Rüdiger Plaßmann

Drei Akten im leisen Gespräch




Es waren einmal drei Akten, die fanden sich zum Gespräch des Nachts in einer kleinen Behörde zusammen. Diese Behörde war für allgemein behinderte Menschen jeglichen Alters zuständig. Durch jene Zuständigkeit ergab es sich natürlich, dass viele Akten angelegt werden mussten. Diese hingen des Nachts in der Registratur oder fristeten ihr Leben in einem Archiv für Altakten. Manche Akten konnten von sich sagen, dass sie in der Welt umher kommen. Diese wurden in den einzelnen Büros der Sachbearbeiter umher gereicht, oder in andere weit entfernte Landratsämter verschickt. Damit ihnen auch ja nichts geschieht, wurden sie in schöne warme Kartons verpackt. Mit diesen Akten ließ sich nicht gut reden. Entweder waren sie ständig unterwegs, oder einfach nur hochnäsig.
 
Hier die Geschichte der drei Akten


Also sagte die eine Akte, liebe Freunde was machen wir heute Nacht?
Du ich weiß nicht, sagte die eine. Ich kann nur sagen, dass man mich heut durch die Gegend geschmissen hat und ich deswegen ein wenig fertig bin. Viel Party feiern kann ich nicht.
Die nächste und dritte Akte meinte, schauen wir doch mal nach wer die schwersten Fälle in sich trägt. Wie meinst Du das jetzt, fragte Akte zwei? Ja, wie meinst Du das, fragte auch Akte eins?
Akte drei sagte, ich erkläre Euch das. Mein Behinderter heißt mit Vornamen Peter. Der Nachname ist egal. Aber was der alles an Behinderungen hat, boooääääh.
 
Du, erzähl mal.
 
Der Autor: Zur besseren Unterscheidung der Akten übernehmen die Akten jetzt die
Vornamen ihrer Behinderten.
 
Also, der Peter hatte in seiner Kindheit ab einem Alter von ca. 4 Jahren eine einseitige
spastische Lähmung. Zu allem Übel wurde er, wie hier steht, in der Schule von seinen Schulkameraden so gehänselt das er sich eines Tages von einer kleinen Brücke gestürzt hat und schwer verletzt auf einem Weg liegen blieb. Im Krankenhaus wurde festgestellt, dass er zu seiner spastischen Lähmung jetzt auch noch geistig behindert sein würde da er schwerste Verletzungen in seinem Zerebralbereich davongetragen hat. Seither ist er in einer Einrichtung
untergebracht die sich solcher schweren Fälle annimmt.
 
Das ist ja schlimm meinte Akte 2, und fing mit Ihrer Geschichte an. Nun ja, ich habe hier ein kleines Mädchen was eigentlich nie das Licht der Welt erblickt hat. Doch, geboren wurde das Mädchen, aber leider ohne Augenlicht. Es wuchs die erste Zeit zwar zu Hause auf,
erfuhr auch die volle Liebe der Eltern aber sehen konnte Sie die Eltern nie. Zu allem
Überfluss hatte ihr Vater zusammen mit seiner kleinen Amelie einen Autounfall.
Der Vater starb dabei und das Mädchen erhielt einen Schock. Seither spricht es nicht mehr. Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und muss seither in einer Klinik behandelt werden. Das Mädchen wurde in eine spezielle Kinder betreuende Einrichtung eingeliefert. Bei der Mutter weiß man nicht, ob sie je wieder zu sich zurückfindet.
 
Ohhh, sagte da die Akte 1, es ist schon schlimm wenn man hören muss wie kleine Kinder nicht mal geboren und schon nur ein schweres Leben vor sich haben. Bei meinem Mann ist es nicht anders aber er war im Krieg. Er verlor dort sein Augenlicht. Als wenn das nicht
ausreichen würde, zerfetzte eine Granate ihm noch das rechte Bein. Als junger Mann kam er als Kriegsinvalide aus dem Krieg zurück und konnte nicht mal mehr seine Frau und sein Kind sehen, was in der Zwischenzeit geboren war.
 
Alle drei Akten wurden still weil sie geschockt waren.
 
Dann unterbrach Amelie die schwere Stille. Peter, warum hast Du dich eigentlich gehänselt gefühlt? Peter erschrak erst einmal ob dieser tief gehenden Frage. Warum ich mich
gehänselt gefühlt habe? Ich wurde gehänselt, ich habe mich nicht nur so gefühlt!!
 
