Pierre Heinen

Der Schlachter singt

Da ist das Geräusch schon wieder! Ein gedämpftes, weinerliches Wischen. Ich blicke zum Radiowecker, aber sein Display ist in der Dunkelheit verborgen. Sieht so ein Stromausfall aus? Plötzlich ist kein Ton mehr zu vernehmen. Die unheimliche Stille im Haus spannt eine Gänsehaut über meinen Körper.

Mit einem Ruck werfe ich die Bettdecke von mir, als müsste sich der Alptraum so vertreiben lassen. Auf einmal schlurfende Schritte im Flur. Sie kommen näher. Was geht da vor sich? Einbrecher? Mein Großvater hört sich anders an. Ich atme tief ein und aus. Tonnenweise Angst lastet auf meinen Schultern. Die Polizei anrufen? Ich greife vorsichtig nach meinem Handy auf dem Nachttisch. Es streikt! Der Akku wird leer sein.

Totenstille. Ich steige behutsam aus dem Bett. Eisige Kälte. Träume sind irgendwie anders. Ich zittere. Das Wischen ist wiederum da, diesmal wesentlich lauter. Ich schrecke zusammen. Was nun? Die Geräusche kommen aus dem Zimmer von Luise. Daran besteht kein Zweifel. Ich muss nach meiner kleinen Schwester sehen! Ich muss! Mama und Papa werden spät nach Hause kommen und Opa wird unten vor dem Fernseher eingeschlafen sein. Ich darf Luise nicht im Stich lassen! Nicht jetzt!

Ein melodisches Summen springt jäh aus der Finsternis hervor. Wer ist da draußen?, hätte ich am liebsten zum Korridor hin geschrien.

"... und der Schlachter singt sein Lied", dringt eine Zeile durch die Wände.

Gelähmt stehe ich vor dem Bett. Ich schließe die Augen. Etwas Weiches streift über meine Tür hinweg. Ich schlucke angestrengt. Dann ist es ruhig. Meine Augen zeigen mir nur schleppend die Konturen des Zimmers. Die Taschenlampe! Ich schleiche zum Büro und bemächtige mich des soliden Gegenstandes. So mutig bist du nicht!, hänselt mich die Angst. Feigling!

Die Strecke bis zur Tür ist lang, war noch nie so lang vorher. Endlich stehe ich davor und wage es, meine Hand auf die Klinke zu legen. Ich nehme das Wischen abermals wahr. Der Griff ist kalt wie ein Grabstein. Ich umschließe ihn vollständig, drücke gen Boden. Mein Herz pulsiert heftiger. Der offene Spalt lässt mich außer dem düsteren Flur nichts erkennen.

Mein linker Daumen klebt auf dem Wippschalter der Lampe. Er will nicht drücken. Ich lehne mich gegen die Tür. Luises Schlafzimmer, schräg gegenüber, liegt im Halbdunkel. Eine ganz in Schwarz gehüllte Gestalt kniet neben dem Bett und wischt mit einem Putzlappen über den Boden. Sie kehrt mir den Rücken zu. Eine Taschenlampe liegt neben ihr. Ich höre, wie jemand die Treppe hochkommt. Mein Blick schnellt nach links, zum Ende des Korridors. Ein runder Lichtschein schwebt umher.

"... die Sterne sind vernetzt", psalmodiert die sich nähernde Person.

Als ich die Tür zuziehen will, bemerke ich im Augenwinkel eine Bewegung. Die Figur aus Luises Zimmer ist aufgestanden und sieht mich an. Ich ziehe erschrocken die Tür zu. Schließe ab. Das Blut rast durch mich hindurch. Schritte. Es wird mit Fäusten gegen das Holz gehämmert, die Klinke wird malträtiert.

"Lass uns verschwinden!", höre ich den Mann vom Ende des Flures her rufen. "Es wird Zeit!"

