Stephan Lill

Bruce und Cathy

Bruce und CathyBruce und Cathy

Bruce Bourker ging über die Straße. Er war diesen Weg schon oft gegangen, seine Füße fanden den Weg von allein. Er hatte Zeit seine Gedanken schweifen zu lassen, aber wohin? Wohin sollte er sie senden? Seine Gedanken könnten die Zukunft modellieren – unnütz. Seine Zukunft war vergeben, verplant. Von ihm selbst. Es war eine gesicherte Zukunft. Gepolstert, abgeschirmt gegen mögliche Unbill so gut es eben geht – alles das, was Geld an Schutz bieten kann, hatte er aufgeboten, um sich abzuschirmen gegen Eventualitäten und das Schicksal. Es sollte ihn nicht unvorbereitet treffen. Und nun dieses: Harmlos, gleichgültig näherte sich ihm etwas, was es nicht geben konnte – das Bild, was er vor Jahren verbannt hatte, die Frauengestalt, die ihm alles genommen und alles gegeben hatte – sie kam ihm entgegen. Bruce blieb stehen mitten auf der Straße. Cathy ging an ihm vorüber. Ihre Schulter berührte fast seinen Anzug, doch sie beachtete ihn nicht. Sie hatte Kopfhörer auf. „Cathy“, sagte er. Sie ging weiter. Er folgte ihr. Er berührte sie an der Schulter. Sie nahm ihre Kopfhörer ab und blickte ihn an. „Sie stören mich gerade bei meiner Prüfungsvorbereitung für mein Medizin-Studium. Wissen Sie, dass es gefährlich ist, Menschen herauszureißen aus ihren meditativen Mnemotechnikübungen? Ganz gefährliche Neuronenverbindungen können spontan zerreißen und nie wieder zusammenwachsen. Das ist kaum zu verantworten.“

Bruce betrachtete sie ausführlich und ging dabei etwas um sie herum. „Unglaublich, du bist Cathy – tadellos erhalten – du siehst genauso aus wie vor 20 Jahren. Wie machst du das?“

Cathy ging einen Schritt zurück von ihm. „Vor zwanzig Jahren sah ich mir gar nicht ähnlich. Das Embryonenhafte und meine jetzige Größe machen einen Vergleich äußerst schwierig. Es muss eine Verwechslung sein. Darf ich jetzt ungestört weitergehen oder muss ich hier noch länger stehen bleiben am Straßenrand, um irgendeine aberwitzige und irrelevante Verwechslung aufzuklären?“

Bruce sog die Luft tief ein und beugte seinen Kopf ihr entgegen. „Unglaublich, dieser Geruch. Ganz meine Cathy. Deine Stimme ist ein wenig anders. Rauer, aggressiver. Ist dir etwas Arges widerfahren? Schlimme Geschehnisse, an denen ich Schuld habe?“

Cathy drehte sich von ihm weg. Sie stand nun vor einer Schaufensterscheibe. In der Scheibe spiegelten sie sich und sie sah den gespiegelten Bruce an. „Eine unheimliche Anmache ist dieses, schauderhaft. Könnten Sie sich jetzt bitte entfernen. Sie sind uralt, ich habe keinerlei Interesse an Ihnen. Sie könnten mein Vater sein.“

Sie stupste Bruce mit ihrem Zeigefinger gegen die Brust und ließ ihn rückwärts gehen. „Ich habe hier mein Pfefferspray in meiner Umhängetasche. Das war es, mein Herr. Wenden Sie sich und gehen Sie brav ihren korrupten Geschäften nach. Denn das sind Sie doch, wenn ich es mir so betrachte: ein biederer Geschäftsmann mit Aktenköfferchen – die perfekte Verkleidung für die Korruption, die unseren Staat zersetzt, zerfrisst, wie eine hungrige Larve.“

Bruce lehnte sich gegen die Schaufensterscheibe und wischte sich über die Stirn. „Äußerlich Cathy und innerlich ein Dämon. Was ist geschehen? Wieso steht die Zeit still? Ich hatte dich verbannt! Deinen Anblick konnte ich nicht länger ertragen. In meinem Inneren hat die Erinnerung an dich gewütet berserkerhaft, vernichtet, was an gesundem Verstand noch übriggeblieben war – ich verkrafte deinen Anblick nicht! Ein gebrochenes Herz, eine gebrochene Seele – das hast du hinterlassen – und das wohl mehr als einmal. Bist du wie ein Schmetterling weiter geflogen zum Nächsten, hast ihn zerstört, dein grausames Werk verrichtet? Ach Cathy, ich habe dich geliebt.“

Bruce hatte Tränen in den Augen. Cathy reichte ihm ein Papiertaschentuch. „Sie ziehen alle Register! Erst der Trick mit dem vermeintlichen Wiedererkennen, dann der heulende Manager. Abgefahren! Allmählich finde ich Sie interessant. Hat Ihre Masche Erfolg? In meinem Psychologie-Seminar könnte ich eine Seminararbeit verfassen zu diesem Thema. Das wird ziemlich authentisch. Da befrage ich noch andere Freaks. – Wollen wir uns dort vor das Café setzen? Dieses freie Tischchen sieht doch sehr einladend aus.“

Cathy drängte Bruce in Richtung des Tischchens. Bruce ließ sich auf dem Stuhl niedersinken, den Cathy ihm entgegen schob. „Wir nehmen zweimal Eis. Für mich Ananas und Aprikose. Für den Herren Waldmeister und Walnuss“, rief Cathy zu einer der Kellnerinnen. Diese nickte und verschwand im Café. Bruce räusperte sich. „Ich komme allmählich wieder zu Sinnen. Verzeihen Sie. Es muss eine unglaubliche Verwechslung sein. Aber Ihre Ähnlichkeit hat mich so unvermittelt getroffen, dass ich perplex bin. Verwirrt in allerhöchstem Ausmaß. Kommt mir nicht ungelegen. Es ist, als erwache ich aus einem Traum, in dem ich umherwandere als Zombie. Gesteuert von Notwendigkeiten, aber nicht aus eigenem frischem Impuls. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.“

Cathy hob abwehrend die Hand. „Nicht so schnell. Hier darf man nicht voreilig sein. Verweilen wir noch ein bisschen im Stadium der angeblichen totalen Verwirrtheit. Genial, welche schauspielerischen Fähigkeiten sie zuwege bringen, die Männer, wenn es um das Eine geht. Wie wandelbar und flexibel. Aus dem biederen Geschäftsmann wird ein charmanter, verwirrter Mann, der seiner einzigen, großen, verflossenen Liebe jählings gegenübersteht und mental zusammenbricht! Na, wenn das nicht filmreif ist! Bewerben Sie sich in Hollywood. Dahin zöge es mich auch, wenn mich mein Medizin-Studium hier nicht festnageln würde. Das, was man möchte und das was man sollte. Leider überschneiden sich diese beiden Dinge so selten. Was fasziniert Sie denn an mir so – nur mal aus psychologischem Fachinteresse gefragt? Ich bin nicht außergewöhnlich hübsch. Aber für Hollywood hätte es eventuell doch gereicht – denn ich habe Charakter. Jede Menge davon. Meine Mutter sagt, ich sei eine Preziosität: kompliziert, kapriziös aber charaktervoll. Das hätte ich von meinem Vater.“

„Sie haben eine Mutter?“

„Ja, eigenartig nicht wahr? Aber diese Fall soll öfters vorkommen. Alleine auf diesem Kontinent sind 100 Prozent der Leute davon betroffen.“

