Klaus-D. Heid

ROMA

Es war der süßliche Geruch von Laura Biagiottis ‚Roma’, der mich abrupt aus der Lethargie des monotonen und unaufmerksamen Gehens riss. Von einer Sekunde zur anderen fühlte ich mich durch diesen Duft an die einzige Frau erinnert, die ich jemals liebte.

Passanten, die hektisch durch die Innenstadt marschierten, um den Frust des Daseins durch irgendwelche dümmlichen Einkäufe vergessen zu machen, warfen mir bitterböse Blicke zu, als ich plötzlich stehen blieb und mich irritiert umsah. Wahrscheinlich verfluchten sie mich jetzt, weil ich sie für einen winzigen Augenblick an ihrem Vorhaben gehindert habe.

Irgendwo, inmitten der Massen sich treibender Leiber, verlor sich vielleicht der zierliche Körper Janines.

Janine...

Fast war ich versucht, ihren Namen laut schreiend durch die Menschenmenge zu schleudern, als mir bewusst wurde, dass es Abertausende Frauen geben musste, denen ‚Roma’ ebenso gut gefiel, wie meiner Janine. Und selbst dann, wenn es tatsächlich Janine war, die diesen verführerischen Duft durch das unfreundliche Meer shoppingsüchtiger Ignoranten trug, war sie längst von dessen Wellen verschluckt.

Ein grimmig dreinblickender Mann im beigefarbenen Wollmantel stieß mich an, da ich ihm offenbar im Wege stand und er gar nicht daran dachte, einen Bogen um mich zu machen. An irgendeinem anderen Tag und auch noch vor ein paar Minuten, hätte ich äußerst zornig reagiert und hätte ihm vielleicht sogar ein Bein gestellt, um seinem rücksichtslosen Marsch ein radikales Ende zu bereiten. Jetzt aber sah ich ihm nur verdutzt hinterher und tat... nichts!

Janine hat sich vor einem Jahr von mir getrennt.

Langsam kehrte ich in die Realität zurück und ließ mich immer weiter vorwärts treiben. Ich hatte kein Ziel und hatte nicht die geringste Lust, mir eines der kunterbunt geschmückten Schaufenster anzusehen. Ich trieb einfach in der Woge von Menschen, denen es scheißegal war, woran ich gerade dachte. Aber konnte ich es ihnen vorwerfen? Hing vielleicht ein Schild um meinen Hals, auf dem stand, dass die Sehnsucht nach Janine meine Seele zerfraß?

Damals, vor einem Jahr, dachte ich für ein paar kurze Stunden, dass es auch ein Leben ohne Janine geben musste. Damals glaubte ich noch, stark genug zu sein, meinem Verlangen nach ihrer Liebe trotzen zu können. Dann, als ich am nächsten Morgen aufwachte und meine Hand vergeblich Janines warmen verschlafenen Körper suchte, explodierten alle Gefühle wie eine Atombombe in meinem Gehirn.
Die folgenden Nächte schlief ich nicht eine einzige Minute. Ich, der Alkohol wie die Pest hasste, schüttete irgendwelches Zeug literweise in mich hinein, um meinen Schmerz zu betäuben. Ich vernachlässigte mich, hing nur noch nutz- und reglos herum und beweinte mein Elend.

Es brauchte etwa ein dreiviertel Jahr und zwei gekündigte Jobs, bis ich endlich und ganz langsam wieder zu mir selbst fand. Zwar hatte sich Janine auf ewig in mein Unterbewusstsein eingebrannt, aber mein Selbsterhaltungstrieb gewann die Überhand und schützte mich vor weiteren Dummheiten.

Gott, wie habe ich sie geliebt! Gott, wie liebe ich sie noch immer...

Ich weiß wirklich nicht, weshalb – aber plötzlich stoppte mein zielloses Umherirren vor einem Eis-Café, das den Namen ‚Roma’ trug. Zufall? Natürlich Zufall. Was auch sonst.

Da mir ohnehin nach einem doppelten Espresso zumute war, betrat ich das Café, das mich mit einer Wolke aus Kaffeeduft und Zigarettenrauch empfing. Stimmengewirr. Unsicher sah ich mich nach einem freien Tisch um, an dem ich störungsfrei meinen Espresso trinken konnte, ohne den Tisch mit Schwachsinn brabbelnden, Hut tragenden Rentnerinnen und Zigarre rauchenden Rentnern teilen zu müssen.

Direkt neben der Garderobe, an der natürlich das Schild prangte, dass keinerlei Haftung bei Verlusten übernommen wird und am Eingang zur Toilette, entdeckte ich einen kleinen freien Tisch. Beim Setzen auf den klapprigen Stuhl wurde mir klar, dass dieser Platz aufgrund des Geruches, der aus der Toilette strömte, freigeblieben war.