Beide hasten sogleich wortlos die Stufen hinunter. Ich muss hier raus! Die Eingangstür fällt krachend ins Schloss. Nichts und niemand mehr wagt es, die Stille zu unterbrechen. Ich knipse die Taschenlampe an. Das beruhigt. Der Lichtstrahl wird zur Waffe im Kampf gegen Angst und Schrecken. Ich lasse es darauf ankommen und öffne die Tür. Für Luise!

Auch der Lichtschalter in ihrem Zimmer bringt nicht das gewünschte Resultat. Auf dem Haus liegt ein düsteres Laken. Ich gehe zu ihrem Bett hinüber. Im Schein der Lampe sehe ich den Putzlappen, der zusammengeknüllt auf dem Parkett liegt. Blut hat sich in den Stoff hineingesaugt. Angewidert drehe ich mich um. Was ist passiert? Wo ist meine Schwester?

Zurück in den Flur. Ob Opa wohl noch da ist? Mit der Angst im Nacken schleiche ich zur Treppe. Diese Stille ist unheimlich.

"Hallo?", frage ich flüsternd die Stufen hinunter.

Nichts antwortet. Gänsehaut. Du traust dich nicht runter!, spottet die Angst. Die vierzehn Tritte kennen mich und ich sie auswendig. Unten angekommen, halte ich inne. Absolute Ruhe. Im leeren Wohnzimmer präsentiert der Fernseher keine Bilder. Wo ist Opa? Ich gehe zur Eingangstür.

Eine glänzende Mischung aus Schnee und Wasser zeigt sich meiner Lampe auf dem Boden. Zitternd streife ich mir eine Jacke über, die an einem der Haken hängt. Meine riecht anders. Ich öffne die Tür und sehe hinaus. Wie Schlittenhunde ziehen die Schneeflocken den eisigen Wind hinter sich her. Die Straßenlaternen leuchten und geben mir Halt.

In den Memoiren der daumendicken Decke vor dem Haus entdecke ich unzählige Spuren. Alle führen sie über die Landstraße hinweg zur Treppe, die ins Dorf hinaufführt. Für Luise! Nackte Fußsohlen berühren den Schnee. Sekunden später stiefele ich über die Straße und folge entschlossen den Abdrücken. Links und rechts der Treppe schläft die frische Schneedecke auf dem Hang. Meine schmatzenden Tritte wecken sie nicht auf.

Außer Atem oben angekommen, sehe ich eine der schwarzen Gestalten mit einer Taschenlampe in der Hand. Sie geht zielsicher zur Scheune meiner Großeltern. Die Pforte wird geöffnet und die Person verschwindet im beleuchteten Innern. Der ehemalige Bauernhof ist das letzte Gebäude im alten Dorfteil vor dem Hang. Ich blicke die Treppe hinunter. Niemand ist zu sehen. Wo ist Luise?

Fang doch mit Heulen an!, suggeriert mir die Angst. Weine wie ein kleines Kind!

Ich laufe zum Lattenzaun, der das Grundstück von der Straße trennt. Kein Licht ist im Haus zu sehen. Ich steige hinüber und stehe sogleich im Vorgarten. Ich knipse die Lampe aus. Auf diesem Terrain kenne ich jede Kante und Delle. Vorbei geht es am leeren Stall, der neben dem Haus steht, und um die Ecke in Richtung Garten. Sterne sind zwischen den finsteren Wolken am Firmament zu sehen.

Der Schnee knirscht. Die haushohen Tannen hinter dem Hof stehen stumm und lassen den Schnee sich auf ihre Nadeln legen. Irgendwo wird gesungen. Durch die zwei trüben Fenster neben der hinteren Scheunentür, dringt Licht auf den Hinterhof hinaus. Ich schließe die Augen. Ein Mann singt in der Scheune. Wortfetzen, wie durch Watte gedämpft, dringen an meine Ohren. Ich ducke mich und husche zur hölzernen Tür.

Das Mädchen schreit, das Messer ist gewetzt
und der Schlachter singt sein Lied.

Die Eltern sind bereit, die Sterne sind vernetzt.
Oh Fortuna, sei des Glückes Schmied!

Akzeptier dieses Opfer und schenk den Eltern ewiges Glück!

