Diethelm Reiner Kaminski

Das Verhör




Alvarez erwartete Schlimmes, als er zum ersten Verhör geführt wurde. Ihm war flau im Magen, seine Knie waren weich. Er wusste, was ihm bevorstand: Schläge, Demütigungen, vielleicht sogar Folter. Die Nacht nach seiner Verhaftung hatte er in einer nasskalten Zelle ohne Licht und Pritsche zubringen müssen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Obwohl er sich so oft wie möglich bewegt hatte, waren seine Glieder steif vor Unterkühlung.
Der mit zwei Revolvern und über die Brust gekreuzten Patronengurten bewaffnete Soldat führte Alvarez mehrere Treppen hoch in ein mit hellen Möbeln ausgestattetes Büro. Der freundliche Raum wurde von der bereits heißen Morgensonne durchflutet.
Ein Offizier in heller Khakiuniform und roten Epauletten und Biesen forderte Alvarez höflich auf, in einem Ledersessel Platz zu nehmen.
„Es tut mir leid, dass Sie einige Unannehmlichkeiten erdulden mussten. Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen. Leider wurde ich erst heute früh von Ihrer Verhaftung informiert. Sie müssen wissen, das ist nicht der Stil der neuen Regierung.
Wir versuchen unsere Gegner zu überzeugen, aber wir möchten sie nicht durch Strafen und schlechte Behandlung zu noch erbitterteren Gegnern machen.
Sind Sie unser Gegner? Und wenn ja? Warum? Vielleicht sind Sie unwissend auf die falsche Seite geraten. Kooperieren Sie mit uns. Lassen Sie sich von der Richtigkeit unserer Volksbewegung überzeugen. Dann haben Sie nichts zu befürchten. Möchten Sie einen heißen Tee? Dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten.“
Alvarez beantwortete die Frage nicht, sagte stattdessen: „Was werfen Sie mir vor? Lassen Sie mich frei. Oder besorgen Sie mir wenigstens einen Anwalt.“
Der Offizier lächelte. „Sie irren. Sie sind nicht unser Gefangener. Betrachten Sie sich als unseren Gast, den wir, sagen wir, zu seinem eigenen Schutz, vorübergehend in unsere Obhut genommen haben. Innerhalb unserer militärischen Schutzzone dürfen Sie sich völlig frei bewegen. Selbstverständlich auch in der Mannschaftskantine essen und draußen spazieren gehen. Ich habe Ihnen auch bereits eine menschenwürdigere Unterkunft mit Dusche zuweisen lassen. Mein Adjutant wird sie Ihnen anschließend zeigen. Nur eins dürfen Sie nicht.“
„Und das wäre?“, fragte Alvarez, dem die ganze Geschichte nicht geheuer vorkam.
„Uns enttäuschen. Vertrauen gegen Vertrauen. Ihre Leute haben Ihnen in ihrer ideologischen Verblendung ein völlig falsches Bild von uns vermittelt. Vergessen Sie all diese Lügen. Schauen Sie sich in aller Ruhe bei uns um, unterhalten Sie sich, mit wem auch immer. Machen Sie sich selbst ein Bild. Wir lassen Ihnen da völlig freie Hand. Danach können wir uns über Ihre weitere Zukunft unterhalten. Ich denke, Sie fahren gut, wenn Sie sich für unsere Seite entscheiden.“
„Und wenn nicht?“, wollte Alvarez fragen, aber da klingelte das Telefon. Der Offizier horchte in den Hörer, sprang dann auf und sagte: „Sie müssen mich für zehn Minuten entschuldigen. Ich muss kurz zum General. Trinken Sie in Ruhe Ihren Tee, rauchen Sie eine Zigarette. Ich bin gleich zurück.“
 
Alvarez überzeugte sich, dass es keine Videokamera im Raum und keinen Spion in der Tür gab. Er stand auf und trat hinter den Schreibtisch des Offiziers. Der PC war eingeschaltet. Der Offizier hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den Bericht wegzuklicken, den er offenbar gerade begonnen hatte.
„Behandlung staatsfeindlicher Elemente September 2014“, lautete die Überschrift.
Alvarez überflog das Geschriebene.
„Die Abteilung Staatssicherheit hat seit dem Sommer 2014 ihre Anstrengungen verdoppelt, die bedrohlich ansteigende Zahl staatsfeindlicher Elemente durch freundliche Behandlung und intensive Überzeugungsarbeit einzudämmen. Hilfreich hierbei war das differenzierte Angebot von Aufgaben beim Aufbau unseres neuen Staates. Immerhin konnten im Monat September von 112 in Schutzhaft genommenen Bürgern 38 auf unsere Seite gezogen werden. Die verbleibenden 74 erwiesen sich vernünftigen Argumenten gegenüber als völlig unzugänglich. Sie ließen die ihnen zugestandene letztmalige Bedenkzeit verstreichen, ohne die geringste Bereitschaft erkennen zu lassen, zukünftig mit uns zu kooperieren. Gegen sie wurde ein Liquidationsbefehl erteilt, der in der Nacht vom 29. auf den 30.09.2014 vollstreckt wurde. Ich möchte hervorheben, dass gegenüber dem Vormonat eine Steigerung der Erfolgsquote um 30 % erzielt werden konnte. Daraus sollten folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Erstens sollten noch attraktivere Beschäftigungsangebote unterbreitet und zweitens die Inhaftierten vom Augenblick der Verhaftung an zivilisiert und zuvorkommend behandelt werden.“
Alvarez hörte Geräusche auf dem Korridor und kehrte schnell zu seinem Sessel zurück.
„Gute Nachrichten“, sagte der Offizier, „immer mehr Staaten haben diplomatische Beziehungen zu unserer jungen Regierung aufgenommen. Unserem Land steht eine glanzvolle Zukunft bevor. Hätten Sie nicht Lust, nach dem langen Bürgerkrieg beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen? Es soll Ihr Nachteil nicht sein. Tüchtige Anwälte kann unser Staat gerade jetzt brauchen. Wie steht´s?“
„Wenn Sie mich auf der Stelle freilassen, werde ich darüber nachdenken“, wich Alvarez aus.
„So einfach geht das nicht. Wir müssen sicher gehen, dass Sie nicht nur zum Schein auf unsere Seite einschwenken, um uns hinterher umso größeren Ärger zu bereiten“, sagte der Offizier.
„Und wie wollen Sie das verhindern?“, fragte Alvarez. „Sie sagten doch selber: Vertrauen gegen Vertrauen.“
„Das nehme ich Ihnen nicht ab“, sagte der Offizier. „Das Risiko können wir nicht eingehen. Hier, unterschreiben Sie das als Beweis ihrer echten Bereitschaft, Ihrer Vergangenheit abzuschwören.“
„Und was ist das?“, fragte Alvarez.
„Freiwillige Teilnahme an einem halbjährigen Umerziehungskurs“, sagte der Offizier. „Sind Sie dazu bereit?“
Alvarez dachte an die 74 September-Opfer, die offenbar nicht unterschrieben hatten.
„Klar“, sagte er, „ich kann Ihre Vorsicht verstehen. Vertrauen gegen Vertrauen. An mir soll es nicht liegen. Geben Sie her. Ich war, glaube ich, in einem großen Irrtum befangen.“
 



 

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