Diethelm Reiner Kaminski

Erfolgreich altern



Die Schlagzeile auf einem Zeitungsblatt zog meine Blicke an: „Erfolgreich altern“. Ich hätte gerne erfahren, welche Weisheit sich hinter der Überschrift verbarg, aber da blätterte der Besitzer der Zeitung, dem ich im Hotelfoyer gegenübersaß, auch schon die Seite um, und ich blieb allein mit der unbeantworteten Frage, was es mit dem erfolgreichen Älterwerden wohl auf sich habe.
Heutzutage geben uns die Medien Tag für Tag Ratschläge für alle Lebenslagen, warum nicht auch fürs Altern. Unter „gesund altern“ oder „glücklich altern“ konnte ich mir etwas vorstellen, aber unter „erfolgreich altern“ nicht.
Der Gegensatz von „erfolgreich altern“ wäre „erfolglos altern“, aber das hieße doch: der Altersprozess wäre gestoppt, man bliebe ewig jung – der Jungbrunnen, von dem schon das Mittelalter träumte. Aber dann hätte die Überschrift doch „erfolglos altern“ heißen müssen, denn welcher vernünftige. Mensch würde schon das Älterwerden als erstrebenswert anpreisen.
Mein Gegenüber blätterte die Seite erneut um. Ganz kurz wurde die fragliche Seite wieder sichtbar, und ich sah, dass der Beitrag unter der Rubrik: „Job und Karriere“ stand. Jetzt kam mir die Erleuchtung. Nicht Falten und Tränensäcke, nicht Gichtknoten und künstliches Gebiss waren mit dem erfolgreichen Altern gemeint, sondern die späte Erkenntnis, dass Alter einen immensen Schatz an Erfahrung und Wissen darstellt.
Da haben Industrie und Wirtschaft doch tatsächlich viele Jahrzehnte auf die falschen Pferde gesetzt, statt den Schatz zu bergen. Also ab mit den jungen Nichtsnutzen, den ignoranten Anfängern in die Warteboxen, bis sie hinreichend abgehangen sind und die Patina der Reife angesetzt haben, und die eingemotteten Alten an die Schalthebel der Entscheidung in Planung und Produktion. Wer seinen Doktor mit dem Eintritt in die Pensionierung noch nicht geschafft hat, dem gebe man die Chance, ihn mit 80 nachzuholen. Wer zeitlebens keinen Aufsichtsratsposten ergattern konnte, der soll ihn mit 90 erhalten. Und eine Bundeskanzlerin mit stolzen hundert Jahren, vor der die Welt in Ehrfurcht erstarrt, stünde dem Land auch gut zu Gesicht.
Und welche Möglichkeiten erst für den Sport! Raus mit den Rentnern aus den Zuschauerrängen und rein in die Wettkämpfe. Endlich würde der Gesellschaft ihre natürliche Entwicklung zugestanden: Jungsein heißt warten, Geduld und Demut üben, schauen, wie´s die Alten machen, langsam und allmählich in deren bewährte Strukturen hineinwachsen, nie vergessen, dankbar zu sein.
Altsein hingegen ist: obenauf sein, den Jungen die haushohe Überlegenheit demonstrieren, sie beschämen, Vermögen anhäufen, die Regeln diktieren.
„Erfolgreich altern“. Ich hatte den Beitrag nicht lesen können, aber durch bloßes Nachdenken hatte ich die Schlagzeile mit Sinn gefüllt. Mit tiefem Sinn. Und stand voll auf der Seite des Erfolgs, erreichte ich doch gerade die kritische Altersgrenze. Die Überschrift hatte mir die Augen geöffnet. Zur Ruhe setzen? Das kam gar nicht in Frage. Mein Sohn konnte seine Kandidatur für die Bürgermeisterwahl zurückziehen. Er hatte Zeit. Er konnte warten. Ich wollte selber kandidieren. Und einen Aufsichtsratsposten wollte ich auch noch in derwichtigsten Phase meines Lebens. Und eine zweite Ehe eingehen. Und eineGeliebte. Und ein neues größeres Haus bauen. Ob ich das alles schaffte mit meinem schwachen Herzen und meinem verschlissenen Knie? Yes, I can. Mein Sohn konnte mir ja ins Auto helfen und meine Frau mir bis zur Scheidung die Koffer tragen. Zumindest bis die Neue übernahm.
Mein Blick fiel noch einmal auf die Zeitung meines Gegenüber:
Eine ganzseitige Anzeige. Sie zeigte ein chromblitzendes Auto. Davor ein Mädchen im Bikini, die Motorhaube lüstern umarmend. Darunter stand: „Wir sagen dem Alten adieu. Jung, schnell und dynamisch. Das Einzige, was zählt.“
 


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Falsche Zeugnisse von Diethelm Reiner Kaminski (Kindheit)
TATORT KINDERSPIELPLATZ - URWALD WIESE von Julia Thompson Sowa (Satire)
Johannes (eine Geschichte vom Sterben und Leben) von Christa Astl (Kinder- und Jugendliteratur)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen