Yvonne Habenicht

Die schönste Jahreszeit




Kaum zu glauben, aber das Schönste am Urlaub sind die langen dunklen Februarabende, wenn die zwei über den bunten Katalogen und vor den leuchtenden Internetangeboten sitzen, um nach Herzenslust zu träumen und planen. Draußen knirscht Schnee, frostiger Wind pfeift durch die Straßen oder dicker Matsch hat einem auf dem Heimweg die Stiefel durchgeweicht. Wie gut tut es da, des Abends Reisen anzutreten, an hellschimmernde Strände mit wogenden Palmen im Hintergrund, im Geiste im blauen Meer und schäumender Gischt zu baden. Die Bilder sind so verlockend, dass man fast die Sommersonne auf der Haut unter den dicken Pullovern spürt.
Gut, einige Träume muss das Paar gleich abhaken, weil sie das geplante Budget bei weitem übersteigen. Doch es bleibt noch immer genug übrig. Diesmal würden sie auch alles genau prüfen und planen, nicht wieder an ein schmuddeliges Hotel geraten, neben dem gerade ein Parkplatz gebaut wird. Nicht nach Italien fahren, denn nach dem dortigen Urlaub hatten sie mal glatte drei Arbeitstage versäumt wegen der Streiks, und Andreas hatte eine Abmahnung erhalten.
Spätestens im März buchen sie die Reise, um des gewünschten Ziels ja sicher zu sein. Dann schleicht das Jahr weiter voran. Die Vorstellung des geplanten Urlaubs macht so manches erträglicher: den Ärger, den es hie und da im Beruf gibt, das schlechte Frühlingswetter und die viel zu kurzen Wochenenden. Je näher jedoch die „schönste Jahreszeit“ heranrückt, desto hektischer werden die Vorbereitungen. Helen ist jedes Jahr überzeugt, auch nicht ein passendes Kleidungsstück für den Urlaub zu haben, Andreas bastelt mit seinem Freund jetzt an jedem Wochenende am Auto herum. Sie wollen diesmal nämlich nicht an die gelben Strände fliegen, sondern in die Berge fahren. Das stellt natürlich auch an die Garderobe auch noch zusätzliche Ansprüche. Kurzum, die knappe Freizeit geht fast in Gänze für die Urlaubsvorbereitungen drauf.
Ist der Urlaub schon fast greifbar nahe, haben beide das Gefühl, einfach nicht alles rechtzeitig zu schaffen. Die Zeit beginnt zu rasen, und sie werfen einander vor, viel zu spät mit den Vorbereitungen begonnen zu haben. Helen verzweifelt, wie jedes Jahr, an einer total unfähigen Vertretung, die sie im Büro einarbeiten soll und sagt, am liebsten würde sie gar nicht fahren, denn sie könne schon jetzt absehen, hinterher habe sie so viel nachzuarbeiten, dass die Erholung gleich futsch sei. Andreas arbeitet bis in die Abendstunden, um noch vor dem Urlaub diesen und jenen wichtigen Auftrag unter Dach und Fach zu bekommen.
Schließlich stellt sich die leidige Frage, wer die Blumen und die Katze versorgen soll. Tante Brigitte hatte das letztens recht gut gemacht, aber die ist jetzt so schlecht auf den Beinen. Die Nachbarin kam nicht wieder in Frage, die hatte die Katze vor drei Jahren so maßlos überfüttert, dass das arme Tier eine dreiwöchige Diät brauchte. Bleibt noch Helens Freundin Sandra, der man aber unbedingt einschärfen muss, dass die Blumen keine Schwimmpflanzen sind, die sich dafür jedoch mit der Katze fabelhaft versteht. Also wird sie bei mindestens drei Treffen in das richtige Gießen der Blumen und das maßvolle Füttern der Katze eingewiesen und mit einem Stapel schriftlicher Merkzettel versehen. Helen bekommt dennoch Albträume: Sandra lässt die Fenster auf und die Katze stürzt hinaus, im Haus gibt es Feuer- oder Wasserschäden, während sie weit weg unterwegs sind, Einbrecher haben entdeckt, dass sie verreist sind.
Schließlich ist nichts mehr zu regeln und zu organisieren. Unerbittlich fordert der Urlaub seinen Tribut, angetreten zu werden. Helen läuft mindestens drei Mal in die Wohnung zurück, um zu sehen, ob sie auch wirklich Herd und Kaffeemaschine ausgeschaltet, alle Fenster verschlossen und die Tür richtig verriegelt hat. Da stellt Andreas fest, dass der Fotoapparat noch im Flur liegt, natürlich, weil Helen nicht daran erinnert hat – an was soll er denn auch alles denken? Dann wieder hat Helen etwas vergessen und danach neuerlich Andreas, so dass sie erst lange nach der geplanten frühen Morgenstunde fort kommen. Später stecken sie im endlosen Stau, sie sind nicht die Einzigen, die in den verdienten Urlaub fahren. Die Sonne brennt auf das Auto. Ab und zu geht es ein Stück vorwärts. Die ersten zwei Wasserflaschen sind schon leer.
