Diethelm Reiner Kaminski

Dann is ja alles jut



Oma Wriedt liegt mit ihrem kleinen zusammengeschrumpften Körper wie verloren in dem viel zu großen Bett. Die Augen hält sie geschlossen. Mit dem Sehen ist es nicht mehr weit her, aber dafür kann sie für ihr hohes Alter noch halbwegs gut hören. So ist es fraglich, ob sie Niels und Ralf, ihre 15- und 16-jährigen Enkel, überhaupt erkannt hat, die es sich nicht haben nehmen lassen, sie im Altersheim zu besuchen, um ihr zu ihrem Neunzigjährigen zu gratulieren. Sie haben ihr sogar eine selbst gebackene Erdbeertorte mitgebracht. Mit den schönsten Früchten haben sie in der Mitte der Torte die Zahl 90 gelegt. Die Unterhaltung, sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, bestreiten die Jungen, während die Oma zwar nicht antwortet oder fragt, aber dem Geplapper über Schule, Ferien, Familie immerhin zu lauschen scheint.
Sie winkt Ralf mit ihrer welken Hand zu sich heran. Er beugt sich über sie, um sie besser zu verstehen.
„Wie spät ist es?“, fragt sie mit zitteriger Stimme.
„Eine Minute nach Fünfe.“
„Stellt den Volksempfänger an. Frontbericht.“
Ralf drückt auf die On-Taste des kleinen Radioweckers auf dem Nachttisch. Der Nachrichtensender ist dort voreingestellt.
 
„…. wurden in mehreren Angriffswellen Stellungen der Hisbollah im Osten der Bekaa-Ebene bombardiert.“
 
„Osten?“ fragt Oma Wriedt aufgeregt, „Haben wir denn im Osten immer noch nicht gesiegt?“
„Noch nich janz, Oma, aber bald. Wir stehen schon tief in Sibirien. Omsk, Tomsk, Irkutsk, allet schon einjenommen.“
Niels hat gerade ein Referat über Sibirien in der Schule gehalten und kennt sich gut aus in der Geographie Russlands.
„Aber die Kälte …“, murmelt Oma Wriedt.
„Allet halb so schlimm. Von wejen Klimawandel un so, wenn de vastehst, wat ick meine.“
„Dann kommt mein Erwin bestimmt bald nach Hause.“
„Der is schon so jut wie hier“, tröstet Niels seine Oma. „Dauert aber noch´n Weilchen. Die müss´n sich erst noch mit de Japsen auf Kamtschatka vaeinijen, und dann jemeinsam ruff uff de Schinesen. Und dann herrscht Ruhe im Karton.“
 
„…. brachte Frankreich einen Antrag im Weltsicherheitsrat ein …“
 
Beim Namen Frankreich wird Oma Wriedt ganz unruhig: „Was ist mit Frankreich? Wie steht es an der Westfront?“
„Allet friedlich, allet friedlich, die Westfront is uffjelöst. Deutsch-französische Freundschaft und so“, beruhigt Ralf sie.
„Dann is ja alles jut“.
Oma Wriedt ist eingeschlafen, ein glückliches Lächeln im Gesicht.
„Siehste“, sagt Ralf, „is doch meine Rede. „Mit de Wahrheit darfste det nich so jenau nehmen. Mit Lügen machste die Menschen viel glücklicher. Der jünstige Frontbericht war Omas schönstes Jeburtstagsjeschenk.“
 

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