Die Kellnerin servierte ihnen die beiden Eisbecher. Cathy holte ihr Portemonnaie hervor und sagte: „Ich bezahle. Genießen Sie Ihr Eis auf meine Rechnung. Sie sind jetzt mein Studienobjekt. Dafür verpflichten Sie sich im Gegenzug von Ihren Fischzügen zu erzählen und Ihrer eigenartigen Fangtechnik mit der Ihnen die jungen Frauen wohl reihenweise ins Netz gehen.“

Cathy löffelte aus ihrem Eisbecher. Die Kellnerin blieb stehen. „Darf ich hier einen Moment verweilen an ihrem Tisch? Es gibt wenig zu tun momentan im Café und Ihr Gespräch scheint überaus interessant zu werden. Klingt vielversprechend jedenfalls dieser Anfang. Die Jagdtechniken des Businessmannes – ein unerschöpfliches Thema auch in den Damen-Friseursalons. Dann habe ich das nächste Mal gehörig was beizusteuern zu den Gesprächen.“

Bruce sah die Kellnerin mit aufgerissenen Augen an. „Ich werde völlig falsch eingeschätzt von Ihnen, meine Damen. Ich hatte Interesse an dieser Dame, das ist wahr. Aber das ist zwanzig Jahre her. Vergangen, vorbei. Die Zeit steht nicht still – nur bei Ihnen scheint die Zeit eine Ausnahme zu machen. Ich vermute, Ihr Name ist nicht Cathy. Wahrscheinlich nur ein Streich, den mir mein müdes, erschöpftes Gehirn spielt. Es beginnt mir diejenigen Bilder als Illusionen aufzudrängen, die ich verdrängt hatte. Liebesschmerz kann tödlich sein, wenn man kein Gegenmittel ersinnt. Und mein Gegenmittel war das Vergessen, das bewusste Beiseiteschieben von deiner Person. Wieso stehst du dann leibhaftig wieder vor mir?!“

Bruce sprang auf und deutete mit seinem Finger auf Cathy. Cathy lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah zu ihm empor. „Sie sind jetzt entweder noch besser als der coolste Movie-Star oder aber ernstlich in Gefahr den Verstand zu verlieren. Essen Sie ihr Eis. Das kühlt Ihr überhitztes Gemüt und gibt uns Zeit den verwickelten Gedankengängen Ihrer Seele auf die Schliche zu kommen.“

Bruce setzte sich wieder und begann in seinem Eisbecher herumzustochern. „So ist das wenig nahrhaft. Sie müssen den Löffel auch zum Mund führen. Das ist Grundlagenwissen der Ernährung.“

Cathy beugte sich hinüber zu der Kellnerin. „Sind alle Männer in dieser Stadt so seltsam? Ich bin neu hier und sollte gewarnt werden, damit ich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen kann. Zum Beispiel sollte ich ein Diktiergerät dabei haben, damit ich dieses Sammelsurium an Verwirrtheit aufzeichnen kann.“

Die Kellnerin nahm sich einen Stuhl vom Nachbartisch und setzte sich neben Cathy an den Tisch. „Ich habe auch schon darüber nachgedacht eine Story zu verfassen über dieses Thema. Für die Zeitungen. Eigentlich möchte ich Journalistin sein. Aber bisher habe ich nur Praktika machen dürfen in den Redaktionen. Als Journalistin muss man hellhörig sein für gute Storys. Und dieser Mann hier neben Ihnen – das klingt nach einer verdammt heißen Story.“

Bruce senkte seinen Kopf. „Ich schäme mich. Wenn Sie erlauben, dann verabschiede ich mich jetzt und kehre zurück in mein erfolgreiches Leben. Ich bin so erfolgreich, dass ich beinahe jedes Quartal eine Beförderung bekomme. Und wohin hat es mich gebracht?“

Bruce stand auf und sah an sich hinunter. „Ich bin einsamer als ein heulender Kojote in finsterster Nacht. – Was ich Sie fragen wollte: wie heißt Ihre Mutter?“

