Robert Franke

Gefährliche Bahnfahrt durch Berlin

Ich war auf dem Weg zu einer Freundin und saß gegen 20:30 Uhr in der S-Bahn S7 Richtung Wannsee. Kurz bevor ich zu ihr aufbrach, hatte ich noch eine aufgenommene Reportage im Fernsehen über Notwehr, Nothilfe und juristische Probleme bei "übertriebenem" Helfen gesehen. Meine Gedanken kreisten anfangs noch über dem Thema, dann versanken sie in meinem Buch. Ich saß in so einer Vierersitzecke der S-Bahn und als die Bahn am Hackeschen Markt hielt, setzten sich eine ältere Frau und ein älterer Mann mit Lederjacke und -hut (Indiana Jones?) vor mich hin. Beide waren irgendetwas zwischen 45 und 60 Jahre alt. Ich wechsle jetzt für den billigen Mittendrin-Effekt in die Gegenwartsform.

Die ganze Zeit redet der Mann und erzählt von seiner 93-jährigen Mutter, ihrem Hüftbruch, Genesung, Unfall beim Vorhänge aufziehen und einem daraus resultierenden Schlüsselbeinbruch, Gefahr, im Heim zu landen, Genesung durch geduldiges Training und so weiter und so fort. Ja, ich könnte die Geschichte beinahe ganz wiederholen, denn auf das Lesen kann ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren, da die Stelle in meinem Buch schwierig zu verstehen ist, ein Kapitel über die Philosophie des Geistes und Selbstbezüglichkeit verschiedener Strukturen. Das Gespräch dauert also an, dann setzt sich schräg gegenüber ein Mann mit schwer mit Taschen bepackter Sackkarre hin. Er brubbelt wirr vor sich hin und gestikuliert und diskutiert mit einem unsichtbaren Gegenüber, offenbar beleidigt ihn der Unsichtbare dauernd, denn der Mann wird zunehmen unfreundlicher zu dem leeren Luftraum vor ihm. Dann fällt die Sackkarre durch einen Ruck im Zug um, dem Lederjackenmann direkt vor die Füße. Er hebt sie auf und wird als Dankeschön von dem offensichtlichen Säufer gegenüber blöd angequatscht. Ich sehe mir den Murmelnden an, ja, scheint ein Säufer zu sein, heruntergekommene Erscheinung, schwerfällig in Sprache und Gestik, redet mehr zu sich selbst, als zur Außenwelt. Der Ledermann reagiert nicht und setzt das Gespräch oder eher den Monolog mit der Frau, die eigentlich nur "Hm" und "Ja" sagt, unbeirrt fort. Der Säufer wird mit der Zeit besser vernehmbar, greift Worte des Ledermanns auf und nutzt sie für brabbelnde  Beleidigungen. An Stelle des Unsichtbaren, der wahrscheinlich zu wenig reagiert hatte, wird nun der Ledermann beleidigt. Der Säufer wirft ihm auf einmal Gummibärchen vor die Füße, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ledermann reagiert nicht. Ich beobachtete beide, da der Säufer jetzt eine Flasche hervorgeholt hat. Glücklicherweise nutzte er sie nur, wie Säufer eben eine Flasche nutzen, und nicht als Waffe oder Wurfgegenstand. Schließlich teilt der Säufer dem Ledermann mit, dass er, in seiner gelben Lederjacke, gefälligst reagieren soll, eine beschissene Fotze sei und noch einige weitere nicht gerade erbauliche Eigenschaften besäße.