Auch, wenn es sich bescheuert anhört – aber ich nahm diesen Geruch gerne in Kauf, um auch den letzten Geruchsnerv von der Erinnerung an Laura Biagiottis ‚Roma’ zu befreien.
Janine gehörte nicht mehr zu mir. Sie lebte ihr eigenes Leben, in dem ich keine Rolle mehr spielen durfte. Vielleicht war sie längst verheiratet? In einem Jahr konnte unendlich viel passiert sein. Vielleicht war Janine schon Mutter? Oder konnte es sein, dass sie noch immer alleine lebte? Dachte sie vielleicht ab und zu an mich?

„Espresso, bitte. Und bringen Sie mir auch ein Glas Wasser, ja?“

Der Kellner notierte sich meinen Wunsch, ohne mich anzusehen, auf einem Block und nahm die Bestellungen anderer Gäste auf. Ich jedoch glaubte, in seinem Gesicht eine gewisse Belustigung darüber zu sehen, dass ich derjenige war, der den ungeliebten Platz eingenommen hatte.

„Prego. Espresso e Acqua Minerale…”

Tatsächlich! Da war wieder dieses kaum zu bemerkende Grinsen. Ich bat darum, gleich zahlen zu dürfen und führte anschließend das Koffein meinem Blutkreislauf zu. Es war Janine, die mir dringend empfahl, Kaffee niemals ohne Wasser zu trinken, da Koffein dem Körper unglaublich viel Flüssigkeit entzieht.

„Wenn Du die zehnfache Menge Wasser im Verhältnis zum getrunkenen Kaffee trinkst, gleicht das den Flüssigkeitsentzug wieder aus. Tust Du’s nicht, vertrocknest Du irgendwann wie eine Primel in der Wüste, Bärchen...!“

Bärchen...

Janine nannte mich sogar noch Bärchen, als sie mir eröffnete, dass sie das Leben mit mir nicht mehr ertragen konnte. Ich sei ihr zu labil und viel zu wechsellaunig, meinte sie.

„Du bist ein herzensguter Mensch, Bärchen... aber wenn ich bei Dir bleibe, ziehst du mich immer tiefer runter. Es tut mir genauso weh wie Dir, dass ich Dich verlassen muss. Ich weiß, wie viel ich Dir bedeute und ich weiß auch, dass wir vielleicht in ein paar Jahren eine Chance hätten. Aber heute, Bärchen, muss ich gehen, wenn ich nicht an Dir zerbrechen will...!“

An mir zerbrechen. Und ich? Zerbreche ich nicht? Mal ist es dieser verfluchte Duft ‚Roma’, der mich an sie erinnert. Mal sind es irgendwelche Stimmen, in denen ich Janine zu erkennen glaube. Ein anderes Mal denke ich an sie, weil irgendjemand ‚Janine’ ruft, bis ich merke, dass eine andere Janine gemeint ist. Manchmal erinnern mich die kurzen blonden Haare einer Frau an Janines extremen Kurzhaarschnitt. Mal sind’s Bilder, die ich mir ansehe und von denen ich denke, dass sie auch Janine gefallen würden.

Der Gestank aus dem Klo wurde mir doch zu intensiv. Ich verzichtete darauf, das Mineralwasser zu trinken und stand auf. Was nutzte mir Vernunft, wenn ich sie nicht mit Janine teilen durfte?

„Arrivederci...!“

Das Grinsen des Kellners war nun unübersehbar.

Die frische Luft tat mir gut, wenngleich man schon Schlimmes gewohnt sein muss, um den Mief der Innenstadt ‚frische Luft’ zu schimpfen. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch und wollte mich erneut in das Gedränge und Geschiebe der mantel- und tütenschwingenden Matronen und Mätressen stürzen, als...

„Bärchen...?“

Unmöglich! Wer sollte hier...

„Hallo, Bärchen! Erkennst Du mich nicht?“

Ich erkannte sie. Alle Götter dieser Welt und all Ihr pferdefußschleifenden Teufel – ich erkannte sie! Und wie ich sie erkannte!

„Es ist schön, Dich zu sehen. Darf ich Dir Paul, meinen Mann vorstellen? Und diese kleine Zaubermaus heißt Nina und ist meine kleine Tochter...“

Es geht mir jetzt viel besser. Seit diesem Tag, an dem ich Janine, ihre Tochter und ihren Mann traf, geht’s mir wirklich viel, viel besser. Ich schlafe nun endlich, ohne Nacht für Nacht von Janine zu träumen. Ich trinke artig zehnmal mehr Wasser als Kaffee. Ich habe einen Job, der mich ausfüllt und mir Spaß macht. Ich liebe es, durch die überfüllte Stadt zu schlendern, mir die Schaufenster anzusehen und – ich trage inzwischen sogar einen Mantel!

Ab und zu denke ich daran, was wohl passiert wäre, wenn Janine sich nicht von ihrem Mann getrennt hätte, um zu mir zurückzukommen. Jetzt, drei Jahre nach unserem Wiedersehen in der Stadt, sagt Nina ‚Papa’ zu mir. Glücklich und zufrieden atme ich den Duft von Janines Haut ein.

Sie wissen schon: Laura Biagiottis ‚Roma’...


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