David Polster

Orion

Langsam bringt er den mächtigen Stier zu dem alten und sehr morschen Stall zurück. Jede Diele knarrt, als er seinen Fuß hinein setz, um dann seinen pompös aussehenden Stier den Weg frei zu machen. Schnaufend geht dieser zu seinem Lieblingsplatz und beginnt dort genußvoll sein Heu zu essen. Wie lange der Stier schon bei dem Mann ist weiß keiner von beiden, doch eins steht fest, der Stier ist schon sehr alt. Der Mann kennt sein eigenes Alter auch nicht, eigentlich weiß er überhaupt nichts über sich selbst. Nur ein was weiß er: ihm ist sein Name bekannt, denn seine Freunde nennen ihn immer wieder so. Sie rufen ihn immer mit dem seltsamen Namen „Orion".

Keine anderen Hinweise besitzt er von seiner Herkunft, auch kein Freund konnte ihm bis jetzt sagen wer er genau ist. Wer er jetzt ist, weiß er, er ist ein Hirte, der voller Mitgefühl und Sorge sich um seinen Stier kümmert. Früher hatte er sich auch um seine anderen Tiere gekümmert, es waren an die dutzende Tiere, jedes von einer anderen Art. Keins glich dem anderen und alle wurden sie von den selben Bestien gejagt und erlegt.

Orion erinnert sich noch sehr lebhaft an ein ganz besonderes Pferd. Es besaß Flügel, womit es ihn immer hoch in die Lüfte tragen konnte und er so immer einen Blick auf seine anderen Tieren werfen konnte. Pegasus, so nannte er dieses edle Pferd, glich zwar etwas einem anderen Pferd, doch dieses hatte keine Flügel und war sehr viel kleiner. Er rief es immer Pferdchen, denn diesen Namen hatten die jungen Zwillinge seiner Nachbarin vorgeschlagen, als er Pferdchen gerettet hatte. Ein Löwe wollte es gerade erlegen, als Orion es beschützt hatte.

Zu den anderen Tieren gehörte auch ein Hasen, der immer mit der Eidechse gespielt hatte, die Orion auch schon zu seiner Gruppe zählte, da sie immer vorbeikam und anfing den Hasen zu ärgern.

Ebenfalls wurde die Herde von dem Könige der Lüfte begleitet. Ein Adler hatte sich eines Tages verirrt und Orion beschloß ihn mit aufzunehmen, um auch einen Vogel bei seinen Tieren zu haben..

Doch ein Tier war der größte Stolz von Orion und brachte ihm auch viel Bewunderung seiner Freunde ein. Die mächtigste Hochachtung hatte er vor diesem Pferd, was ein Horn besaß und deshalb Einhorn genannt wurde. Kein anderes Tier hatte jemals so eine Ausstrahlung besäßen. Kein Tier würde wieder so eine Erhabenheit ausstrahlen.

All diese Tiere, die er als Freunde betrachtet hatte, hat er verloren. Jagdhunde, Bären und Löwen sind über sie hergefallen. Blutig wurde ein Tier nach dem anderen erlegt und keine Gnade konnte man in den Augen der Bestien sehen. Der Schützen, der die Meute vorantrieb hatte Pegasus mit einem gezielten Schuß getroffen. Der Pfeil drang tief in das Fleisch ein und riß das edle Pferd herab. Und auch das schönste aller Tiere wurde kaltblütig erschlagen, als ob es nur ein Stein wäre, der aus dem Weg müßte. Nur ein einziges Tier hat überlebt und ist nun der ganze Stolz von Orion.

Jede Platte ächzt, als Orion, nachdem er dem Stier liebevoll den Rücken gegrault hatte, die Scheune verläßt und sich auf den Weg macht, um den zu treffen, der ihm immer wieder gute Laune bringt, egal wie schlecht er sich fühlt.

Berenike schreitet langsam auf ihn zu und küßt ihn zärtlich auf den Mund. Sogleich fühlt Orion die Wärme und die Geborgenheit, die ihn immer wieder erfüllen, wenn er die sanften Lippen von Berenike auf seiner Haut spürt. Früher hatte er sie immer Jungfrau genannt, doch diese Zeiten waren längst vorbei.

Langsam und mit einem weichem Lächeln auf dem Gesicht geht Orion mit Berenike Richtung Veranda, um sich dort schweigend hinzusetzen und den wunderschönen Anblick zu genießen. Völlig ergibt sich sein Wesen der Liebe, die er für Berenike empfindet. Nie würde er je von ihrer Seite weichen. Nie würde sie von seiner Seite weichen. Und er weiß genau, dass all seine Freunde immer bei ihm sein werden. Keiner wird je andere Wege einschlagen.

Mit weiten und sanften Augen schaut er Berenike voller Liebe an. Sie ist das schönste Wesen, das er jemals gesehen hat. Nie wird es irgend jemand wichtigeres geben. Berenike ist sein Leben und er liebt sie über alles. Sacht dreht er seinen Kopf herum und betrachtet die langsam aufgehende Sonne. Er weiß, dass er gleich verschwinden wird. Gleich ist nichts mehr von ihm zu sehen, doch er weiß auch, dass er bei Dämmerung wieder erscheinen wird. Und an seiner Seite wird Berenike sitzen und genauso schön aussehen, wie in diesem Augenblick.

An jedem Tag verschwindet er und all seine Freunde aufs Neue, selbst der pompöse Stier verschwindet samt der Scheune.

Völlig ruhig beobachtet Orion, wie helle leuchtende Sterne von der Sonne überstrahlt werden. Langsam spürt er wie die ersten Teile von ihm verdeckt werden. Gleich wird die Sonne alle Sterne überdeckt haben und Orion wird erst am nächsten Abend wieder erstrahlen. Berenike nimmt seine Hand in die ihre und gemeinsam beobachten sie wie die Sonne völlig den Horizont hinter sich gelassen hat. Beide schließen sie ihre, mit Liebe gefüllten, Augen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (David Polster).
Der Beitrag wurde von David Polster auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  David Polster als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Auf den Schwingen der Poesie von Ilse Reese



70 Gedichte mit schwarz/Weiß Fotos eigener Gemälde

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von David Polster

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Traurige Liebe von David Polster (Romantisches)
autobiographisch...mein Freund Peter von Rüdiger Nazar (Sonstige)
Ganz ohne Chance!? von Christina Wolf (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen