Michael Dauk

Überraschend nach Amsterdam

Am Neujahrsabend saß ich in meiner Stammkneipe und klönte mit zwei Freunden. Ich konnte es mir zeitlich leisten, war der folgende Tag doch ein Sonnabend, und ich musste nicht arbeiten. Wir waren gerade tief im Gespräch vertieft, als Jürch den Laden betrat. Selbstverständlich sollte er sich zu uns setzen. Wir mochten ihn schließlich. Nach zwei Bieren fragte er mich unmittelbar, ob ich am nächsten Tag mit nach Amsterdam kommen wollte, um ein Konzert der Belgischen Gruppe „Vive la Féte“ anzuhören. Als ich ihm entgegnete, dass ich überhaupt kein Geld hätte, meine er nur wegwerfend, dass dieses nun wirklich kein Hinderungsgrund wäre. Er wollte mir die Kosten auslegen, bis ich in der Lage wäre, sie ihm zu erstatten. Es dauerte eine geraume Zeit und einige Biere, bis er mich überzeugt hatte. Schließlich sagte ich zu. Ich war seit über zweiundzwanzig Jahren nicht mehr in Amsterdam gewesen und hatte nur die angenehmsten Erinnerungen an diese Stadt. Wir wollten uns am nächsten Tag um elf Uhr vormittags an seinem Wohnmobil treffen. Daher trank ich mein Bier aus und ging nach Hause, um nicht halb betrunken die Fahrt antreten zu müssen.


Lange vor der vereinbarten Zeit war ich schon wach, frühstückte, duschte und trank mehrere Becher Kaffee, um die Fahrt richtig genießen zu können. Weil ich nur die Beifahrerrolle einnehmen würde, konnte ich mich also ausschließlich auf das Betrachten der Landschaft und das Aufnehmen der vorbei fliegenden Ortschaften konzentrieren. Zunächst galt es jedoch, erst einmal das Auto in Gang zu bekommen. Dieses betagte Wohnmobil mit dem Daimler-Motor wollte nur sehr zögerlich anspringen und irgendwann einmal rund laufen. Weil Jürch äußerst geduldig war, gab das Autochen endlich seinen Widerstand auf. Damit begann aber noch nicht die eigentliche Fahrt, nein, das Kind hatte noch Durst, und außerdem mussten noch Getränke und ausreichend Tabak für den Ausflug besorgt werden. Dann ging es aber wirklich los. Bei Sonnenschein tauchten wir in den Elbtunnel ein und nahmen den Weg nach Bremen in Angriff. Die Autobahn A 1 schien eine einzige Baustelle zu sein. Sie wird auf sechs Spuren ausgebaut. Alle gefühlten zwölf Kilometer fädelten wir in eine sechs Kilometer lange Engstelle ein. Also bestand die Hälfte der Strecke bis weit hinter Bremen aus Baustellen mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von achtzig Kilometern in der Stunde. Uns warf das nicht so sehr zurück, fuhr Jürch doch aus Ersparnisgründen ohnehin nicht schneller als neunzig. So ein alter Motor fängt eben bei höheren Geschwindigkeiten an zu saufen. Ich kannte das zur Genüge aus der Zeit, während der ich noch einen betagten VW-Bus besaß.

Bei der ersten Pinkelpause kurz hinter Bremen begann ein leichtes Schneetreiben. Jürch schaute mich an und fragte:

Und was machen wir jetzt?“

Na, Weiterfahren natürlich! Schließlich sind wir fast da!“


Es lagen noch über 300 Kilometer vor uns. Obwohl der Schneefall sogar noch stärker wurde, sagte Jürch anschließend nichts mehr zu diesem Thema, sondern fuhr einfach weiter. Seine Befürchtungen bezüglich der aufgezogenen Sonnerreifen erwähnte er nicht weiter. Leider versank auch die umliegende Landschaft auf Grund der fallenden Flocken hinter Wattebäuschen. Aber die Fahrt wurde durchaus nicht langweilig. Zum Glück ist Jürch kein Anhänger seichter Hintergrundmusik. Wir hörten anfänglich den Deutschlandfunk, bis der Empfang so schlecht wurde, dass kaum noch etwas zu verstehen war. Also wechselte Jürch auf WDR 5, das eine ähnliche Programmstruktur hat wie der DLF. Also Informationen und Reportagen stehen im Vordergrund, kein Gedudel. Allmählich wurde das Wetter wieder besser, und die Umgebung war besser zu erkennen. Wir fuhren durch eine Winterlandschaft. Die Felder waren schneebedeckt, die Bäume weiß überzuckert. Niedrig geduckte Bauernhäuser schienen von einem Winterzeichner illustriert. Die Seen und kleinen Flüsse waren eisbedeckt. Es war ein faszinierender Anblick. Und als wir endlich auf die A 30 Richtung Amsterdam einbogen, fuhren wir sogar hellerem Himmel entgegen.


Während der Fahrt zeigte das alte Wohnmobil all seine Mängel. Die Motortemperatur überstieg auf Grund des eisigen Fahrtwindes kaum 60° C, aus den Heizungsdüsen strömte nur ein lauwarmes Lüftchen, es klapperte an allen Ecken und Enden und überdies zog es aus diversen undichten Stellen. Es war kein klimatisch gemütlicher Ausflug. Ich saß auf dem Beifahrersitz, angetan mit Pullover, Jacke und dickem, pelzgefütterten Lammfellmantel. Dieser alte Mantel war einfach nur für einen Aufenthalt im Freien gedacht. Er hatte nämlich die Eigenschaft fast aller Lammfellmäntel: Er stank. Bei Bewegung in der frischen Luft war mir dieses bisher nur schwach aufgefallen. Jetzt aber, in der Enge des Wagens, sieg mir aus dem hochgestellten Kragen ständig dieser Geruch in die Nase. Ich wusste genau: Mein Jackett aus Schurwolle würde das Aroma annehmen. Als ich Jürch auf diese Tatsache aufmerksam machte, meinte er nur lakonisch:


Hab´ ich mir also einen Iltis ins Bett geholt“

Beim Grenzübertritt in die Niederlande erfuhren wir die die Segnungen der Europäischen Union. Wir rauschten an den verwaisten Grenzabfertigungsgebäuden vorbei und hatten es auch nicht nötig, Geld zu wechseln. Leider schien das Wetter nicht grenzüberschreitend zu sein. War es auf den letzten einhundert Kilometern in Deutschland noch angenehm hell und trocken, umfing uns in Holland wieder der Dunst, und es begann, erneut zu schneien. Ich darf in diesem Zusammenhang tatsächlich von Holland und nicht von den Niederlanden sprechen, denn wir befanden uns in der Provinz Noord-Holland. Signifikant war der Unterschied der Autobahnstruktur. Die Hinweisschilder waren viel häufiger hier, die Ein- und Ausfahrten erheblich großzügiger ausgelegt, die Asphaltdecke wies eine deutlich bessere Qualität auf, und die Tankstellen und Rasthäuser tauchten in angenehm höherer Frequenz auf. Eine dieser Einrichtungen mussten wir aufsuchen, weil der Tank nach Nachschub verlangte. Hinterher ärgerte sich Jürch ein wenig, nicht noch in Deutschland getankt zu haben. Das Benzin war hier um durchschnittlich zwanzig Cent teurer als bei uns. Dafür gestaltete sich die Umgebung erstaunlich abwechslungsreich, jedenfalls in dieser Region Hollands. In leicht hügeligem Gelände standen Kiefernwälder, tief verschneite Heideflächen flankierten die Autobahn, und Wiesen- und Weideflächen grenzten baumbestandene Gehöfte mit dicken Schneedächern ein. Als wir die Amstel überquerten, konnten wir die weiten Überschwemmungsgebiete erkennen, die sich rechts und links des Flusses eisbedeckt erstreckten. Und dann immer wieder Gewerbe- und Industriesiedlungen längs der Strecke, häufig interessant anzusehen durch futuristische Architektur.


Wir hatten gehofft, noch im Hellen Amsterdam zu erreichen. Das schlechte Wetter machte uns leider einen Strich durch die Rechnung. Schnell wurde es dunkel, und die Nacht legte sich über das flache Land vor der großen Stadt. Dadurch wurde die Fahrt nicht anstrengender, denn die niederländischen Autobahnen sind durchgängig beleuchtet. Schon lange vor Erreichen des Autobahnringes um die Stadt lag rechts von uns eine sehr große Wasserfläche mit vielen Lichtern. Ob es fahrende Schiffe oder Häuser des anderen Ufers waren, konnte ich wegen des Dunstes nicht ausmachen. Am Ende der holländischen A 1 bogen wir in den Ring Richtung Zentrum ein und gelangten nach erstaunlich kurzer Zeit an den Hauptbahnhof. Das Dach des Gebäudes war noch mit Millionen von weißen Lichtpunkten geschmückt, die meine Vorfreude auf diese Stadt noch verstärkten. Leider sahen wir das imposante Gebäude nur von der Rückseite, denn dieses 120 Jahre alte Gebäude weist auf der Eingangsseite eine Neorenaissancefassade auf, die äußerst beeindruckend ist. Jürch bog auf die nächste Straße Richtung Zentrum ein, und schon waren wir eingetaucht in das pulsierende Leben einer Großstadt. Schlagartig war es vorbei mit dem entspannten Fahren. Straßenbahnen, Omnibusse, PKW und Radfahrer, Radfahrer, Radfahrer belebten die Straßen. Für die Radfahrer schienen die Verkehrsregeln nicht zu gelten. Besonders rote Ampeln wurden von ihnen konsequent ignoriert. Und weil trotz des Schneetreibens und der Dunkelheit immer noch eine große Zahl von ihnen unterwegs war, musste Jürch höllisch aufpassen, um nicht mit ihnen zu kollidieren. Ich hatte es besser, ich konnte mir die interessanten Gebäude ansehen, an denen wir vorbei fuhren. Und es gab so viele lebendige Geschäfte, Kneipen, Restaurants, Bars, Coffee-Shops, Kioske, Hotels und Läden!


