Michael Reißig

Gedanken zu meinem fünfzigsten Geburtstag

Fünfzig - ich mag es selbst kaum glauben. Für mich bei weitem nicht nur eine runde, auf goldigen Lettern prangende Zahl, die wie ein Damoklesschwert stumm und unheimlich über meinem Kopf grinst, sondern viel viel mehr.
Wenn es mir vergönnt wäre, hundert, diese ominöse magische Zahl auf meiner Lebensleiter zu erklimmen, bliebe noch genügend Zeit, den Rest meines Lebens mit vielen kreativen Inhalten zu füllen.
Für mich Anlass genug, über den Sinn meines Lebens wieder einmal etwas gründlicher als sonst, nachzudenken.

Am siebenten Oktober 1960 hatte ich das erste Mal das Licht der Welt erblickt.
Siebenter Oktober - einige von euch würden wahrscheinlich sagen, da war doch mal was.
Richtig - Republikgeburtstag. Elf Jahre war die DDR, der zweite Staat auf deutschem Boden gerade alt geworden. Dreißig lange Jahre sollten noch hinzukommen.
Waren es sinnlose, vielleicht sogar vergeudete Jahre?
Wie oft habe ich mir diese Frage gestellt und konnte bis heute noch keine vollständige Antwort darauf finden.
Aufgewachsen war ich auf dem Lande wo sich die Füchse Gute Nacht zu sagen schienen. Eine von zahllosen Schlaglöchern durchbohrte Dorfstraße, heruntergekommene Häuser mit eklig- bröckelnden Fassaden, ein schmuckloser Dorfkonsum mit kümmerlichem Warenangebot - so wie es damals in der „Zone”, in jener Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien, eben war.
Gänge es nach westlichen Maßstäben, hätte ich sagen müssen, eine ärmliche Kindheit gelebt zu haben.
Ein Auto besaßen meine Eltern nicht, auch nicht für den wegen seiner banalen Konstruktion so oft belächelten „Duroplastbomber” namens Trabbi, reichte ihr schmales Einkommen nicht. Dennoch war ich meistens zufrieden und auch glücklich.
Sobald aber ein nach Schokolade und Kaffee duftendes Paket aus dem Westen eingetroffen war, blieb doch ein fahler bitterer Beigeschmack stets an mir hängen.
In diesem Moment war meine Sehnsucht riesengroß, einmal die traumhaft glitzernde Warenwelt des „goldenen Westens” - wie es im östlichen Wortjargon nicht selten hieß - aus eigenen Augen bestaunen zu dürfen.
Doch es sollte halt nicht so sein. Ich musste mich mit dieser unnatürlichen Teilung - obwohl ich diese nicht wollte - abfinden.
Dennoch hatte ich den DDR-Alltag nicht nur in abstoßend-grauen Farben gesehen.
Selbst über scheinbare Kleinigkeiten konnte ich mich so richtig natürlich freuen.
Obwohl meine Eltern jeden mühsam ersparten Alupfennig meistens dreimal umdrehen mussten, hatten sie sich und mir fast jedes Jahr eine Urlaubsreise gegönnt. Meistens ging es zwar nur in den Thüringer Wald, manchmal auch an die Ostsee - aber ich war hochzufrieden und überglücklich, besonders dann, wenn ein salziges Lüftchen meine staunenden Augen umspielte und wenn der feinkörnige Sand zum Bau von Sandburgen ermunterte. Ich war fasziniert von der scheinbaren Unendlichkeit des Meeres und machte mir keine Gedanken, dass jenseits des Horizont's der unsichtbare Eiserne Vorhang lag.