„Catherine.“

„Das ist Cathy! Das muss Cathy sein!“

„Kein Mensch nennt meine Mutter Cathy. Wenn Sie sie kennen würden, wüssten sie auch warum: sie ist viel zu dominant, herrisch. Solche vertrauliche Anrede wäre höchst unziemlich und würde demjenigen auch nicht gut bekommen. Ein gestrenger Blick aus ihren grauen Augen und du bist vernichtet. Jawohl, meine Mutter kann mit Blicken diese Welt dirigieren. Sehr nützlich an ihrem Arbeitsplatz: sie ist inzwischen Direktorin an meiner ehemaligen Universität. Das ist auch der Grund, warum ich von dort geflüchtet bin. Sie und ich zusammen an einer Universität, das kann nicht gut gehen. Welten prallen da aufeinander – meine Unkompliziertheit und ihre Rigorosität.“

Bruce ergriff den Unterarm von Cathy. „Der Fall ist klar: du bist die Tochter und nicht die Mutter. Die Zeit steht nicht still und – hast du einen Vater? – Wenn ich dich so betrachte, dann beschleicht mich ein unheimliches Gefühl. Du siehst nämlich außerdem jemandem ähnlich, den ich gar nicht gut leiden kann: mir selbst.“

Die Kellnerin nahm sich einen Notizblock hervor und begann zu schreiben. „Das wird höchst interessant. Das könnte mein Einstieg sein in den seriösen Journalismus.“

„Gibt es so etwas? Ich kenne nur unseriöse Journalisten und Reporter. Und das ist mir auch sehr recht so.“

Cathy sah hinauf in den Himmel und lächelte. Bruce: „Hier ist jetzt keine Zeit um amourösen Erinnerungen nachzuhängen, hier wird jetzt aufgeklärt: wer, was, wieso und überhaupt. Also, du fliehst vor Cathy, deiner Mutter, und landest hier in dieser Stadt und triffst auf mich.“

Cathy: „Mit dieser Zielgenauigkeit – das würde ich nicht so formulieren. Ich hatte keinesfalls geplant potentiellen Vätern von mir hier zu begegnen.“

Cathy sah Bruce prüfend an. „Könntest du mal ein bisschen dein Gesicht ins Profil drehen. Und jetzt den Kopf ein bisschen höher. – Nein. Oder doch? Einen Hauch von Ähnlichkeit sehe ich in deinem markanten Gesicht. Du merkst, ich fange an dich zu loben, denn wenn es tatsächlich eine genetische Verbindung geben sollte zwischen uns, dann solltest du mir im besten Lichte erscheinen. Das verlangt meine Eitelkeit und die Stabilität meiner Psyche. Eine karrieresüchtige Mutter – das hat meine Seele nicht kampflos und ohne Kriegsverletzungen überstanden.“

Die Kellnerin holte ihr Handy hervor. „Gestattet Ihr, dass ich einige Fotos mache. Das rundet meine Story ab. Verleiht ihr Glaubwürdigkeit. Denn sonst wirkt das Ganze wie eine billige Version eines Hollywood-Rührdramas. Aber Details und persönliche Eigenarten geben meiner Story den nötigen Rückhalt, verleihen ihr Festigkeit, auf dass sie bestehen kann vor den lesenden Augen dieses gemeinen Chefredakteurs Jimi. Mit dem gehe ich nie wieder aus. Das hat mir nicht einen einzigen Artikel eingebracht. Da behaupten alle mit Sex kommt man weiter. Kann ich nicht behaupten.“

Bruce und Cathy sahen die Kellnerin an. Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. „Ich plaudere ein bisschen viel, pardon. Ich wollte Euch auch nicht unterbrechen in Euren Wiedererkennungsritualen. Prüft, tastet, sondiert Euren neugewonnen Verwandten. Mir ist schon längst klar, dass in Euch dieselben Gene stecken: Ich habe eine Reporterspürnase und merke das auf Anhieb. So etwas wittere ich ziemlich zuversichtlich.“