Jürch hatte ursprünglich vorgehabt, am Rand vom Amsterdam einen geeigneten Parkplatz zu suchen, von dem wir gegebenenfalls mit der Straßen- oder U-Bahn ins Zentrum gelangen konnten. Aber bereits nach kurzer Fahrt entschloss er sich, sofort einen Platz für die Nacht zu suchen. Wir bogen von der lebhaften Hauptstraße ab, fuhren einmal im Kreis, um dann in eine schmale Nebenstraße längs einer Gracht einzubiegen. Dort fanden wir auch sehr schnell einen ruhigen Parkplatz. Es handelte sich um eine gebührenpflichtige Zone. Während Jürch noch das Auto verschloss, studierte ich die Preisliste des Parkautomaten. Als Jürch bei mir ankam, meinte ich zu ihm:

Da solltest du lieber noch einmal zu einem Geldautomaten gehen!“

Die Parkgebühren waren von exorbitanter Höhe. Eine Stunde kostete vier Euro. Und unser geplanter Aufenthalt bis zum nächsten Morgen hätte 36 Euro gekostet. Ich schaute mir den Windschutzscheibenbereich der benachbarten Wagen an: Nirgendwo ein Ticket zu entdecken. Weder Ticket noch Parkschein. Jürch meinte dann:

O.K., riskieren wir´s!“

Er schrieb sich noch den Straßennamen auf, damit wir nicht später in dunkler Nacht ziellos umher irrten. Van Reigenbergenstraat.


Jetzt mussten wir zunächst etwas zu Essen haben. Und uns in eine warme Umgebung begeben, denn wir waren beide völlig durchgefroren. Wir schlenderten die Gracht mit den Hausbooten entlang, als Jürch plötzlich rief:

Mensch, die haben hier ja überhaupt keine Geländer!“

Tatsächlich: Kein Zaun, keine irgendwie geartete Barriere schützte vor der Uferkante. Sofort ging ich in respektvollem Abstand zum Wasser entlang. Bei meinem Treppensturz war mein rechtes Brillenglas zerstört worden, und das neue war noch in der Fertigung. Ich konnte mit dem linken Auge zwar recht gut und scharf sehen, aber das Einschätzen der Entfernung fiel mir äußerst schwer. Es fehlte der rechte Stereoeffekt. Es belastete mich nicht sonderlich, ich konnte ja noch alles erkennen. Sonst hätte ich diese Fahrt auch überhaupt nicht mitgemacht.


Wir erreichten wieder die Hauptstraße und machten uns auf den Weg Richtung Zentrum. Jürch fragte einen Passanten nach dem Weg zum Veranstaltungsort „Paradiso“. An der nächsten Kreuzung rechts und dann noch zehn Minuten Fußweg. Na, besser konnte es ja kaum kommen! An der Kreuzung schauten wir in diese Straße, beschlossen dann aber, zunächst auf der Hauptstraße zu bleiben, weil sie belebter war und das schnellere Finden eines Restaurants versprach. Auf der anderen Seite lag ein mexikanisches Restaurant. „Mexikanisch?“ fragte mich Jürch. Ich weiß nicht, warum ich ablehnte, ich mag mexikanisches Essen. Die Auswahl der Restaurants war auf diesem kurzen Stück Straße überwältigend. Eben mexikanisch, natürlich indonesisch, indisch, japanisch, chinesisch, arabisch, türkisch, afrikanisch, spanisch, skandinavisch, australisch und ich weiß nicht, wie viele –isch noch vertreten waren. Es gab auch holländische Lokale. Was suchten wir uns aus? Einen Italiener! Im Nachhinein ärgerte ich mich, nicht einem der anderen interessanten Angebote gefolgt zu sein. Aber im Moment ging es nur darum, ins Warme zu kommen. Wir belegten in dem gut besuchten Lokal einen Zweiertisch am Fenster. Während Jürch zur Toilette ging, die sich an eine kleine Empore im hinteren Teil des Restaurants anschloss, bemerkte ich, wie von dem einfach verglasten Fenster eine unangenehme Kälte aus ging. Als Jürch dann zurück kam und mir zurief „Da oben ist es viel wärmer, und da ist noch etwas frei!“, stand ich sofort auf und folgte ihm zu den angenehmeren Temperaturen. Auch dort fanden wir einen Zweiertisch und freuten uns über die dort herrschende, angenehm wohlige Wärme. Ich war derartig durchgefroren, dass ich den zunächst bestellten Kaffee nur mit beiden Händen unter äußerster Konzentration zum Mund führen konnte, so sehr zitterten mir die Hände. Jürch bestellte sich todesmutig ein Bier. Allein vom Zuschauen bekam ich eine Gänsehaut. Als dann die heißen Spaghetti Carbonara kamen, ging es mir schon besser, und nach der Mahlzeit fühlte ich mich wieder wohl. Nur die bei mir nach dem Essen stets einsetzende Trägheit störte mich. Aber ich wusste, dass der Spaziergang zum „Paradiso“ mich wieder frisch machen würde. Jürch bestellte Lasagne. Ich fragte ihn nicht, wie es geschmeckt hatte, es war so deutlich genug: Er ließ fast die Hälfte des Gerichtes zurück gehen. Meine Portion aß ich vollständig auf. Es schmeckte mir ausgezeichnet, obwohl das Gericht eindeutig in der Mikrowelle erhitzt worden war.


