Diethelm Reiner Kaminski

Und der Rest ein Fest



Meine Großmutter pflegte oft zu sagen: „Ordnung ist das halbe Leben.“ Nach diesem gewichtigen Ausspruch ergänzte mein Opa jeweils „Und der Rest ein Fest.“
Diese beiden Sätze kennzeichneten nicht nur zwei gänzlich gegensätzliche Charaktere, sondern such zwei Lebensweisen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Meine Oma rackerte sich ohne Not zeitlebens ab und versuchte unermüdlich Ordnung in das Chaos zu bringen, das mein Opa ebenso unermüdlich anrichtete. Offensichtlich brauchte sie sein Chaos ebenso wie er ihre Ordnung. Sie, um sich bestätigt zu fühlen in ihrer Mission, ihren Mann vor dem Abrutschen in die Gosse zu bewahren, er, um im seinem Chaos einen Rettungsanker zu haben, der ihn vor dem Untergang bewahrte. Zu missionieren und zu seinem fröhlichen Lebenswandel zu bekehren, versuchte er sie übrigens auch, hatte damit aber keinen Erfolg. Dabei hatten sie sich auf einer Kirmes kennengelernt. Aber dorthin muss sich meine Großmutter als junges Mädchen verlaufen haben, denn soweit ich weiß, hat sie danach nie wieder eine besucht, während mein Großvater Stammgast auf Jahrmärkten und Volksvergnügungen war.
Meine Großmutter versuchte ebenso eifrig, ihr Vermögen zusammenzuhalten, wie er, es ihr mit immer neuen Tricks und Versprechen zu entreißen.
Er tätigte Scheinkäufe, schickte einen seiner vielen Kumpels, mit denen er die Nächte durchfeierte, zu seiner Frau nach Hause, um Geld zu holen und das Geschäft seines Lebens zu tätigen. Das Geld versoff er dann mit seinen Zechkumpanen. Ein großer Rosenstrauß aus dem Stadtpark nahm Großmutter am nächsten Morgen jeden Wind aus den Segeln. Oder er spielte den Kranken, der dringend eine teure Medizin benötigte.
„Die kann ich dir doch besorgen, bleib du liegen und schone dich“, versuchte Großmutter den offensichtlichen Betrugsversuch abzuwenden, aber Großvater bestand darauf, sie höchstpersönlich aus der Apotheke zu holen, um zu verhindern, dass Großmutter sich wieder die falsche andrehen ließ. Am nächsten Tag war er tatsächlich krank, aber nicht von der Krankheit am Vortage, sondern vom Übermaß des Alkohols. Ich habe Großvater nie arbeiten sehen. Für ihn war die eine Hälfte des Lebens ein Fest und die andere Hälfte die Erholung vom Feiern und Genießen. Wovon er lebte und sich seine Eskapaden leistete? Zu einem geringen Teil durch Kartenspiel, Wetten und Knobeln, aber zum größeren Teil vom Erbe seiner Frau, das ziemlich beträchtlich gewesen sein muss, denn es reichte immerhin, bis Großvater im Alter von 86 starb. Ohne dieses Erbe im Hintergrund hätte Großvater zweifellos arbeiten müssen. Als gelernter Drucker hätte er auch problemlos eine Beschäftigung gefunden, aber er sah nicht ein zu arbeiten, während so viel Geld nutzlos auf Großmutters Konto lag. Abgesehen von seinen vielen kleinen Lügen und Betrügereien hat mein Großvater meine Großmutter ein Leben lang auf Händen getragen. Er machte ihr Komplimente, dass ihr die Ohren geklingelt haben müssen, verwöhnte sie mit Geschenken – von ihrem Geld, wovon sonst, und verkündete der ganzen Welt, dass er mit seiner Frau das große Los gezogen habe. Ich glaube sogar, dass er das ehrlich meinte und dabei ausnahmsweise nicht an ihr Geld dachte.
Mein Großvater hatte noch ein weiteres stichhaltiges Argument. Seine Frau wisse nicht zu leben. Und mit ihrem Geld etwas Rechtes anzufangen, schon gar nicht. Sie besaß aus dem Erbe ihrer Eltern ein großes Haus und einen noch größeren Garten, der die Familie weitgehend ernährte, Bedürfnisse, die darüber hinausgingen, kannte sie nicht. „Totes Kapital muss zum Leben erweckt werden“, kommentierte mein Großvater diesen in seinen Augen unhaltbaren Zustand und bestellte zum fünfzigjährigen Geburtstag seiner Frau eine zehnköpfige Kapelle, um ein Geburtstagsständchen zu spielen, das die halbe Nacht andauerte. Die nicht unbeträchtliche Rechnung ging an seine Frau.
Kaum zu glauben, aber die beiden waren ein glückliches Paar. Sie lebten in einer für Außenstehende schwer zu begreifenden wechselseitigen Anziehung, fanden im anderen das, was ihnen selbst fehlte. So wundert es nicht, dass meine Großmutter ihrem Mann nach seinem Tode noch im selben Monat folgte, um die gestörte Ordnung ihrer Ehe wiederherzustellen. Großvaters Begräbnis war, so hatte er es in seinem Testament verfügt, ein fröhliches Fest mit Blaskapelle und anschließendem Festmahl für die vielen Freunde, die lärmend Abschied von ihrem Zechbruder nahmen. Großmutters Beerdigung fand in aller Stille und Bescheidenheit statt, so wie es ihrem Wesen entsprach.
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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