Peter, entschuldige bitte aber ich bin sicher, Du hast mich jetzt falsch verstanden. Du hattest eine Behinderung und deine Schulkameraden haben Dich gehänselt, aber warum hast Du es überhaupt angenommen? Verstehst Du mich?
Nicht so ganz Amelie. Kannst Du es mir erklären?
Der Kriegsveteran sagte, ich verstehe auch nicht so ganz was Du meinst, Amelie?
Also ihr zwei Lieben, ich sehe nichts aber ich spüre. Ich kann nicht sprechen aber ich kann umso besser hören. Du mein lieber Peter, wenn Du dich selbst annehmen hättest können, hätte Dich niemand hänseln können. Hast Du dich jemals lieben können? So lieben können wie Gott Dich liebt?
 
Und Du mein lieber Kriegsveteran, wie heißt Du eigentlich?
Warum hast Du dein Augenlicht verloren?
Warum hast Du dein Bein verloren?
Entschuldige mal Amelie, du weißt doch weshalb ich mein Augenlicht verloren habe und weshalb ich mein Bein verloren habe, oder habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich möchte übrigens mit Hans angesprochen werden. Danke
 
Doch, Du hast Dich klar genug ausgedrückt, aber über Dein Leid bemerkst Du gar nicht das Du Dein Augenlicht vielleicht verlieren wolltest, damals im Schützengraben.
Wie bitte, ich wollte mein Augenlicht verlieren?? Spinnst Du vielleicht ein wenig?
Ja Hans, überlege doch einmal. Ich bitte Dich, sei aufgeschlossen und fühle Dich nicht von mir angegriffen. Du warst im Krieg und konntest das ganze Leid und den hundert oder tausendfachen Mord nicht mehr ertragen. Jeden Tag musstest Du mit anschauen wie Deine Kameraden starben. Da würde man manchmal gerne die Augen einfach so verschließen. Verstehst Du ein wenig worauf ich hinaus will?
Der Hans ließ den Kopf hängen und versuchte ein wenig nachzudenken.
Ich verstehe die Zusammenhängen auch noch nicht so ganz, sagte der Peter jetzt  wieder. Also, ich habe mich von der Brücke gestürzt weil ich das gehänselt werden nicht mehr ertragen konnte.  Warum ich gehänselt wurde, das weißt Du ja. Wie hätte ich es sonst ertragen können?
Peter, nicht ertragen. Dich selbst annehmen und lieben. Wenn Du Dich selbst so lieben kannst wie Du bist, mit allem was Dich ausmacht, wärest Du auch fähig alle anderen Menschen zu lieben und hättest nicht auf das Hänseln reagiert. Dann hättest Du die Menschen geliebt, die Dir dabei helfen zu erkennen dass Du dich lieben darfst, auch wenn Du behindert bist. Ich verstehe, sagte Peter ganz leise wie zu sich selbst und über die Augen kullerten dicke Tränen.
Na Hans, fragte da Amelie, wie geht es Dir nun?
Ich habe zugehört was Du zu Peter gesagt hast. Ich verstehe ein wenig von dem was Du sagst, nur für mich zu integrieren ist sehr schwer.
Ich versteh Dich sehr gut Hans, und glaube bitte nicht, dass mir Euer Schicksal nicht leid täte. Hans, was macht Dir jetzt Schwierigkeiten beim integrieren der Tatsache, das Du vielleicht selbst es warst, der das Augenlicht verlieren wollte?
Ja weißt Du Amelie, Du warst von Geburt an blind. Ich aber habe vorher sehen dürfen. Ich wusste wie meine Frau aussieht, eine Schönheit nebenbei gesagt, und ich wollte eben mein Kind noch sehen. Da wünscht man sich nicht so eben mal blind zu sein.
Ja, sicher. In dem Moment wo Du im Krieg warst und das Leid und den ständigen Tod von Deinen Kameraden mit ansehen musstest, war es für Deine Seele vorrangiger sich zu schützen.
Sie konnte das alles nicht mehr ertragen. Deshalb sahst Du in Deiner Wirklichkeit nur noch den Ausweg über die Blindheit. Und was ist mit meinem Bein, was ich auch im Krieg verloren habe??? Findest Du da auch was, wozu dies gut sein soll?? Ich sehe da nichts, tut mir leid. Alles nur Quatsch. Lieber Hans, es ist ein Ausgleich. Sag mir mal, wie oft bist Du mit deinem Kind zusammen. Wie oft ist Deine dich liebende Frau bei Dir bzw. Sie in Deinem Arm?
 