Nun aber los. Die scharfe Kälte ließ auf der Stelle meine Lebensgeister erwachen. Schnell erreichten wir die besagte Kreuzung und bogen links in eine ruhige Straße ein, die entlang einer Gracht führte. In etlichen der vielen Hausboote brannte Licht und verbreitete ein Gefühl der Gemütlichkeit und Friedfertigkeit. Wenn nur nicht das kalte, schwarze Wasser gewesen wäre...Die Fenster der an die Straße angrenzenden Wohnungen waren häufig noch festlich erleuchtet. Ein Wintermärchen. War die Route anfangs noch ruhig und wenig belebt, wurden die Geschäfte und Lokale mit fortschreitendem Weg immer zahlreicher und lebhafter. Schließlich erreichten wir einen großen Platz, der von einigen Hotels flankiert war. Im Speisesaal des „Marriott-Hotels“ fand gerade ein erlesenes Festmahl statt. Die Tische waren auf das Sorgfältigste feierlich gedeckt, die Menschen saßen in vornehmer Abendgarderobe auf ihren mit Hussen bezogenen Stühlen, und schwarzbefrackte Kellner eilten geschäftig hin und her. Ohne, dass ich ein Wort hörte, übermittelte sich mir eine Atmosphäre der Steifheit, des Speisens in strenger Konvention. Ich wollte nicht zu dieser Gesellschaft gehören.


Am gegenüber liegenden Ufer der Gracht standen viele hell erleuchtete Gebäude, teilweise groß und mächtig. Wir waren beide der Meinung, inzwischen weit genug gelaufen zu sein. Da traf es sich gut, dass vor dem riesigen, vollständig eingerüsteten Rijksmuseum eine Umgebungskarte aufgestellt war. Wir befanden uns fast direkt gegenüber dem „Paradiso“! Ein kurzer Gang zu einer Brücke und wir waren bereits in der Straße, die uns zum Veranstaltungsort führte. Schon von Weitem sahen wir Trauben von Menschen vor dem Eingang. In Jürch zog die Befürchtung hoch, vielleicht keine Karten mehr zu bekommen. Doch die Bedenken erwiesen sich als grundlos. Ohne lange anstehen zu müssen, erhielt Jürch die Karten, und wir durften ins Innere, wieder in die Wärme. Ich wollte unbedingt meinen Lammfellmantel los werden und ging zur Garderobe. Trotz einer langen Schlange erfolgte die Abfertigung überraschend schnell. Die Leute hinter dem Tresen waren eben auf Draht. Wir gingen zunächst zur großen Freifläche vor der Bühne und waren überrascht, wie viel Platz dort noch vorhanden war. Ich meinte zu Jürch, dass ich nicht die gesamte Zeit stehen wollte und setzte mich auf die Stufen eines kleinen Podestes. Er machte mich darauf aufmerksam, dass es auch eine Empore mit Sitzplätzen gäbe. Also stiegen wir hinauf. Auf dem Rang fanden wir auch zwei Plätze mittig gegenüber der Bühne mit hervorragender Sicht auf das Geschehen. Jürch holte uns Getränke – mir nur Cola, kein Bier. Ich wusste um die Auswirkungen von Bier auf meine Blase und hatte keine Lust, in stockdunkler, eiskalter Nacht aus dem Auto zu stolpern und irgendwo in eine Ecke pinkeln zu müssen. Ich genoss die Cola trotz eines etwas merkwürdigen Beigeschmacks und hatte endlich die Muße, dieses bemerkenswerte Konzerthaus zu betrachten.


Fast neunzig Jahre lang war das „Paradiso“ ein Gotteshaus, bis es Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum Jugend-Kulturzentrum umfunktioniert wurde. Ich Laufe der folgenden Jahre etablierte es sich immer mehr zu einem Veranstaltungsort der verschiedensten Richtungen. Inzwischen sind auch klassische Konzerte ein fester Programmpunkt im Konzept der Veranstalter. Parties, Theateraufführungen, Lesungen und hauptsächlich Rock- und Popkonzerte finden jetzt dort statt. Das Gebäude steht an einer der halbkreisförmigen Grachten, die das Zentrum von Amsterdam eingrenzen. Von der kirchlichen Vergangenheit zeugen noch die die drei großen Fenster des Chores, die zur Gracht hinaus gehen. Es sind noch richtige Kirchenfenster, reich geschmückt mit Ornamenten aus farbigem Glas. Das Gestühl ist im Erdgeschoss vollständig entfernt worden, um Platz für die tanzwütige Menge und eng aneinander stehende Zuschauer zu schaffen. Zwei Emporen mit mächtigen Holzgeländern umgeben dreiseitig die Bühne, zweireihig bestuhlt und mit dahinter liegenden zahlreichen Stehplätzen ausgestattet. Die obere Empore springt ein wenig zurück und erzeugt dadurch von unten den Eindruck eines sich öffnenden Nachthimmels. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch das stichbogenartige gestaltete Dach. Wenn dann noch die riesige Kristallkugel in halber Höhe des Raumes von drei Scheinwerfern angestrahlt wurde, hatte ich den Eindruck eines blinkenden Sternenhimmels. Weiß lackierte, stilisierte, meterhohe Kirchenleuchter hingen von der Decke und kulminierten noch diese sakrale Illusion. Sonst war kein Schmuck vorhanden. Vielleicht wirkte ja gerade dieses Fehlen von Tand und Flitter auf mich so stark.