Viele Lebenswege waren im Alltag der ehemaligen DDR vorgezeichnet - soziale Risiken hatte Vater Staat den Menschen bewusst aus dem Weg geräumt. Aber die Fürsorge dieses allmächtigen Staates kannte auch seine Grenzen.
Jeder konnte und musste einen Beruf erlernen. Wer nicht arbeiten wollte, bekam den harten Arm des Gesetzes zu spüren. Diesbezüglich kannten die Organe des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates keinen Pardon. Kindern und Jugendlichen, die in der Schule oder auf Arbeit keinen Bock hatten, drohte der Jugendwerkhof oder später sogar der Knast.
Jetzt erscheint es mir so unwirklich anders. Die von der alten Bundesrepublik geerbte antiautoritäre Erziehung hatte nicht nur positive Früchte getragen.

Mein beruflicher Werdegang hingegen war bis zum Umbruch im Jahre 1989 in geordneten Bahnen gelaufen.
Ich hatte Schlosser - einen anständigen Beruf - erlernt. In dem Textilbetrieb, indem ich bis Ende 1990 geschafft hatte, war alles total heruntergekommen. Organisatorisch klemmte es an allen Ecken und Kanten. Entweder fehlte das Material oder es waren gerade die Erzeugnisse geliefert worden, die gerade nicht benötigt wurden.
Die Maschinen stammten noch aus den Fünfzigern - einige hatten sogar in der Vorkriegszeit schon ihren Dienst versehen. Viel Improvisation war gefragt, um die Produktion noch aufrecht erhalten zu können.
Spätestens in den achtziger Jahren war auch mir klar geworden, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.
So war auch ich von Anfang an für einschneidende politische Veränderungen auf die Straße gegangen.
Und die Umwälzungen kamen auch, nur viel schneller als ich es eingangs erwartet hatte.
Meine Entlassung kurz vor Weihnachten 1990 war für mich deshalb nicht wie der berüchtigte Blitz aus heiterem Himmel gekommen.
Dass dieser völlig heruntergewirtschaftete Betrieb mit seiner vorsintflutlichen Technik unter marktwirtschaftlichen Bedingungen keine weitere Existenzgrundlage finden konnte, war mir von vornherein klar.
Dennoch hatte ich den festen Glauben besessen, dass sich rasch neue Unternehmen ansiedeln würden.
Doch es sollte anders kommen. Helmut Kohls Traum von schnellen blühenden Landschaften war so schnell wie eine Seifenblase geplatzt.

Dann stürmte vieles auf einmal - so wie bei einem unvorhersehbaren Tornado - auf mich ein. Es folgte eine Umschulung, mehrere Weiterbildungen - alles nur mit mäßigem Erfolg. Zwischendurch sollte ich immer wieder in den sauren Apfel der Arbeitslosigkeit beißen, was zur Folge hatte, dass ich mich ständig neu orientieren musste.
Als dann noch meine langjährig währende Partnerbeziehung in die Brüche gegangen war, wollte auch meine Gesundheit nicht mehr so richtig mitspielen.
Mein Leben war nun total aus den Fugen geraten. Die Wirbelsäule hatte mir wegen meiner Skoliose des Öfteren starke Schmerzen verursacht und auch eine
chronische Atemwegserkrankung nach einer Nasen-Operation hatte mir sehr zu schaffen gemacht.

Die „nette” krächzende Dame im Arbeitsamt hatte mir den Stempel „unvermittelbar" aufgedrückt, nachdem sie mir den Bericht des Medizinischen Dienstes in gleichgültig, monoton klingender Stimme vorgetragen hatte.