„Wir hätten doch lieber irgendwohin fliegen sollen oder mit der Bahn an die deutsche Küste fahren“, stöhnt Helen.
„Wir stünden jetzt nicht in diesem Stau, wenn wir eher losgefahren wären. Aber du kommst nie rechtzeitig weg. Deutsche Küste! Hast du vergessen, wie du an der Nordsee gemault hast, dass immer das Meer weg ist, wenn du baden willst? Und dann hast du dir im Watt den Fuß an den Muscheln aufgeschnitten und bist über eine Woche mit ’nem Verband rumgehumpelt. Und fliegen! Wir waren uns einig, das wir es diesmal nicht tun, nachdem wir von den endlosen Wartezeiten auf den Flugplätzen gehört haben.“
„Trotzdem, das geht doch hier nie vorwärts. Können wir nicht anders fahren?“
„Und wie bitte? Soll ich hier wenden und als Geisterfahrer zurückfahren?“
Aber am Ende kommen sie doch an. Als sie die Autobahn verlassen haben, ist die Fahrt auch wirklich schön. Die Pension sieht gut aus, von außen und von innen. Das Zimmer hat eine herrliche Aussicht auf die Berge ringsum, ist groß luftig, hat einen schönen Balkon und ein blitzsauberes Bad. Keine Baustelle weit und breit. Die rundliche Schweizerin bemüht sich um bestes Hochdeutsch für ihre Gäste.
Andreas hat mittels seines Wanderführers bereits die Touren für die nächsten Tage geplant.
„Das wird mal so ein richtiger, gesunder, aktiver Urlaub.“
Helen würde am ersten Tag lieber faulenzen. Doch ihr Mann hat ja Recht, man muss das wunderschöne Wetter nutzen. Sie brechen nach einem zeitigen Frühstück optimistisch und voller Tatendrang auf. Gegen Mittag brennt die Sonne unerbittlich und sie sind von der Zwischenstation, einem Berghotel mit Restaurant und „fantastischer Aussicht“ noch weit entfernt. Helen verflucht die teuren Wanderschuhe. Ihre Füße schwellen an und schmerzen bestialisch. Andreas verschweigt heroisch, dass es ihm ähnlich geht.
Die Aussicht von dem Hotel ist atemberaubend, doch richtig genießen können sie nicht, wegen der wehen Füße und dem Gedanken an den Rückmarsch. Während des ganzen Rückweges jammert Helen erbärmlich über ihre Füße, und als sie diese in der Pension in Augenschein nimmt, sehen sie bedauernswert aus, gerötet, wund und voller Blasen. Während der nächsten Tage ist an Touren nicht zu denken. Stattdessen fahren sie in die nächste Stadt und Helen kauft ein Paar Turnschuhe, die furchtbar teuer sind, aber eine wahre Wohltat für ihre gequälten Füße. Nach Wandern ist ihr dennoch erst mal nicht. Also machen sie kleine Spaziergänge, aalen sich im Pensionsgarten in Liegestühlen, wobei Andreas ständig brummelt und knurrt.
„Warum hast du nicht gleich vernünftige Schuhe gekauft? Wir haben nicht ewig Urlaub. Im Liegestuhl hängen könnten wir zu Hause auch.“
Schließlich geht es Helens Füßen wieder besser und sie hat keine Ausrede mehr, den aktiven Urlaub zu verweigern. Dafür hat sie nach dem nächsten ganztägigen Ausflug einen heftigen Sonnenbrand, weil sie ihre Sonnencreme in der Pension vergessen hat. Ihre Arme sind feuerrot, auf der Nase quellen Blasen und sie hat furchtbare Kopfschmerzen. Während der folgenden drei Tage liegt sie eingesalbt im Zimmer, streitet mit Andreas, wenn dieser auftaucht, oder Andreas mit ihr. Andreas macht ein paar Ausflüge allein, schimpft anschließend über falsche Angaben in dem Wanderführer. Helen meint dagegen, ohne sie habe er eben null Orientierung und sich einfach verlaufen. Jedenfalls war er selten da, wo er hin wollte. Dafür findet er abends stets mit Sicherheit und ganz ohne Wanderführer den Dorfgasthof.