Das Konzert begann mit einem Vorprogramm. Wobei der Wortteil „Programm“ von entscheidender Bedeutung war. Ein weißlockiger Diskjockey (Programmierer? Elektroniker?) betrat die Bühne und stellte sich vor ein ausladendes Mischpult. Mit bedeutungsschwangeren Gesten setzte er einen voluminösen Kopfhörer auf, drehte an verschiedenen Knöpfen, schob Regler hin und her, trommelte auf verschiedenen Touchpads herum und wechselte immer wieder in hektischer Hast in einem CD-Spieler die silbernen Scheiben. Einen Zusammenhang zwischen dem, was er auf dem Regiepult anstellte und dem, was aus den Lautsprechern erscholl, konnte ich nicht feststellen. Ertönten zunächst rein elektronische Klänge, eintönig und ermüdend, mischten sich später Glockenfolgen ein, eintönig und ermüdend, Händelarien wurden eingespielt, eintönig und ermüdend, monumentale Orchesterwellen schlugen auf die Zuhörer ein, eintönig und ermüdend. Hin und wieder streute er theatralische Bewegungen des rechten Arms ein, während er mit der linken Hand weiter zusammenhanglos an den Knöpfen herum fummelte. Wollte er sein Werk dirigieren? Es war doch eindeutig alles vorprogrammiert! Und es war viel zu lang – und viel zu langweilig. Um von dem Konzert der Gruppe „Vive la Féte“ nichts zu versäumen, ging Jürch noch während des Vorprogramms zur Toilette. Kaum hatte er seinen Platz verlassen, wurde die Musik, nein, der Geräuschhintergrund leiser, das Mischpult wurde von der Bühne gerollt, die Musiker der Band betraten die Rampe und begannen sofort zu spielen. Tja, während der ersten Minuten mussten „Vive la Féte“ eben auf Jürch verzichten. Ob sie es verschmerzen konnten?


Der Name der Band war Programm. Die fünf Musiker machten einfach nur Party. Die Sängerin wurde unterstützt von Gitarrist, Bassist, Keyboarder und Schlagzeuger. Diese blonde Grazie, in ein schrilles Outfit gekleidet, war allein schon das Eintrittsgeld wert. Angetan mit einer engen Korsage, darunter nur einen knappen Slip und eine feine Netzstrumpfhose, tanzte sie wie ein Irrwisch barfuss auf der Bühne herum, wenn sie nicht gerade sang. Wirkten ihre Bewegungen auch manchmal etwas ungelenk, verfehlten sie doch nicht ihre Wirkung. Die Darbietung sollte selbstverständlich sexy und aufreizend wirken, ich merkte jedoch, dass sie sich selbst dabei nicht wirklich ernst nahm. Dadurch machte es noch mehr Spaß, wirkte nicht schwülstig oder ordinär. Die Gruppe selbst bezeichnet ihre Musik als Elektropop. Für mich war es eine Mischung aus Rock, Hardrock, teilweise Heavy Metal und sogar ein wenig Punk. Und auch die Begleitmusiker, die durchaus mehr als bloßer Hintergrund für die Sängerin waren, nahmen sich nicht ernst. Hier sollten keine ernsthaften, meinungsbildenden Botschaften an das Publikum gebracht werden, es wurde kein symbolischer Zeigefinger erhoben, nein, die Gesinnung, die die Musik mir vermittelte war: „Ihr wollt Spaß? Dann sollt ihr ihn haben!“ Wie schön, dass die Zuschauer die Aufforderung annahmen. Sie tanzten wie wild, sangen die Songs teilweise mit und grölten vor Begeisterung. Und als „Vive la Féte“ dann auch tatsächlich Elektronikpop anstimmte, nämlich das alte „Popcorn“ von „Pili Pili“, und zu einer krachenden, wilden Hardrocknummer ausarbeitete, kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Es hielt fast niemanden mehr auf den Sitzen, die Leute tanzten verzückt auf den Emporen. Ein alter, weißhaariger Mann stand mit einem Bierglas in der Hand am Emporengeländer und wiegte sich im Takt der Musik. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als der Gitarrist einen Mann aus dem Publikum auf die Bühne zog, ihm die bereits vorgestimmte Gitarre in die Hände drückte und ihm bedeutete, ohne Greifen den Rhythmus zu schlagen. Das vollführte er dann mit ekstatischer Begeisterung. Der Gitarrist zerrte unter tatkräftiger Unterstützung durch das Publikum ein junges Mädchen auf die Rampe, ließ sie das Mikrofon übernehmen und forderte sie auf, den Refrain zu singen. Diese Bitte brauchte er nicht zu wiederholen. Die junge Frau sang nicht nur den Refrain mit, sie modulierte ihn, variierte ihn und steigerte sich zuweilen in ein schrilles Kreischen, das überhaupt nicht fehl am Platze war. Zwei geschlagene Stunden brachte die Gruppe ihre schweißtreibende Darbietung, lediglich einmal unterbrochen durch eine fünfminütige Pause. Das war Arbeit, richtige Schwerstarbeit. Ich würde mir für zuhause keinen Tonträger von „Vive la Féte“ kaufen, auch Jürch nicht bitten, mir etwas auf welches Format auch immer zu überspielen. Es ist nicht die Musik, die ich im heimischen Ohrensessel höre. Aber dieses Konzert hat einfach nur Spaß gemacht, riesigen Spaß. Ich war begeistert.