Zum letzten Glockenschlag, zu Mitternacht,
wird das Werk dann vollbracht!


Ich höre Luise wimmern. Meine Eltern? Lauf! Die Angst zeichnet mir ein abscheuliches Bild des blutverschmierten Schlachters. Renn um dein Leben! Ich zittere, vor Angst, vor Kälte. Luise! Ich stehe auf und öffne zaghaft die Tür. Wärme umarmt mich, während des Schlachters Lied noch einmal von vorn gesungen wird. Ich betrete die Scheune und stehe sogleich zwei Meter vor der Trennwand aus Brettern entfernt. Dahinter muss sich alles abspielen.

Ein dumpfer Glockenschlag rollt über das Dorf hinweg. Mitternacht! Ich muss mich beeilen! Luise darf nicht geopfert werden! Frisches Blut sprudelt durch meinen Körper. Glockenschlag. Die Angst flüchtet flennend davon. Ich drücke mich an die Wand und spähe durch die Ritzen. Glockenschlag.

Die schwarzen Gestalten bilden einen Kreis. Glockenschlag. Kerzenständer stehen in allen Ecken. In der Mitte, festgebunden auf einem Tisch, liegt Luise. Sie weint und schluchzt. Glockenschlag. Die Gestalt am Kopf des Tisches hebt in kleinen Schritten die Hände über den Kopf. Glockenschlag. Ein weiteres Mal singen sie dieses schaurige Lied.

Meine Hand wird eins mit der Lampe. Glockenschlag. Ich schleiche zum Ende der Wand. Gänsehaut. Herzrasen. Glockenschlag. Der Blick um die Ecke. Der Schlachter hält sein glänzendes Küchenmesser in den Händen.

Zum letzten Glockenschlag, zu Mitternacht - Glockenschlag.

Ich spüre, dass jemand mich beobachtet – wird das Werk dann vollbracht!

Glockenschlag. Ich wende den Kopf. Eine dieser Gestalten steht hinter mir. Ich zittere. Glockenschlag. Für Luise! Ich renne schreiend um die Ecke, auf die Meute der Krähen zu.

"Lasst sie sofort los!"

Glockenschlag. Die Personen, die um den Tisch stehen, drehen sich um. Der Schlachter hält abrupt inne. Ich bleibe stehen. Einzig das Gesicht meiner kleinen Schwester zeigt Regungen. Luise lächelt, hämisch. Eine Gestalt legt die Kapuze nach hinten auf ihren Rücken und hervor kommt Opa. Verwirrt schaue ich in sein faltiges Gesicht. Schritte hinter mir. Ich wirbele herum. Die Gestalt von vorhin reicht mir ein handliches, schwarzes Stück Plastik.

"Dein Akku!"

Die Stimme kommt mir bekannt vor. Das Mädchen hat mir erst heute Nachmittag in meinem Zimmer einen Kuss auf die Wange gepresst.

"Ulrike?"

Meine Klassenkameradin kichert, während ich den Akku meines Handys anstarre. Mittlerweile haben alle die Kapuzen abgenommen und stehen grinsend da. Meine Eltern, unsere Nachbarn, Tanten, Onkel und selbst meine drei Vetter sind anwesend. Luise kommt mit einem orangefarbenen Schild auf mich zu. In silberner Schreibschrift steht darauf zu lesen:

Für deinen fünfzehnten Geburtstag, alles Gute! Happy Halloween! PS: Es war meine Idee, großer Bruder. Jetzt bist du mutig genug und hast keine Angst mehr vor den bösen Jungs in der Schule ;) Bestimmt! Hoffe das Geschenk gefällt dir.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Pierre Heinen, Jahrgang 1979, ist seit frühester Jugend begeistert von Geschichtsbüchern und Verfasser unzähliger Novellen. In Form des zweiteiligen „Payla – Die Goldinsel“ veröffentlicht er seinen Debütroman im Genre Fantasy. Der Autor lebt und arbeitet im Großherzogtum Luxemburg, was in mancher Hinsicht seine fiktive Welt beeinflusst.

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