Vivien Stumpp

Frostgrenze

Der Eiszapfen in meiner Nase schien unaufhaltsam zu wachsen. Meine Hände schmerzten von der klirrenden Kälte und ich erinnerte mich noch genau an dieses Gefühl: Es wurde Winter. Viel zu schnell war die Zeit vergangen, in der man keine Handschuhe tragen musste und beruhigt in Chucks und Jeggins vor die Tür gehen konnte. Heute musste ich das bitter bereuen. Es war Samstag und ich lief mit meinem mp3-Player durch unser Dörfchen. Ich hatte schon als Baby im Kinderwagen alle Leute um mich herum mit meinem Gesang unterhalten und deshalb überall schon einen gewissen Fame-Status erreicht. Das war wohl auch der Grund, warum meine Mutter so viele im Dorf kannte: Sie hatten sie auf ihr ungewöhnliches Baby angesprochen. Und auch jetzt schauten wieder alle zu mir her, während ich, ganz in die Musik versunken, an ihren Gärten entlang joggte und One-Republic-Songs zum Besten gab. Endlich hatte ich meine Wochenendrunde beendet und kam wieder vor unserem Haus an.

Es war ein mehrstöckiges Reihenhaus am Ende einer belebten Straße, in der es manchmal zuging wie am Frankfurter Bahnhof. Jeder hatte hier seinen eigenen Parkplatz und brauchte dafür kein Reserviert-Schild, weil alle wussten, wer wo parkte. Alte Leute und kleine Kinder tummelten sich auf den Wiesen, und im Sommer, wenn abends noch die Sonne schien und es warm war, grillten die jungen Leute zwischen 20 und 40 auf ihren Balkonen. Wenn im Winter Schnee lag, kamen Scharen von süddeutschen Cousinen und Cousins der kleinen Kinder zu Besuch und wälzten sich schon früh am Morgen mit ihren hessischen Verwandten im weißen Pulver. Hier gab es Schlittenberge satt und genauso viele Täler, in denen sich Massen an Munition für Schneeballschlachten ansammelten. Entsprechend wild ging es dann auch tatsächlich zu in all den Gärten, zwischen all den Bäumen und auf all den freien Feldern. Die Kinder hier auf dem Land konnten vom Schnee nie genug bekommen. Und bald würde es wieder soweit sein. Mittlerweile war ich nicht mehr regelmäßig unter ihnen, aber gelegentlich mischten ein paar Freundinnen und ich die Winterparty der Jüngeren auf, indem wir uns einfach dazwischen schmuggelten.

Ich holte meine Schlüssel heraus, was nur mit viel Fantasie als einfache Interaktion bezeichnet werden konnte, zumal meine Hände taub waren und meine Taschen beinahe zugefroren. Als ich ins Haus kam, fing gerade „Closer to the edge“ an. Das Intro war nahezu tonlos. Zeit genug, um einen Blick auf das zu hell beleuchtete Display zu werfen und Assoziationen an Marlon Bertzbach zu bekommen, der bei X Factor das Lied ruiniert hatte. Also drückte ich hastig auf Stopp und zog meine Jacke und meine Chucks aus. Ostseeblaue Chucks. Zu kalt für den Winter. Aber ostseeblau. Ich schlüpfte schnell in meine einst hellblauen (heute grauen) Maus-Hausschuhe, die nicht wirklich wärmten, aber so aussahen, und machte mir einen Tee für meine Hände. Ich mochte keinen Tee und schon vom Geruch wurde mir schlecht, aber ich wusste nicht, woran ich sonst meine Hände wärmen sollte. Schließlich fiel mir ein, dass ich ein wärmespeicherndes Alu-Armband besaß und kramte es aus meiner Schmuckkiste. Der Tee kühlte währenddessen hinter der geschlossenen Küchentür aus und gefror wahrscheinlich zu Eis, denn das Fenster war offen. Armer Tee.

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