Jan Dahlke

Kleine Neujahrsnovelle

30.12.

"Meine Liebe. Dies soll mein letzter Versuch sein, mir das vom Leben zurückzuholen, was mir im Laufe der Jahre auf so unerklärliche Weise abhanden gekommen ist."

So lauten die ersten Zeilen eines Briefes den ein guter Freund vor so langer Zeit, daß ich mich kaum noch daran erinnern kann, an ein Mädchen seines Herzens richtete. Doch bevor ich Ihnen die weiteren Worte des Briefes anvertraue, den ich erst kürzlich wieder auf dem Speicher fand, möchte ich die Ihnen die Ereignisse, zu dessen besseren Verständnis, kurz wiedergeben.
Ich habe einen Teil des Abend, der Nacht, mit besagten Freund, Emmanuel Bove, verbracht und erst heute, beim Öffnen, der kleinen Briefsammlung, fiel mir dieser denkwürdige Jahreswechsel wieder in den Sinn.
Ich hatte Emmanuel zu Beginn meines Studiums kennen gelernt und in vertraulichen Gesprächen vertieften wir unsere Freundschaft bald darauf.

Emmanuel Bove war ein in allen Bereichen sehr mittelmäßig begabter Mensch, der es allein aufgrund seines Witzes, vom Kind armer Eltern, zu einem guten, in jedem Fall aber sehr sicheren Studienplatz in einer größeren Stadt gebracht hatte. Sein Sprachvermögen, war ihm dabei in wichtiger Schlüssel. Denn mein Freund hatte das Talent - was ich selbst des Öfteren erlebt hatte - solange auf sein Gegenüber einzureden, bis dieser entweder völlig entnervt zustimmte oder sich gar von den Argumenten Emmanuels gar überzeugen ließ.
Für seine Zukunft wünschte er sich nichts sehnlicher, als das abgeschlossene Staatsexamen, um endlich den Lehrerberuf ausüben zu können. Dabei ging es ihm jedoch weniger darum junge Menschen, nach dem heutigen Stand der Wissenschaft zu unterrichten, als vielmehr um den sicheren Stand eines Beamten im gehobenen Dienst; mit den damit einhergehenden monatlichen Überweisungen und der Befreiung der Rentenversicherung.
Durch einen glücklichen Zufall ergab sich für Emmanuel zum Jahreswechsel die Gelegenheit seinen Studienetat aufzubessern. Dazu brachte ihn eine Bekannte für einen guten Lohn an die Abendkasse einer modernen großen Sylvestergala unter.
So kam es das Emmanuel um Mitternacht, während sich unten und oben die arg vergnügungssüchtigen Bewohner seiner neuen Heimatstadt lauthals zuprosteten, dass er im geliehenen Anzug an der Tür stand, von der her es fürchterlich zog. Aber selbst inmitten dieser Freudetaumelnden Masse zeigte er sich mit stoischer Miene, mit einem verkniffenen Lächeln auf den Mundwinkeln. Insgeheim verabscheute Emmanuel nämlich diese Art von Menschen, die sich keine Gedanken machen mussten, wer sie bediente und trotzdem ausgelassen sein konnten.
Doch auch für ihn sollte es bald Gelegenheit zur Freude geben, hatten doch die Ausrichter der Veranstaltung zur Feier des Neujahrs beschlossen alle anständigen Bürger der Stadt frei und umsonst auf dem Fest flanieren zu lassen. So konnte Emmanuel um 3 Uhr die Kasse schließen und mit den Herren die Abrechnung vornehmen, und anschließend noch auf die kleine Feier im Kreise seiner Kommilitonen gehen zu der er sich verabredet hatte.
Die Stimmung war ausgezeichnet, als er eine Stunde darauf zu der Gesellschaft stieß, deren Reihen sich zwar schon gelichtet hatten, aber in der die Gespräche noch auf das Angeregteste kreisten. Neben einigen unserer gemeinsamen Bekannten hielt sich dort auch eine junge Frau, namens Lilly auf, zu der Emmanuel großes Zutrauen gefasst hatte. In der vergangen Tagen, seit Weihnachten, hatten die beiden häufiger gemeinsame Fahrten und Ausflüge unternommen, die eine Freundin arrangiert hatte. In Gesprächen war man sich näher gekommen, hatte vorsichtig die kleine Gesten und Blicke des Anderen zu Kenntnis genommen und sicher viel gelacht. Bei einem solchen Zusammensein muss auch die verrückte Idee entstanden sein, die Emmanuel unbedingt, scheinbar aus tiefster Seele, Tat werden lassen wollte.
Nachdem er sich in unserem Kreis etwas gewärmt - es war eine sternenklare und vereiste Nacht - und allen ein recht frohes Jahr gewünscht hatte, war er kaum zu Atem, unter den merkwürdigsten Andeutungen in die Küche verschwunden. Nach einiger Zeit - es mag eine Zigarettenlänge gewesen sein - kehrte er mit einem silbernen Tablett in der Hand, einem breiten, etwas einfältigen, Grinsen und mit nichts als einer weißen Fliege bekleidet in die Runde zurück. Auf das ungläubige Stauen der Beteiligten hin steigerte Emmanuel diesen verwirrenden Augenblick noch, indem er seelenruhig und mit geschulter Hand, zwei Cocktailgläser auf den Tisch servierte, die mit einer, vom satten Gelb ins dunkle Rot übergehenden, Flüssigkeit gefüllt waren. Er blieb vor Lillys Platz stehen, hob ihre noch schockierte Hand, küsste sie flüchtig und wiederholte die Prozedur auch bei deren Freundin. Schnell folgte nun eine große und laute Heiterkeit, der sich Emmanuel jedoch mit einem galanten, rückwärts zur Küche hin gewandten, Kratzfuss entzog. Auch noch als er wieder, mit dem geliehenen Anzug, bekleidet in die Runde zurückkehrte, wurde er mit den herzlichsten Kommentaren geneckt, die er, wie gewohnt, bedacht zurückwies. So fand er nach einigen Gesprächen, während denen eine Marihuana-Zigarette die Stimmung weiter erhellte, einen Platz neben der jungen Lilly, die ihre blonden Haare, mit der schwarzen Strähne heute offen trug, und machte ihr einige Komplimente zu ihrem Lächeln - dass einem wirklich das Herz warm werden ließ -.
Da auch ich mich an dem Genuss der Zigarette beteiligt hatte, sank ich tiefer in mich zurück, und wurde - ohne es selbst recht zu bemerken - Zeuge des folgenden Gesprächs:

- Wie war denn die Arbeit? fragte sie
- War nicht so viel los, wiegelt er ab
- Die Leute haben sich rausgeputzt und dumm und dämlich bezahlt und sich die Beine in den Bauch gestanden.
Die Brauen, leicht zusammengezogen beugte sie sich leicht nach vorn und berührte, geistesabwesend, ihr linkes Schlüsselbein. Fragend blickte sie ihn an.
- Wer es mag. sagte er, aber es wäre bestimmt netter bei euch hier gewesen.
sie lächelt. und er blitzte - als wollte er jemanden von seiner Meinung überzeugen -, als hätte ihn eine plötzliche Idee befallen mit den Augen.
- Sylvester ist wirklich eine sonderbare Sache. Die Leute putzen sich raus und gehen aus und knallen das neue Jahr herbei, aber das schlimmste daran ist ja offensichtlich, dass sie nicht es als etwas Besonderes betrachten, dieses weggehen und sich rausputzen und.
-Meinst du nicht, dass du das zu negativ siehst?
-Ja aber.

Und so begann sich zwischen den beiden ein Gespräch zu entfalten, das mal dieses und jenes Politische oder dieses Ethische striff, aber sich im Grunde doch darum drehte wer recht behalten sollte. Sie einigten sich mit vielen Worten zu guter Letzt auf ein Unentschieden und wendeten sich anderen Menschen mit anderen kleinen Gesprächen hin.
Später als sich der Nebel, der mir den Kopf schwer gemacht hatte, etwas aufgeklärt hatte war Emmanuel in ein Schachspiel zum neuen Jahr, wie er sagte, vertieft. Die Gäste hatten es sich inzwischen auf den Möbeln recht gemütlich eingerichtet und waren in ein seliges Dösen verfallen, unter ihnen auch Lilly, die an die Seite eines Bekannten gelegen schlief. Friedlich lag ihr Kopf an seiner Schulter und den Mund leicht geöffnet schlief sie einen leichten Schlaf, der nur durch die gelegentlichen Kommentare der beiden Schachspieler unterbrochen war.

Für den folgenden Neujahrstag hatte ich mit Emmanuel die Verabredung zu einem ausgedehnten Spaziergang im Park getroffen. Der eisige Ostwind hatte Entschlossenheit gewonnen und das neue Jahr, sowie die kleine Stadt völlig in seinen Griff genommen. Behandschuht, beschahlt und mit einem kleinen späten Frühstück gestärkt trat ich den Weg in den verabredeten Park an, traf viele Gleichgesinnte, junge Familien mit ihren Kindern, alte Paare, die sich gegenseitig stützten und Hunde die ihren Herren einen kleinen Weg in der Kälte abverlangten. Still grüßte man sich, hob die Hüte und wünschte sich ein frohes Jahr. Während ich mir aber in Gedanken Pläne für den Sommer und die Semesterferien zurechtlegte, sie mir ausmalte, kam ich dem Treffpunkt immer näher. Auf einem kleinen, künstlich angelegten Hügel über einem Ententeich, der einem herrschaftlichen Anwesen vorgelagert war angekommen, entdeckte ich meinen Freund der unter mir in der Senke war. Zum Gruß erhob er die Hand, winkte mir zu und zeigte auf die Eisfläche, um mir zu zeigen, dass sie sein Gewicht trage. Emmanuel bei jedem seiner Schritte beobachtend folgte ich dem Weg, am Hügel vorbei hinunter zu der Bank auf der wir im Sommer soviel Zeit verbracht hatten. Die Glocken schlugen zu vierten Stunde des Nachmittags, Kinderlachen drang zu mir und eben dieses unvergleichliche Krachen. Noch ehe ich es überhaupt gewahr wurde war Emmanuel verschwunden und an der Stelle, an der ich ihn eben noch gesehen hatte war ein großes Loch im Eis, von dessen Rand sich lange Risse bildeten. Mein Herz schlug in meinem Ohren. Ich höre das Keuchen meiner Lungen und das Knirschen der aneinander reibenden Eisschollen, noch so deutlich wie damals.