Nachdem die Band die Bühne verlassen hatte, ertönten aus den Lautsprechern die Klänge des Strauß´schen Walzers „An der schönen blauen Donau“. Welch ein Kontrast! Aber es passte! Offensichtlich immer noch stimmungsgeladen von der vorhergegangenen Vorstellung begannen viele Leute paarweise zu tanzen oder solo Ballettübungen zu machen. Wer kam denn nur auf die Idee, nach einem solchen Konzert mit hämmernden Beats und wummernden Bässen einen klassischen Walzer zu spielen? Auf jeden Fall traf es den Nerv der Leute. Vielleicht steckte auch die Absicht dahinter, die Gemüter zu beruhigen. Falls es so war, war es von Erfolg gekrönt. Ruhig verließen die Menschen den Saal. Es gab kein Gedränge, kein Geschubse. An der Garderobe hatte sich eine disziplinierte Schlange gebildet, und ich bekam in Rekordzeit meinen Mantel zurück. Überhaupt herrschte trotz aller Euphorie eine äußerst entspannte Atmosphäre. Nicht ein einziges Mal merkte ich etwas von Aggressivität. Vielleicht lag es daran, dass das Publikum sehr gemischt war. Vertreter aller Altersklassen waren vertreten. Auch die Geschlechteranteile waren ausgewogen. Ich hatte erwartet, hauptsächlich jüngere Besucher anzutreffen. Weit gefehlt! Ich erwähnte bereits den weißhaarigen Biertänzer.


Wie nicht anders zu erwarten war, herrschte im gesamten Gebäude Rauchverbot. Die erste Aktion im Freien war also das Drehen einer Zigarette. Oh, je! Schneegestöber und eiskalter, böiger Wind. Mit zitternden Händen drehte ich mir eine unansehnliche, krumme Rolle. Wir gingen jetzt über eine andere Brücke und passierten das „American Hotel“, einem türmchen- und erkerbewehrten Prachtbau mit einem weitläufigen Vorplatz auf dem zahlreiche, weiß angestrahlte Springbrunnen ihre Fontänen in die Luft spien. Der Speisesaal des „Marriott“ war jetzt verwaist, nichts deutete mehr auf das festliche Dinner hin. Wir schlenderten die düster schimmernde Gracht entlang und waren erstaunt über die vielen Radfahrer, die sich zu dieser späten Stunde und trotz der Kälte noch auf den Straßen tummelten. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass es sich bei den Zweirädern zumeist um die typischen Hollandräder handelte. Vielleicht durch die Bauart bedingt, fuhren die Radler nicht hektisch und wild, sondern es war mehr ein ruhiges Gleiten. Nur, dass sich die Lenker eben nicht an die Verkehrsregeln hielten. Allmählich wurde mir die Umgebung fremd. Auf dem Hinweg waren wir an einer Brücke in die ruhige Grachtstraße eingebogen, auf der eine Säule mit einem Straßenplan stand. Nach dieser Säule hielten wir Ausschau. Allein – wir fanden sie nicht. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass mir der Rückweg immer kürzer vorkam als der Hinweg. Die Minuten dehnten sich jedoch, wir überquerten eine Querstraße, eine Brücke nach der anderen, ohne einen bekannten Anhaltspunkt zu finden. Sorgen machten wir uns nicht. Zur Not konnten wir ja ein Taxi anhalten und uns zur Van Reigenbergenstraat fahren lassen. Schließlich sah ich vor mir eine Straßenunterführung unter eine Eisenbahnlinie. Gerade fuhr ein Zug vorbei. Daran konnte ich mich nun wirklich nicht erinnern! Zu unserem Glück stand an der Straßenkreuzung ein Schild mit einem Umgebungsplan. Die gesuchte Straße befand sich ganz in der Nähe. Wir waren bereits zu weit gegangen. Es bedurfte dann aber doch noch eines Blickes auf den Plan einer Straßenbahnhaltestelle, um den richtigen Weg zu finden. Denn plötzlich tauchte vor uns ein Verkehrskreisel auf, der dort eigentlich hatte nicht sein dürfen. Schließlich rief Jürch „Hier sind doch die Hausboote!“ Wir waren endlich da und hatten sogar das Glück, kein Strafmandat bekommen zu haben. Da machte Jürch den grandiosen Vorschlag, nicht hier zu übernachten, sondern ungefähr eine Stunde zu fahren, um den ausgekühlten Wagen ein wenig zu erwärmen und uns dann an eine Autobahntankstelle oder Raststätte zustellen. Dort hätten wir dann zur Not eine Toilette und am Morgen einen heißen Kaffee. Sofort stimmte ich zu.


Das Wageninnere war wirklich eiskalt. Jürch folgte der Beschilderung zum Autobahnring A 10. Von dieser Amsterdam umschließenden Schnellstraße gingen Autobahnen in alle Richtungen ab. Wir mussten lediglich ein Richtungsschild zur A 1 entdecken. Dieses geschah auch nach kurzer Zeit, und bald befanden wir uns auf dem Rückweg nach Deutschland. Es war die bessere Richtung: Auf der Gegenseite gen Amsterdam standen die Autos Stoßstange an Stoßstange im Stau. Und die Schlange war lang! Was war denn los in Amsterdam? Versäumten wir etwas? Oder hatte es einfach nur einen Verkehrsunfall gegeben? Nach etwa einer Stunde Fahrt steuerte Jürch den nächst gelegenen Rastplatz an. Auf dem kaum belegten Parkbereich stellte er das Auto ab, und wir machten uns zur Nacht bereit. Nach einem vorsorglichen Pinkelgang zerrte ich meinen kalten und klammen Schlafsack aus der Fahrradtasche und entdeckte die vergessenen, selbstgefertigten Frikadellen! Ich hatte sie vorsorglich als Reiseproviant eingesteckt und von Stund´ an nicht mehr daran gedacht. Nun hatten wir wenigstens ein kleines Nachtmahl. Ich zog nur Stiefel, Mantel und Jackett aus und kroch vollständig angekleidet in den Schlafsack. Mir war einfach erbärmlich kalt.


