig auf, tat ein paar Schritte bis an das Waschbecken und begann, mit Hilfe des Wandspiegels und eines kleinen Handspiegels, sein Gesicht von allen Seiten aufmerksam zu betrachten. Ich sah einige häßliche Pickel an seiner Stirn und auf der rechten Wange. Plötzlich schlug er kräftig gegen die Wand, so daß ich vom Druck aufgeschreckt wurde und planlos durch das Zimmer irrte. Schon hatte er mich gehört. Ich sah seine suchenden Augen. Schnell ließ ich mich an einer dunklen Stelle nieder und harrte ängstlich aus. Ein Glück, er ließ ab. Er begann wieder zu reden und betrachtete sich weiter im Spiegel. Vor Schreck hatte ich gar keinen Hunger mehr. Ich sehnte mich hinaus. Dieser Mann machte mir riesige Angst, obgleich mir der Kontakt mit Menschen längst nicht mehr fremd war. So wenig ich auch von dieser Spezies wußte, so war doch das vor mir stehende Exemplar zweifelsohne aus der Art geschlagen. Er hockte hier alleine in seiner Höhle, redete mit sich selbst. Seine Artgenossen hockten draußen und sprachen miteinander, trugen nicht diesen Ingrimm in den Augen. Allerdings mußte ich mir eingestehen, daß ich zum allerersten Mal einen Menschen im Schutze seiner ihm eigenen Wände zu sehen bekam. Warum hast du das getan, beschimpfte ich mich selbst, und hätte ich die nötigen Drüsen besessen, so wären vor Wut die Tränen gefloßen.
Stunden vergingen. Der Raum blieb verschlossen. Während die Sonne wohl bald schon am Waldrand verschwunden war, trabte der Mann von einer Ecke in die nächste, redete mit sich selbst und schlug hier und da an die Wände. Vor Angst gelähmt hockte ich immer noch am selben dunklen Fleck und sah verzweifelt diesem Treiben zu. Nahm das denn niemals ein Ende!
Nach zwei Tagen gab ich alle Hoffnungen auf. Lange hatte ich ohnehin nicht mehr zu leben, und dieser wahnsinnige Mann machte nicht im entferntesten den Eindruck, ein Fenster oder wenigstens die Tür öffnen zu wollen. Er pinkelte in das Waschbecken, einen Haufen machte er nicht, und nachts, wenn er vor sich hinmurmelnd schlief, wagte ich mich an seine Essensreste, die im ganzen Zimmer verstreut lagen. Nun aber tat ich auch das nicht mehr, sah keinen Sinn mehr, dieses Dasein mit Essen zu verlängern. Am folgenden Tage war es soweit: ich wollte mich ergeben. Der ständige Anblick dieser kranken Gestalt, wie sie immerzu redend, pissend, onanierend und schlagend ihre Höhle durchquerte, hatte alles in mir zerstört. Ein Ende der Qual, das war alles, was ich noch wollte. Raus aus dieser kranken Welt, raus aus diesem Elend! Als er sich in seinen Sessel setze, einen Teller Nudeln vor sich stehend, erhob ich mich aus dem Versteck und flog geradewegs auf ihn zu. In einer scharfen Kurve umflog ich seinen Kopf. Sein Geruch war abscheulich. Ich holte erneut aus, und wie gerne hätte ich ihm etwas angetan, diesem nutzlosen Stück Fleisch! Das war mir nicht möglich, soviel wußte ich trotz Hungerstreik und den daraus resultierenden Wahnzuständen nur allzu gut. Also ließ ich mich mitten in den Nudeln nieder. Ich zwang mich auch jetzt, nicht zu lecken. Dann spürte ich seinen Blick auf mir. Ich zitterte am ganzen Leib, und doch wollte ich noch immer, daß diese Qual ein Ende nimmt. Er rückte näher an mich heran, steckte seine Nase fast in die Nudeln. Ich spürte den Atem aus ihm strömen. Plötzlich nahm er den ganzen Teller auf und erhob sich aus dem Sessel. Zitternd erwartete ich die schlimmsten Folterungen, ein Zerklatschen an der Wand, ein Tod in heißer Pasta. Dann stach ein Lichtstrahl meine Augen. Ich glaubte mich im Fliegenhimmel. Aber nein, nach kurzer Zeit erkannte ich die alte Gasse, erkannte ich das Eiscafé, und wie in Trance erhob ich mich und flog tief hinein in das wärmende Licht. Hinter mir hörte ich ein Fenster schlagen und sah einen Mann hinter Jalousien verschwinden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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