Diethelm Reiner Kaminski

Burgen



Wer gerne in der U-Bahn liest, um die unvermeidlich lange tägliche Fahrtzeit sinnvoll zu nutzen und sich gleichzeitig den Anblick mürrischer Gesichter zu ersparen, der interessiert sich in der Regel auch brennend dafür, in welche Bücher andere Menschen ihre Nase stecken.
Um die meisten Lektüren beneide ich die Leute nicht. Zum Glück gibt es jedoch auch herausragende Beispiele hoher Lesekultur. Die findet man gelegentlich bei Frauen. Bei Männern habe ich Vergleichbares eher selten erlebt. Neben eine solche Frau möchte ich mich am liebsten setzen, um ihr Buch in trauter Zweisamkeit zu lesen, Seite um Seite, Zeile um Zeile, Tag für Tag – bis zum glücklichen Ende. Ich meine, nicht des Buches, sondern unserem, sobald wir nämlich erkannt haben, dass uns ein gütiges Schicksal über die gemeinsame Liebe zum Buch zusammengeführt hat und uns bis an unser Lebensende miteinander verbindet.
Vertieft in Johann Gottfried Schnabels Roman ‚Die Insel Felsenburg‘ aus der Epoche der Aufklärung, sitzt mir eine Frau gegenüber, die mir schon seit einigen Tagen angenehm aufgefallen ist. Mich hat sie noch nicht einmal bemerkt. Ich hole meine Lektüre hervor und vertiefe mich meinerseits in Johann Gottfried Schnabels ‚Die Insel Felsenburg‘. Ich habe selbstverständlich die gleiche hellblaue Leinenausgabe im Oktavformat erstanden. Es dauert ein Weilchen, bis die Frau die Dublette bemerkt. Ich heuchele die reinste Unschuld und gebe vor, noch tiefer in mein Buch versunken zu sein als sie, bis sie die Spannung nicht mehr erträgt und ausruft: „Was für ein Zufall. Die Insel Felsenburg. Dass diesen großen, leider in Vergessenheit geratenen Roman heute noch jemand liest.“
„Noch?“, behaupte ich keck, „immer wieder. Eins meiner Lieblingsbücher. Wie gefällt es Ihnen?“ Und schon sind wir mitten in einem literarischen Meinungsaustausch.
Nach drei weiteren gemeinsamen Tiefenanalysen der Schnabelschen Insel-Utopie unternehme ich zwischen der U-Bahn-Station Bärlauchstraße und der U-Bahn-Station Petersilienallee den Versuch, die Burg zu erstürmen.
„Wäre schön, wenn wir unsere Gespräche heute Abend im Restaurant „Wolkenburg“ fortsetzen könnten.“
„Gespräche ja; Wolkenburg nein. Ich bleibe lieber mit beiden Beinen auf dem Boden.
Da es kein Restaurant namens ‚Felsenburg‘ in der Stadt gibt, mache ich Ihnen einen Gegenvorschlag: Wie wär´s mit dem Café Schnabel?“
Seit Monaten belagere ich nun schon die Felsenburg. Ohne jeden Erfolg.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich es eines Tages schaffen werde. Mir ist keine Burg in der geschichtlichen Überlieferung bekannt, und habe sie auch für noch so uneinnehmbar gegolten, die nicht letztlich doch geschleift und gebrandschatzt wurde.
Dennoch stelle ich mir die bange Frage, ob ich mir nicht lieber eine Lesepartnerin mit zugänglicherer Lektüre hätte suchen sollen – z. B. mit Jutta Sanellas erotischem Bestseller ‚Die Burg der Lüste‘.
 


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