Als Helen sich schließlich wieder in Kleidung wagt, hat sie dennoch keine Lust mehr herumzulaufen. Ihr Gesicht sieht immer noch schlimm aus. Sie meint, in der Sonne kann sie nicht wandern und höchstens Abendspaziergänge machen, auch weil man sie dann nicht so genau sehen kann.
Mittlerweile sind zwei der drei kostbaren Urlaubswochen herum. Nicht einmal die Hälfte der vorgenommenen Aktivitäten haben sie bewältigt. Im Fotoapparat steckt noch immer der erste Film, und das beim ersten Urlaub in den Bergen. Als die dritte Woche anbricht, sind beide so hoffnungslos zerstritten, dass Andreas allabendlich in den Gasthof entschwindet, Helen leise heulend ihr Abendessen auf dem kühlen Balkon hinunterwürgt und sie am Ende gar nicht mehr mit einander sprechen. Die Pensionswirtin tadelt, dass es falsch ist, sich am Anfang in den Bergen gleich zu viel zuzumuten. Dieser Ratschlag kommt leider zu spät. Doch hätte sie den beiden das rechtzeitig gesagt, hätten sie es bestimmt nicht beherzigt, weil drei Wochen Urlaub doch nur drei Wochen Urlaub sind, auf die man sich das ganze Jahr freut und die man nicht verplempern kann.
Auf der Rückfahrt stehen sie wieder im Stau. Helen hat einen riesigen Sonnenhut auf und drei Lagen Puder auf der roten Nase.
„Ach“, seufzt sie, „bin ich froh, wenn wir wieder zu Hause sind. Urlaub ist ja schön, aber nach Hause kommen ist dann auch wieder schön.“
„Vorausgesetzt, der Stau bewegt sich heute noch.“
„Ich rufe mal Sandra an, dass wir vielleicht später kommen. Sie soll noch mal die Katze füttern.“
„Das wird sie doch heute früh gemacht haben. Das reicht. Sie weiß, dass man mit dem Auto nicht auf die Minute planen kann.“
„Du kennst sie, an solche Eventualitäten denkt sie nie. Womöglich hat sie ohnehin vergessen, wann wir kommen.“
Helen kramt ihr Handy hervor.
„Also, Sandra, wir stecken in einem furchtbaren Stau, kommen bestimmt später. Hat die Katze genug zu fressen? ... Das ist lieb, das du noch mal nach ihr schaust. ... Oh ja, ich habe mir zwar einen dollen Sonnenbrand geholt, aber wir hatten prächtiges Wetter. Und eine Landschaft, sag ich dir, wie im Bilderbuch! ... Ja, richtig gewandert sind wir auch. ... Ihr solltet da auch mal hin. Schon die Luft, man ist wie neugeboren ... na, wir sehen uns dann ja, und vielen Dank, dass du noch mal vorbei sehen willst.“
„Ganz schön dick aufgetragen“, meint Andreas.
„Na, sag bloß: das Wetter war doch toll und die Pension auch, die Landschaft war doch ein Erlebnis. So ein Sonnenbrand, der geht ja vorüber.“
„Na ja, wir hatten uns wohl etwas viel vorgenommen. War eben mal ganz was anderes. Bin gespannt, wie die Bilder werden.“
„Jedenfalls haben wir doch mal was ganz anderes gesehen. Immerhin waren wir noch nie in den Bergen. Nächstes Mal wissen wir schon Bescheid und machen nicht die gleichen Fehler.“
„Nächstes Mal fahren wir nach Dänemark, das ist nicht so weit.“
„Mir ist schon ganz schlecht, wenn ich ans Büro denke. Diese blöde Karla Löhning hat bestimmt fein die Arbeit gestapelt, bis ich wieder da bin.“
„Ja, will auch noch gar nicht an den Montag denken. Ist immer viel zu kurz, so ein Urlaub.“
„Richtig, jetzt noch eine Woche zum Erholen und Ausruhen, das wäre toll.“

Copyright © by Yvonne Habenicht
Deutschland/Berlin 2003

Die schönste Jahreszeit, der Urlaub, ist für Helen und Andreas stets am schönsten, wenn sie ihn planen. Doch bricht der Urlaub an, sind reichlich Pannen im Gepäck.Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Entscheidung am Bahnhof Zoo von Yvonne Habenicht



Die Geschichte spielt im Berlin der 90er Jahre.

Den beiden Freundinnen Andrea und Sigrid hat im Laufe weniger Monate das Schicksal übel mitgespielt. Mit dem Weihnachtsfest scheint sich eine positive Wende anzukündigen. Andreas Beziehung zu Wilfried Ruge, die anfangs unter keinem guten Stern zu stehen schien, festigt sich. Auch ihre Freundin glaubt in Wilfried ein verlässlichen Kameraden zu sehen. Beide Frauen nehmen ihr Schicksal optimistisch in die Hand.

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