Eine unumstößliche Tatsache, die mir extrem unter die Haut gegangen war.
Ich fühlte mich als Totalversager, als Mensch zweiter Klasse, als einer, der in diesem gnadenlosen System nichts mehr wert war und auch als ein Mensch, der in dieser Ellenbogengesellschaft keine Existenzberechtigung mehr sah.
Lähmende Angst und die Zwänge viele Dinge ständig kontrollieren zu müssen, waren ein ständiger, ein wahrer und zudem noch ein unrühmlicher Begleiter meines Lebens.
Schwere Angst- und Panikattacken hatten mich gefangen genommen - gefangen in Hilflosigkeit, zerflossen in unsägliches Selbstmitleid. Manchmal hatte ich mich schon mit dem Gedanken getragen, meinem sinnlos erscheinenden Leben ein jähes Ende zu setzen.
Heute bin ich heilfroh, es doch nicht getan zu haben.
Mehrere Klinikaufenthalte hatten schließlich zu meiner befristeten Frühberentung geführt.
Eine unumstößliche Tatsache, die mich tief ins Mark getroffen hatte. Aber was wäre die Alternative gewesen? Diesem permanenten Leistungsdruck hätte ich in dieser Gemütslage niemals standhalten können.
Fortan hatte mich aber rin schlechtes Gewissen geplagt.
„Andere machen sich für ein paar mickrige Euros die Finger schmutzig und ich liege dem Sozialstaat lästig auf der Tasche”, geisterte es unentwegt durch die Windungen meines Hirns.

Diese quälenden Schuldgefühle wollten einfach nicht weichen - und dann noch dieses nicht enden wollende Grübeln.
Ich wusste sehr wohl, so wie jetzt, kann es wirklich nicht weitergehen.
Verdammt - was könnte ich nur tun, um diesen wahnsinnigen Gedanken zu entfliehen?
Gleichgesinnte suchen, wäre wahrscheinlich die beste in Frage kommende Lösung.
Aber wo könnte ich dieses Klientel nur finden!.
Lange Zeit hatte ich Kontakte zu Menschen gemieden, um ja nicht als Verrückter - so hatte ich mich selbst eingeschätzt - erkannt zu werden. Und auch Bekannte von einst sollten möglichst nicht erfahren, wie sehr ich doch durch den Wind war.

Reiner Zufall war es, der mich zu einer Begegnungsstätte des Diakonischen Werkes geführt hatte, deren engagierte Mitarbeiter mit viel Herzblut, aber auch mit abwechslungsreichen Angeboten dafür Sorge trugen, dass Menschen mit tief klaffenden Wunden in der Seele, neue Kontakte zu anderen Leidensgenossen knüpfen konnten - eine unabdingbare Voraussetzung, um den Boden unter den Füßen nicht gänzlich zu verlieren.

Im Rahmen einer Autorenlesung war ich einer sozial sehr engagierten Autorin begegnet.
Auch sie hatte oft nicht auf der Sonnenseite des Lebens gestanden. Die hochdramatischen Ereignisse ihres Lebens - eine ganze Kette unglücklicher Verstrickungen - hatte sie in ihrem Erstlingswerk gebündelt.
„Ganz schön mutig für eine Hartz IV-Empfängerin”, erkannte ich mit vollster Bewunderung die Leistung dieser Frau an.
Das war der Knackpunkt in meiner Krise. Plötzlich sah ich nicht nur einen Ausweg aus dieser misslichen Situation, sondern merklich helleres Licht am Ende dieses rabenschwarzen Tunnels.
Selbst heute noch mag ich es kaum glauben, was mir vor zwei Jahren widerfahren ist.
Das Schreibfieber hatte mich nun vollends gepackt - einen Eifer, den ich gar nicht mehr von mir kannte.
Zuerst hatte ich ein Gedicht zum Thema Depression verfasst. Bald schon sollte meine erste Kurzgeschichte folgen.
Wichtige Worte waren mir anfangs nur sehr spärlich aus meinem Gedächtnis geglitten.
Von Tag zu Tag wuchs jedoch die Freude Gedanken und Gefühle aufs Papier zu bringen.
Mit zunehmender Dauer sah ich die Welt aus anderen Augen. Plötzlich war ich nicht mehr dieser melancholischen Bitterkeit hilflos ausgeliefert.
Auch meine Einstellung zum Leben hatte sich - nicht zuletzt dank meiner literarischen Ergüsse, in der sich mein Seelenleben sehr oft widergespiegelt hatte -generell gewandelt.
Den Wert eines Menschen definierte ich nun nicht mehr nur an seiner Schöpfung in Bezug auf die Erwerbsarbeit.
Vor allem hatte ich seither die inneren Werte eines Menschen sehr schätzen gelernt - Eigenschaften wie Menschlichkeit und Bescheidenheit, Tugenden die in dieser schillernden Scheinwelt zügellosen Konsums kaum noch gefragt sind.



