Diethelm Reiner Kaminski

Laubarbeiten



 
Bis zum Rand ihrer halbhohen roten Stiefel versank die Frau im Herbstlaub, das die Kehrmaschinen der Stadtreinigung für den weiteren Abtransport am Straßenrand zusammengeschoben hatten.
Hektisch scharrte sie das Laub mit den Füßen auseinander, den Blick starr auf den Boden geheftet.
„Haben Sie etwas verloren?“, sprach ich sie an, „kann ich Ihnen irgendwie helfen? Was suchen Sie?“
„Den Stein der Weisen, wenn Sie es genau wissen wollen“, entgegnete sie schroff.
„Fragen Sie doch mich. Ich habe ihn längst gefunden“, gab ich es ihr zurück, nur sehr viel freundlicher.
„Im Ernst. Ich würde Ihnen gerne helfen, wenn ich wüsste, was und wie“, blieb ich hartnäckig.
„Einen Ring.“
„Oweia. Wenn Ihr Ehemann den vermisst“, flachste ich.
„Kein Ehering. Ein Erbstück meiner Mutter. Den wollte ich mal an meine Tochter weitergeben.“
„Dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen, damit Ihre Tochter nicht leer ausgeht. Sehr alt kann sie ja noch nicht sein, wenn ich Sie so ansehe …“
„Die ist noch gar nicht vorhanden“, antwortete die Frau, schon etwas aufgetauter.
„Auch in der Hinsicht stehe ich gerne zur Verfügung“, sagte ich und erntete einen strafenden Blick für meine Unverschämtheit.
„Wie sieht er denn aus, der Ring?“, fragte ich die Frau, die ihr Gescharre währenddessen nicht unterbrochen hatte.
„Ein Goldring, schmal, mit einem Rubin“, gab sie Auskunft.
„Wie schön, der hebt sich ja auch besonders gut vom bunten Herbstlaub ab“, nahm ich ihr jede Hoffnung auf Erfolg, fing aber trotzdem an, das Laub mit den Füßen auseinanderzuschieben.
„Ist das hier die Stelle, wo Sie den Ring verloren haben?“, fragte ich vorsorglich nach.
„Woher soll ich das wissen?“, sagte sie, „irgendwo hier.“ Ihre weitausholende Handbewegung wies über schätzungsweise hundert Kubikmeter Laub.
„Am besten besorgen Sie fünfhundert Müllsäcke, damit wir die Blätter einzeln in die Säcke tun. Sonst sehe ich schwarz.“
„Dazu noch eine Hundertschaft Polizisten. Und eine Staffel Suchhunde“, setzte die Frau noch eins drauf. Immerhin ging sie auf meinen schwarzen Humor ein.
Über eine Stunde lang hatten wir nun schon das Laub aufgewühlt. „Wie Hennen auf der Futtersuche“, bemerkte ich.
„Wenn schon, dann Hahn und Henne“, korrigierte sie mich.
„Wir haben noch gar nicht über eine Belohnung gesprochen“, sagte ich, während ich mich zum x-ten Male vergewisserte, dass der Ring noch in meiner Manteltasche war. Die Frau hatte ihn in dem Café verloren, in dem ich, am Nebentisch sitzend, vor zwei Stunden aufmerksam auf sie geworden war. Sie hatte ihn vom Finger gezogen und gedankenverloren damit gespielt. Dann war er – von ihr unbemerkt – unter den Tisch gefallen. Ich hätte ihn ihr gleich zurückgeben können, aber das hätte mich um die Chance gebracht, mit ihr ins Gespräch zu kommen und mehr über sie in Erfahrung zu bringen. So war ich ihr lieber gefolgt.
„Wenn Ihnen der Ring wirklich so viel bedeutet, wäre ein Kuss doch nicht zu viel verlangt, oder?“, wurde ich noch frecher. Ich wollte ihr aber vor allem zeigen, dass es mir nicht um Geld ging, sondern dass ich sie begehrenswert fand.
„Ich habe die Hoffnung schon aufgegeben“, sagte sie, „den Ring finden wir im Leben nicht, da kann ich Ihnen ohne jedes Risiko hundert Küsse in Aussicht stellen.“
„Allein die Aussicht setzt ungeahnte Energien frei“, rief ich und wühlte mich wie eine menschliche Kehrmaschine durchs Laub. Ich musste einen ausreichenden Abstand gewinnen, damit die Frau nicht sehen konnte, wie ich den Ring aus der Tasche zog.
„Ich hab ihn, hier ist er“, schrie ich triumphierend, „her mit der Belohnung.“ Etwas zu früh und zu eifrig, denn der Ring rutschte mir aus der Hand, fiel in den Laubberg und blieb verschwunden, so emsig ich auch suchte.
Die Frau war herbeigeeilt und blickte empört auf meine leeren Hände.
„Auf den Arm nehmen kann ich mich selber. Für diese Art von Humor habe ich nicht das geringste Verständnis.“ Wütend eilte sie davon. Selbst wenn ich weitergesucht und den Ring gefunden hätte, würde ich nicht gewusst haben, wo ich die Frau hätte finden und mir den versprochenen Kuss hätte abholen können.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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