Eine furchtbare Nacht! Ich fror wie ein Schneider. Mein alter Schlafsack war für diese Temperaturen einfach nicht gemacht. Ich hatte versäumt, mir ein Paar dicke Socken mitzunehmen und bekam bereits nach fünfzehn Minuten eiskalte Füße. Eiskalte Füße und Schlafen – das geht doch überhaupt nicht! Ich nickte ab und zu ein, um nach kurzer Zeit durch meine Eisklumpen an den Beinen wieder aufzuwachen. Ich drehte mich auf die andere Seite, dabei musste ich den Schlafsack ein wenig öffnen, und sibirische Luft umschloss mich. Ich fror derartig, dass ich in den Wachphasen lautstark mit den Zähnen klapperte. Ich hoffte nur, Jürch damit nicht aufzuwecken. Als der Morgen graute, wagte sich Jürch ins Freie, um zu pinkeln. Anschließend wickelte er sich wieder in seinen Schlafsack. Nach einigen Minuten war es auch bei mir so weit. Ich zog mich vollständig an und trat ins Freie. Ein runder Vollmond stand am Himmel, die noch tief stehende Sonne hatte alle Mühe, ihre Strahlen durch den Morgendunst zu schicken. Die Wiesen, Felder und Weiden waren schnee- und reifbedeckt, dichter Bodennebel stand vollkommen still. Eine schmale Gracht flankierte den Parkplatz, ein kleines Wäldchen schirmte unseren Platz von den Gebäuden ab. Es war schön, einfach nur schön. Und kalt. Die Kälte trieb mich schließlich wieder zurück ins Auto. Jürch hatte sich schon gefragt, wo ich denn bloß so lange bliebe. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und fragte Jürch, ob ich denn wieder in den Schlafsack müsse. Murrend erwiderte, dass er noch gar nicht ausgeschlafen sei. Als ich jedoch keine Anstalten machte, wieder meine Bettstatt aufzusuchen, kroch auch er aus dem Schlafsack und setzte sich ans Steuer. Strahlend verkündete er mir, dass die Innentemperatur -8° C betrüge. Na, großartig! Windschutzscheibe und die seitlichen Scheiben waren von einer undurchsichtigen Eisschicht bedeckt. Von innen. Wir kratzten das Zeug vom Glas und sorgten damit für erheblichen Schweinkram auf dem Armaturenbrett. Wir beschlossen einstimmig, zunächst wieder ein wenig zu fahren, um das Innere aufzuwärmen und dann erst einen Kaffe zu trinken.


Als der Innenraum erträgliche Temperaturen aufwies, fuhren wir auf die nächste Tankstelle, um Kaffee aus dem Automaten aus Pappbechern zu trinken. Der Kaffee schmeckte einfach großartig. Ich vermute allerdings, dass allein heißes Wasser mir schon köstlich gemundet hätte. Aber das Wichtigste war: Im Cafeteriabereich der Tankstelle war es warm, püttewarm, wohlig warm! Die angenehmen Temperaturen ließen meine Lebensgeister wieder erwachen. In erheblich besserer Verfassung machten wir uns wieder auf den Weg. Und was war das für ein Weg! Teilweise hatte ich den Eindruck, auf dem Alaska-Highway gen Beringstraße zu fahren. In weiten Bögen zog sich die Straße durch eine tief verschneite Winterlandschaft. Niedrige Bauernhäuser ächzten unter der weißen Last auf ihren Dächern. Die Rocky Mountains, die wir durchquerten, waren immerhin fünfzig bis sechzig Meter hoch. Vereinzelte Pferde ästen auf den verschneiten Weiden. Was fraßen sie bloß dort? Der fast nicht existente Verkehr ließ in mir das Gefühl der endlosen Weite noch stärker werden. Es war eine unaufgeregte, ruhige Fahrt. Es passte. Aus einem Sonntagvormittag auf dem Weg nach Hause. Das Wetter war immer noch trocken und hell, wenn auch von Dunst erfüllt.