Mein neues privates Glück habe ich mittlerweile auch gefunden.
Die virtuellen Welt des Internets hat uns zueinander geführt.
Warum auch nicht!
Ich genieße in vollen Zügen das Geschenk Gottes, in den Armen meines lieben treuen Schätzchens liegen zu dürfen.
Auch sie sieht in Bescheidenheit eine Zierte - wie es in einem trefflichen Spruch so schön heißt.
Die Folgen ihrer schwerer Schicksalsschläge hatten ebenfalls tief im Inneren dieser tapferen Frau, die vom sechsten Lebensjahr an mit der unheilbaren Lungenkrankheit COPD leben musste, schreckliche Narben hinterlassen.
Geteiltes Leid ist eben nur noch halbes Leid. Wie schön, dass es so ist!

Aber nicht nur mein neues Glück hat meinem Leben wieder einen neuen Sinn gegeben.
Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. damals hatte ich mich schon über kleinste Dinge diebisch gefreut, sei es bei den tollen Spielchen mit dem drollig-süßen Wellensittich, aber auch wenn die Züge der Modelleisenbahn ihre Runden drehten, übermannte mich das irre Gefühl unwiderstehlicher Glückseligkeit. Freuden die mir in Krisenzeiten völlig abhanden gekommen waren, die ich aber mit fortgeschrittener Genesung wieder schätzen gelernt habe.
Jetzt erfreut mich schon der simple Anblick eines rauschenden glitzernden Bächleins, umschmeichelt vom hellen Gesang unserer gefiederter Frohnaturen.
Auch den Anblick der über der Elbe sich aufschwingenden Silhouette des neuen charmanten barocken Dresdens mit der Semperoper und der wieder auferstandenen Frauenkirche, auf dessen prunkvollem Bau diese einmalig schöne Kuppel thront, lassen mein Herz ein jedes Mal höher schlagen.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich diesen visuellen Augenschmaus allenfalls nur am Rande wahrgenommen.

An der Seite meines lieben Schatzes werde ich in gemütlicher Runde, im engen Freundeskreis, mein stolzes Jubiläum feiern.
Den folgenden Jahren sehe ich endlich wieder mit etwas mehr Zuversicht - einer Zuversicht, die mir zuweilen völlig abhanden gekommen war.

Erwähnen möchte ich noch, dass ich bei der Gestaltung einer Zeitschrift aktiv mitwirke, einem Blatt welches ausschließlich das Seelenleben von psychisch beeinträchtigten Menschen reflektiert - sei es in Form von Gedichten, aber auch in mitunter sehr unter die Haut gehenden Erzählungen.
Für mich wahrlich eine Bereicherung, in der ich meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen kann, aber auch eine sinnstiftende Tätigkeit, die mein verloren gegangenes Selbstwertgefühl enorm gestärkt hat.

Gleich werde ich mit meinen Freunden das Glas erheben - auf das noch weitere fünfzig Jahre folgen mögen!




Anmerkung: Heute begehe ich wirklich mein 50-jähriges Jubiläum.
Eine wahre Geschichte!  

Dieses ist eine autobiographische Geschichte - eine Reise in eine längst vergangene Zeit, in der ich einen Rückblick auf mein bisheriges Leben gewagt habe.
Zugleich spielt auch mein eigenes Schicksal in dieser Geschichte eine sehr gewichtige Rolle.
LG. Michael
Michael Reißig, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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