PLÖTZLICH dreht sich der Ledermann zu dem Säufer um, beginnt ihn aus voller Kehle anzuschreien und durch den gesamten Zug zu brüllen, dass er sein blödes Maul halten soll, steht weiter schreiend auf und rammt mit kurzem, aber unheimlich kräftigem Anlauf mithilfe seines stämmigen Körpers den Säufer in seinen Fensterplatzsitz hinein und packt in hart an. Ich sehe nur die gelbe Lederjacke von hinten, völlig von der Situation überrascht. Ich habe  mit Gegenbeleidigungen oder auch Handgreiflichkeiten zwar zur Vorsicht schon mal gerechnet, weil Besoffene ja leider sehr ausdauernd beim Nerven sein können, aber das gerade der Lederjackenmann plötzlich wie ein Irrer anfängt zu brüllen und den Säufer anzugreifen, ist dann doch leicht überraschend. Er hat sich anscheinend beim Ruhigbleiben immer weiter aufgeladen, bis der Säufer ihn schließlich zum Explodieren brachte. Ich überlege für Sekundenbruchteile, ob der Ledermann nur einschüchtern will oder gerade gewalttätig ist, weil ich ja nicht genau sehe, was er tut, da höre ich mich auch schon im besten Bundeswehr-Offizier-Befehlston sagen "Lassen Sie sofort den Mann in Ruhe". Im Nachhinein betrachtet, war der Ton schroff, tief und laut, mit Absicht so, als würde ich das jeden Tag machen, um keinen Zweifel an meiner Autorität zu lassen und natürlich, um meine totale Unsicherheit zu überspielen. Ich bleibe betont cool sitzen und rege mich nicht. Der Ledermann lässt von dem nun recht kleinlauten Säufer ab, dreht sich ruhig um und fragt, während er sich vor mich hin setzt: "Wie war das gerade?" Ich bleibe immer noch möglichst lässig mit dem Buch sitzen, immer noch ein Bein gemütlich auf den Balken unter dem S-Bahn-Fenster gestellt und bereite mich innerlich, da ich jetzt eh in der eventuell gefährlichen Situation war, darauf vor, ihm, sollte er genauso auf mich eindringen wollen, einen geraden Tritt zur Brust zu setzen, um Zeit zu gewinnen. Ich verlagere unmerklich mein Gewicht auf das Bein am Fenster und spanne Arm, Rücken und Oberschenkel hart an, um nur noch den Startbefehl zum Tritt geben zu müssen und dadurch schneller zu sein als er. Das alles passiert in der Sekunde, als der Ledermann sich neben die Frau wieder vor mich setzt. Er schaut mich eiskalt an.

Ich schaue arrogant zurück, als wäre ich auf ein kleines Kind sauer, runzele ärgerlich die Stirn. Jetzt sehe ich zum ersten Mal das Gesicht des Ledermanns. Ein netter älterer Herr sieht anders aus, er hat kalte hellblaue Augen, ein wetterverbranntes, faltiges Gesicht, wie aus einem schlechten Abenteuerfilm, einen silbernen Ohrring am linken Ohr, zumindest unter dem Indiana-Jones-Hut keine Haare und die Falten in seinem Gesicht zeigen seinen Zorn. Ich glaube mir fast selbst nicht, wenn ich das schreibe, aber nachts laufen ja viele Gestalten durch Berlin. Choleriker in Behandlung und noch dazu Pseudo-Abenteuerer, denke ich kurz deprimiert. Ich entscheide mich deshalb, ihn durch Vernunft und Ruhe zu besänftigen. Tobsucht möchte ich nicht riskieren, weil er sich durch jeden Angriff durch mich nur reinsteigern würde. Dann würde er mich, wenn es doof liefe, einfach zu Brei schlagen, trotz meiner ach so tollen Kampfkünste. Meine lässige, desinteressierte Haltung beibehaltend, um ihm zu zeigen, dass ich grosses, grosses Häuptling in diesem Zug bin und keine Angst habe, was zumindest teilweise eine Lüge ist, sage ich ernst und ermahnend "Er ist betrunken und kann sich nicht wehren." Mein Ton kippt beinahe, weil ich ob seines eiskalten Blickes schwer schlucken muss, aber ich kann mich in eine Erhöhung der Lautstärke retten. Der Ledermann scheint nachzudenken, ob er antworten soll, mustert mich weiterhin so unerbittlich, das mir kalt wird. Der war in seiner Jugend Schläger, denke ich bei mir. Seine Monolog-Partnerin nimmt ihm eine Antwort ab und meint doch tatsächlich vorwurfsvoll "Ja, aber was soll man denn tun, wenn der einen beschimpft." Ich lache beinahe los, so lächerlich dumm ist diese Frau doch tatsächlich, ohne jede Altersweisheit oder Anstand und ich, als junger Mann, muss ihr die bunte Welt der Moral erklären. Tolle Ironie. Ich behalte meinen ermahnenden, aber nicht arroganten, eher versöhnlichen, Lehrer-Ton bei und meine trocken, den Blick schon wieder im Buch, um die Situation flach zu halten: "Kein Grund handgreiflich zu werden."

Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich sehe mich schon mit gesplittertem Schädelknochen oder Nasenbein an der Wand kleben, wenn der Ledermann sich überlegt, dass so ein junger Wichtigtuer wie ich, der hier den Belehrer spielt, eigentlich doch mal eine sünftig auf's Maul vertragen könnte. Ich überlege halb panisch, habe nur das Überraschungsmoment eines extrem starken Trittes zum Solar Plexus (evtl. keine Luft für Minuten, Rippenbruch), unter sein Kinn (evtl. Kieferbruch, Schmerzen, Ersticken), in sein Gesicht (evtl. Panik, Schmerzen) oder in die Magengrube (evtl. innere Verletzungen, Erbrechen), um den Kampf zu beenden, bevor er anfängt. Dabei könnte er schwer verletzt werden, entweder durch den Tritt oder den Fall nach hinten. Der Notwehrparagraph des Strafgesetzbuches §32 StGB saust in meinen Gedanken vorbei und winkt einmal freundlich. Präventiv darf ich angreifen, es muss verhältnismäßig sein, meine Gedanken kreisen. Kommt es zum Nahkampf muss ich sofort meinen Platz verlassen und in den Stand kommen, was er, der anscheinend Erfahrung hat, verhindern könnte. Eine Sekunde vergeht. Noch eine. Mein Blick tut so, als würde ich weiterlesen. Peripher beobachte ich den Ledermann, die Frau ist unwichtig, der Säufer zu weit weg. Ich krame in meinen Erinnerungen an die Szene. Hinter mir sitzt nur eine junge Frau, weiter vorn zwei Mädels, ganz hinten mehrere Frauen mit Kind. Sonst ist die Bahn zu dieser Zeit hinter den großen Bahnhöfen leer. Ich schicke ein Gebet an einen Gott, an den ich nicht glaube, dass jemand genug Hirn hat, die Polizei zu rufen, wenn die Situation eskaliert. Äußerlich lese ich weiter.

Da meldet sich der Säufer zu Wort. Meine Worte zu der Frau sind ein paar Augenblicke alt. Er fragt irgendwas, dann ohne ersichtlich Grund, pöbelt er "Ey, hast Du ein Programm?" Ich bin verwirrt, er hat wohl meine Worte zu der Frau falsch verstanden, wollte aber darauf reagieren. Ich lächel freundlich, auch als Beispiel für die zwei Trottel mir gegenüber und sage bedauernd, aber nicht herablassend: "Nein, tut mir leid, ich habe kein Programm." Ich tue so, ich würde ich weiterlesen. "Ist jetzt 2010?" Ich blicke freundlich auf. "Ja, es ist 2010." Ein Lächeln und weiterlesen. Die Bahn hält. Der nun wortlose Ledermann bedeutet der Frau mit einer Geste, dass sie nun aussteigen. Beide erheben sich. Ich bin hellwach. Der Säufer steht ebenfalls auf, nimmt seine Sackkarre. Die beiden verlassen die Bahn, der Säufer mit Abstand auch. Ich habe Angst, dass das Spielchen auf dem Bahnsteig fortgesetzt wird, aber beide Parteien gehen in entgegengesetzte Richtungen. Die beiden sind sicherlich in einen hinteren Wagen wieder eingestiegen. Der Säufer ruft einem Passanten was zu, die Tür schließt sich.

In der Dunkelheit Wannsees angekommen, sichere ich mich ab, dass der Ledermann mir nicht aus Rache nachsteigt, aber es bleibt ruhig. Mein Puls ist zu meinem Erstaunen geradezu langweilig normal, ich gehe im Halbdunkel der Straßenlaternen meinen restlichen Weg und es bleibt still.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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