Eigentlich fast ständig hat Sie mich im Arm oder ich Sie.  Oder wir berühren uns immer wieder weil ich Sie ja nicht sehen kann. Mit meinem Kind ist es ebenso. Aber warum fragst Du mich das jetzt? Ich bin halt zu Hause wegen meiner Behinderung. Mir wurde eine Heimarbeit eingerichtet weil ich vor dem Krieg ein kleiner Beamter war.
Siehst Du Hans. Es ist Dir der Ausgleich gegeben worden das Du immer in der Nähe deiner Familie sein kannst und weil Du sie nicht mehr sehen kannst, darfst Du sie deswegen jetzt umso mehr spüren.
Ja, sagte Hans jetzt. Das hat mir ein Freund schon mal gesagt. In Eurer Familie da wird man immer so schön umarmt bei einem Besuch wenn man kommt oder geht. Das gibt es bei mir nicht.
Liebe Amelie, ich habe Dich verstanden und verstehe jetzt alles viel besser.
Amelie, meldete sich da der Peter wieder. Ich habe jetzt die ganze Zeit zugehört, und ich verstehe es in Bezug auf den Hans, aber ich glaube mal, dass ich es deshalb bei mir nicht verstehen kann, weil ich mir gegenüber blind bin.
Ja Peter, es ist eine gewisse Blindheit. Du willst die Wahrheit nicht sehen. Beim Hans kannst Du es ganz unvoreingenommen erkennen. Du hast mit seinem Problem nichts zu tun.
Es geht dich nichts an, ob sich das jetzt schlimm anhört oder nicht, es ist so. Aber überlege mal, du hast für dich einen ganz schlimmen Weg gewählt. Weil Du das Hänseln deiner Schulkameraden nicht mehr ertragen wolltest, hast Du dich von der Brücke gestürzt um Dich zu töten. Du wolltest nicht mehr auf dieser Welt verweilen. Du konntest aber nicht sterben weil Dein Leben noch nicht vorbei sein sollte. Du hast noch zu lernen. Also wähltest Du einen anderen Weg von dieser Welt zu gehen. Aber, wandte da der Peter ein, ich bin doch noch auf der Welt? Ja sicher Peter, aber für niemanden mehr erreichbar und auch für
niemanden mehr zu sehen. Es kann Dich niemand mehr hänseln. Du hast Dich ja versteckt. Peter wurde es ganz anders, als er die Tragweite der Ereignisse verstanden hatte.
Eine Zeitlang wurde es ganz still in der Registratur der kleinen Behörde. Dann, nach einer Weile aber räusperte sich der Hans und fragte, aber jetzt mal Amelie, sag uns doch bitte, warum bist Du schon blind auf die Welt gekommen und warum hast Du Dir den schweren Unfall ausgesucht durch den Du in eine Anstalt eingewiesen wurdest.
 
Ganz einfach meine zwei Lieben.
 
Ich habe erfahren wollen, wie es ist wenn man blind ist, um Dir Hans beistehen zu können, was ich auch hier und jetzt getan habe. Und den Unfall habe ich mir deshalb ausgesucht, um zu erfahren wie es ist in einer Anstalt zu sein, still und abgeschieden von der Welt, wie der Peter.
 
 
Am nächsten Morgen fand ein Mitarbeiter der Registratur drei Akten nebeneinander auf dem Boden stehend, eben so als wie wenn sie sich umarmen wollten.
 
Ende

Ich arbeite selbst in einer Behörde welche für schwerbehinderte Menschen zuständig ist. Was ich selbst in der Zeit meiner Tätigkeit in der Registratur für Schicksale nachlesen habe können, ist mit diesen drei Akten nicht mal Ansatzweise zu vergleichen. Ebenso ist meine Geschichte bzw. die Inhalte aus keiner Akte entnommen. Ich hoffe das die Geschichte trotzdem etwas zum Nachdenken anregt.Rüdiger Plaßmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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