Nach Passieren der deutschen Grenze änderte sich das Bild. Der Himmel zog sich zu, und die ersten Schneeflocken begannen zu tanzen. Auf der Gegenfahrbahn war ein Sattelzug von der Straße gerutscht. Der Trailer ragte steil und schräg aus dem Graben heraus. Das Fahrerhaus konnte ich nicht erkennen. Ein Räumfahrzeug und mehrer Polizeiwagen standen an der Unfallstelle. Kurze Zeit später kam uns ein schwerer Autokran entgegen, der wohl den Lastzug wieder auf die Straße heben sollte. Unvermeidlicherweise hatte sich in unserer Gegenrichtung bereits ein langer Stau gebildet. Wir hatten wirklich Glück mit unserer Richtungswahl. Kurz danach meinte Jürch zu mir, ich sollte einmal auf der Karte nach einer nächstgelegenen, größeren Stadt suchen, weil er auf dem Hinweisschild der letzten Raststätte gelesen hatte, dass die folgende Tankstelle 98 Kilometer entfernt lag. Er hatte die Befürchtung, mit dem verbliebenen Benzin es dorthin nicht mehr zu schaffen. Also nahm ich mir die Autokarte vom Handschuhfach und suchte nach den nächsten Abfahrten. Sinnigerweise waren in dieser Karte sämtliche Aldi-Märkte, aber nicht eine einzige Tankstelle verzeichnet. Die nächste größere Stadt war Rheine, auf dem Weg dorthin abseits der Autobahn mussten wir durch Salzbergen kommen, einem auch nicht so kleinen Ort. Also machte ich den Vorschlag, die Abfahrt Salzbergen zu nehmen. Als wir von der Ausfahrt auf die Landstraße abbogen, gerieten wir in den richtigen Winter. Auf einer ungeräumten, dick mit Schnee bedeckten Fahrbahn tastete sich Jürch vorsichtig zur Ortschaft vor. Ein Schild am Straßenrand machte uns Hoffnung: „Tankstelle – 2 km“. Auf der abschüssigen Dorfstraße rutschten wir auf eine Kreuzung zu, erklommen das Steilstück auf der anderen Seite und erreichten einen verwaisten Raiffeisenmarkt mit angeschlossener Tankstelle. Geschlossen. Aber wir hatten Glück: Die Tanksäulen waren automatisiert und nahmen auch Bargeld entgegen. Die Weiterfahrt war also gesichert.


Auf der anschließenden Fahrt durch immer trüber werdende Wetterlage hörten wir wieder WDR 5. Heute gab es einen Bericht über die stetig anwachsende Wasserknappheit in Kalifornien. Während einer Stunde wurde fundiert über den Beginn der Wasserwirtschaft im Westen der USA, angefangen mit dem Bau des Boulder-Damms und dem späteren Stauen des Glen-Canyons berichtet, es wurde geschildert, wie wenig Wasser der Colorado-River auf den letzten Kilometern durch Mexico noch führte, welche Wasserentnahmeabkommen zwischen den einzelnen Staaten existierten und welchen enormen Wirtschaftsfaktor das Wasser darstellte. Und dazwischen immer wieder die Aufrufe des Gouverneurs von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, gehalten in seinem furchtbaren Amerikanisch. Der Wasserverbrauch in Kalifornien liegt pro Kopf durchschnittlich um das Siebenfache über dem deutschen Verbrauch. Dieses Wasser wird jedoch nicht vorzugsweise zum Trinken und Kochen verbraucht, nein, die Bewässerungsanlagen verschlingen den Großteil davon. Die natürlichen Ressourcen wie Flüsse und Seen werden dergestalt rücksichtslos geplündert, dass manche stehende Gewässer zu stinkenden Salzkloaken verkommen sind. Gestern hatten wir bereits einen höchst interessanten Bericht auf Deutschlandfunk über die Whiskybrennereien auf der schottischen Insel Islay gehört. Ich hatte viel über die verschiedenen Fassarten, den verwendeten Torf, über die Reifezeit, das Erzielen der Farbe und die Entstehung des spezifischen Geschmacks gelernt. Die Sachlage ist also eindeutig: Ausflüge nach Amsterdam bilden ungemein. Vorausgesetzt, der Fahrer hört Sender, die es lohnen, zuzuhören. Übrigens wurden diese Berichte selbstverständlich nicht Reportagen, sondern Features genannt.


Nachdem wir die A 1 erreicht hatten und auf dem Weg Richtung Norden waren, wurde ich immer schläfriger. Ich nickte immer wieder ein, bekam die Landschaft nur noch aus den Augenwinkeln mit. Ich fror wieder wie ein Schneider. Ich hatte mir den Mantel, den stinkenden, zugeknöpft und sogar die Handschuhe wieder angezogen. Nur, um mir häufig eine Zigarette zu drehen, zog ich sie aus. Auch der lange Stau, der sich auf der Gegenfahrbahn bei Osnabrück gebildet hatte, wurde von mir nur im Unterbewusstsein wahr genommen. In dieser Phase war ich dem Jürch wirklich kein unterhaltsamer Begleiter. Erst kurz vor Hamburg wurde ich wieder wacher, freute ich mich doch auf eine warme Wohnung, einen heißen Kaffee, sättigendes Essen und ein kuscheliges Bett. Und wir hatten Glück: Auch der Elbtunnel war frei, so dass wir schnell Eimsbüttel erreichten. Leider waren sämtliche Parkplätze auf dem gewohnten Parkstreifen vor Jürchs Wohnung belegt. Er stellte den Wagen ungefähr dreihundert Meter von meiner Behausung entfernt ab. Und dieser Weg war lang, so entsetzlich lang! Als ich meine Wohnungstür aufschloss, zitterte ich am gesamten Körper. Ich machte mir sofort einen Kaffee und musste den Becher mit beiden Händen halten, sonst hätte ich die Hälfte verschüttet. So sehr tatterten meine Hände. Aber nach einem schönen Essen mit Rostbratwürstchen, Kartoffelpüree und Buttergemüse ging es mir wieder so gut, dass ich mich nicht gleich ins Bett legte, sondern mit den Aufzeichnungen dieses Wochenenderlebnisses begann. Hoffentlich habe ich mit den voran gegangenen Abschnitten keinen falschen Eindruck erweckt, denn:

 

ES WAR EINFACH NUR GEIL!!!

 

Hamburg, Januar 2010

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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