Die Kellnerin sog die Luft geräuschvoll ein und tippte sich an ihre Nase. „Ab jetzt verlasse ich mich noch mehr auf meine Nase, auf meinen Spürsinn für heiße Storys. Diese Storys liegen auf der Straße. Man stolpert förmlich über sie. Ich brauche sie nur noch aufzuheben. Ich bin super-enthusiastisch. Das liegt zum einen an dieser mirakulösen Vereinigungsszene von euch zwei und zum anderen habe ich bereits zwei Rum-Eisbecher mit extra viel Rum intus. Das beflügelt meine Schreibkunst. Ich habe schon viele flotte Sätze hier eben runtergekritzelt. Das wird eine super Story. Ich flehe euch an: lasst das alles nicht im Sande verlaufen! Seid wirklich die, für die ihr euch haltet: Tochter und Vater. Das wäre einfach sensationell für meine Karriere. Bitte.“

Die Kellnerin machte noch einige Fotos von den beiden mit ihrem Handy. Bruce betrachtete seinen Eisbecher. „Alles geschmolzen und ineinander verlaufen. Hier hat die Zeit das Getrennte vereint, zusammengeführt. Doch die Zeit trennt auch die, die füreinander gedacht sind, bestimmt sind, auserwählt sind vom ehernen Schicksal Eines zu sein, ihr Leben Seite an Seite miteinander zu verbringen. Die Zeit hat sich eingemischt in meine Beziehung zu deiner Mutter Cathy. Du siehst ihr unglaublich ähnlich. Wie konnte ich zulassen, dass die Zeit mir das antut? Ich hätte kämpfen müssen, siegen müssen, die Zeit besiegen.“

Cathy ergriff die Hand von Bruce. „Nicht die Zeit war schuld, sondern meine Mutter. Ich glaube, sie wählte die Karriere und nicht dich. Irgendwie muss es ihr erschienen sein, als ob eines das andere ausschlösse. Sie ist Medizinerin mit Leib und Seele. Selbst mich würde sie dem Teufel verkaufen, wenn er ihr ein gutes Angebot macht und ihr Forschungsgeheimnisse zuflüstert. Sie ist süchtig nach dem Unbekannten, dem Unentdeckten.“

Bruce: „Hat ihre Sucht sie glücklich gemacht?“

Cathy: „Kommt es darauf an? Wenn man höhere Ziele als das Glück hat, dann ist kein Raum, keine Zeit für das Glück – und auch nicht für den Menschen, den man am meisten liebt. Ich vermute, dass du es warst: ihre große Liebe. Ich kann es nur vermuten, denn gesprochen hat sie nie darüber. Mag sein, du warst ihr auch völlig gleichgültig.“

Die Kellnerin schüttelte energisch den Kopf. „Das glaube ich nicht. Dieser Mann hat etwas, das lässt keine Frau kalt. Wir könnten zusätzlich noch ein Radio-Interview machen und eventuell sogar einen Fernseh-Auftritt. Jimi schuldet mir noch einige Gefallen. Er hat Beziehungen und das kommt ihm zugute – ich meine liebestechnisch gesehen. Die Frauen werfen sich ihm an den Hals, nur um Fuß zu fassen in der Medienlandschaft.“

Bruce: „Ich bin in den vergangenen Jahren auch zu einem Jimi geworden. Ich habe Macht angehäuft – und konnte dann freigiebig austeilen an die machthungrigen Frauen. Man nutzt die Vorteile, genießt und verachtet sich selbst für das, was man tut. Das geschieht wohl mit einem, wenn man die eine große, wahre Liebe nicht gewinnen kann. Dann wird man ein Hasser des Schicksals – ein Zyniker, der keine Achtung mehr hat vor den Gefühlen seiner Mitmenschen. – Wie heißt du? Für mich warst du die ganze Zeit Cathy. Doch das bist du ja nicht.“