Und dann gestern dieser Brief den Emmanuel mir mit andern Dingen die er geschrieben, kleine Erzählungen, einige Gedichte, hinterlassen hatte. Als ich das kleine Kästchen in den Händen hielt - gefunden, während des Aufräumens, zu dem mich meine liebe Frau veranlasst hatte -, war mir als ob sich die Schleusen meiner Erinnerung weit geöffnet hatten; indem ich den dicken Staub vorsichtig fortpustete, war mein Freund wieder bei mir und ich ließ mich dazu hinreißen seine Worte, seine Stimme vor meinem inneren Ohr zu hören. So auch die eben dieses Briefes, der hätte in einer anderen Zeit von einer anderen Person gelesen werden müssen.

30.12.

Meine Liebe.
Dies soll mein letzter Versuch sein, mir das vom Leben zurückzuholen, was mir im Laufe der Jahre auf so unerklärliche Weise abhanden gekommen ist. Denn grade bist Du aus der Tür, ich lege mich in das Bett, drehe mich um mich selbst, ein dutzend Mal und mehr, meinen Gedanken drehen sich um eine ganz andere Achse, eine anderen Mittelpunkt, ein dutzend Mal. Viel zu dick aufgetragen, denkst Du jetzt sicher, kennen wir uns doch erst seit wenigen Tagen näher; aber wenn es jetzt nicht so spät und ich mit meinen Gedanken nicht so schlaflos wäre, hättest Du diesen Brief nicht in der Hand.
Um Dir aber einen Eindruck dessen, was mich wach hält zu geben, muss ich eine indirektere Form wählen:
Geschafft! Die Kasse ist zu, keiner kommt mehr auf das Fest. Freundlich geblieben, aufmerksam, schnell bin ich geblieben, trotz der vielen Angetrunkenen.
Ich bin auf dem Weg zu der Party, zum Glück fahren die Busse schon wieder, für die wir uns im Morgengrauen verabredet haben.
Gefunden! Ich klingele, jemand öffnet die Tür: Frohes neues Jahr!, geht mir wie Butter von den Lippen. Schnell ins Badezimmer, bevor mich zu viele Leute sehen. Ausziehen, anziehen. Ich überreiche euch die Cocktails, dürftig mit einem String für den Herrn bekleidet, fast so wie wir es uns auf dem Sofa ausgemalt hatten - vorhin; eben erst, als Du noch neben mir gesessen hast-. Alle lachen; Du und Johanna freut euch so sehr, dass ihr rot werdet und schon ist die ganze Aufregung vorbei.
Als ich aus dem Badzimmer, wieder umgezogen, sitzen fast alle wie zuvor auf den Sofas. Eine Tüte macht die Runde, doch ich will nicht jetzt nicht rauchen. Zielstrebig suche ich einen Platz in Deiner Nähe und verwickele Dich in ein Gespräch über Nutzen und Nachteile eines Cocktail-Shakers, wohl um meine Nervosität zu überspielen, indem ich irgendetwas daher rede. Du lachst und da ist es wieder dieses Gefühl. Fast so stark, wie einige Tage zuvor - heute- beim Abendessen mit Johannas Eltern und Nachbarn, als Du dich zu mir gebeugt hast und ich Deinen Geruch in der Nase, in mir aufgenommen, hatte. Doch dieses Mal bin ich mutig, ich atme durch.
"Sylvester ist wirklich nichts Besonderes, eigentlich geht nur ein altes Jahr und ein neues kommt."
Du schaust mich fragend an, die blonden Brauen leicht zusammengezogen.
"Stimmt!"
"Wäre es ein besonderes Sylvester wenn ich dich jetzt küssen würde?"
Die Brauen sind jetzt fast ein durchgezogener Strich, die Lippen leicht geschürzt, die Frage kam unerwartet. -neuer Anlauf!
"Ich dachte, Sylvester könnte etwas Besonderes werden, wenn man etwas Persönliches damit verbinden kann. Etwas sehr persönliches, etwas persönlich-besonderes. Für mich zum Beispiel, wäre es sehr Besonders dich zu küssen, nicht nur heute."
Du lachst, mein Herz schlägt mir bis zum Hals, so dass ich die Musik nicht mehr hören kann. Dann lehnst du dich vor und schaust mir tief in die Augen. Ich versinke in ihnen und fühle endlich Deine warmen, süßen Lippen auf meinen.
Dann drehe ich mich um, liege in meinem Bett von der altbekannten Wand beobachtet. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, Dir jetzt eine SMS zu schreiben. Mache ich aber nicht. Ich warte bis Sylvester, dann beweise ich meinen Mut.

E.B.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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