„Doch das bin ich. Ich heiße Cathy. Beziehungsweise Catherine. Genau so wie meine Mutter. Ich glaube, sie hat geplant, dass ich so etwas wie ihr Klon werde. Ihre Forschungsarbeit sollte ich eines Tages fortsetzen können. Nahtlos da anknüpfen, wo der Mutter-Klon aufgehört hat. Dann zeuge ich den nächsten Klon, alles im Dienste der Wissenschaft. Doch ich bin nicht identisch mit ihr. Das habe ich ihr gesagt, und das war der Grund für unser Zerwürfnis. Seltsames Schicksal. Und da finde ich nun ausgerechnet meine andere Hälfte, meine dunkle Seite, von der ich bislang nichts wusste. Glaubst du, das unser Unterbewusstsein unsere Schritte lenkt? Dass es mich genau hier zu dieser Straße geführt hat, dass wir uns dort beim Überqueren der Straße begegnen, aufeinander treffen, nicht vorbei laufen aneinander, sondern stutzig werden und innehalten. Ist es Zeit für Korrektur? Für Veränderung? – Ich rede von vollendeten Tatsachen, dabei scheint es nur eine Vermutung zu sein, eine aberwitzige Idee, dass ausgerechnet du mein Vater sein könntest. Aber in mir ist und wächst diese Gewissheit, so das ich gar nicht anders kann, als dich als meinen Vater zu sehen. Und ich wäre in der Tat enttäuscht, wenn es nicht so ist.“

Die Kellnerin blickte von ihrem Notizblock auf. „Könntest du die letzten Sätze noch einmal wiederholen? Ich bin beim Mitschreiben nicht so ganz mitgekommen. Das waren sehr feinsinnige Sätze und ich will nichts verdrehen – nicht so wie es gewisse Journalisten machen und sich einfach Sätze hinzudenken, um ihre Story auszuschmücken. Das habe ich zumindest jetzt noch nicht nötig. Übrigens – wenn ihr wollt, dann schreibe ich nicht darüber, dann schweige ich und erzähle es höchstens beim Friseurbesuch und solchen Gelegenheiten. Ich will nicht unehrenhaft starten mit dem Journalismus. Es genügt, wenn ich nach vielen erfolgreichen Jahren unehrenhaft meine Karriere beende. – Möchtet Ihr auch einen Rum-Eisbecher?“

Bruce nickte mit dem Kopf. „Ja, und dann sollten wir klären, ob ich tatsächlich dein Vater bin. Ich werde zu deiner Mutter fahren und sie fragen. Wäre dir das recht?“

„Mega-recht. Meine Mutter wird überrascht sein. Ich konnte sie bislang nie wirklich überraschen. Ich bin für sie berechenbar, kalkulierbar. Wird Zeit, dass sich das ändert.“

Bruce blickte in den Himmel. „Ich werde Cathy wiedersehen. Gebe mir der Himmel seinen Segen.“

„Den wirst du brauchen. Meine Mutter würde es mit der Hölle aufnehmen und sie zerpflücken, analysieren mit Hilfe von Pipette und Mikroskop. Die Wissenschaft kann einen Menschen verändern. Alles, was man intensiv betreibt, kann einen verändern, verformen, deformieren oder zu einem Idealbild formen. Es kommt darauf an, welche Ziel man verfolgt. Und ob man Kraft hat, dem Gegenstand, mit dem man ringt, Widerstand zu leisten, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wie bei einem wilden Pferd: wird es dich abwerfen, oder behältst du die Zügel in der Hand?“

Die Kellnerin kam wieder mit drei Rum-Eisbechern. „Ich habe das Eis weggelassen. Das hattet Ihr ja bereits. Dafür findet Ihr in den Eisbechern meine Spezialmischung Rum-Olé. Die nenn ich so, weil Ihr Euch danach wie ein Torero fühlt, der vom Stier niedergewalzt wurde.“

„Na dann, Prost!“

Ihre drei Eisbecher klirrten gegeneinander.



ENDE


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Story:
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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