Ute Abele

Am Kliff

 

Sie blickte dort hinunter und es war atemberaubend. Wieviele Meter stand sie über dem schäumenden Meer? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen... sie war jetzt gerade nur noch fähig, zu riechen, zu schmecken, zu hören und zu sehen, aber nicht zu denken. Das Kliff war sehr hoch. Die zerklüftete Gesteinswand schimmerte rötlich. Unten, wo sie vom tosenden Wasser umspült wurde, war sie dunkler, oben heller, silbriger. Sie saß direkt am Abgrund - so wie sie oft am Abgrund des Steinbruchs gesessen hatte, aber dies hier war viele Male höher -, und der Blick dort hinunter zusammen mit dem Wind, der vom Meer her wehte, nahm ihr immer wieder den Atem. Wie schon am Steinbruch - aber sehr viel stärker - fühlte sie ihren Körper von unten her pulsieren, wenn sie dort hinuntersah. Sie fühlte sich unglaublich lebendig. Kurios, wenn sie bedachte, zu welchem Zweck er und sie hierher gekommen waren. Sie spürte seine Hand auf ihrem Arm und sah ihn an. Sein Anblick war wundervoll. Sie glaubte, nie einen schöneren Menschen gesehen zu haben. Seine dunklen Augen wirkten so vertraut, obwohl sie sich erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen hatten. Durch das, was sie und ihn hierhergeführt hatte, waren sie tiefer miteinander verbunden als beide jemals mit irgendeinem anderen Menschen verbunden gewesen waren. Er fühlte es ebenso, sie konnte es in seinen funkelnden Augen sehen. Ihr Bauch kribbelte und Wärme senkte sich ganz tief hinein. Nie hatte sie etwas Aufregenderes und Intensiveres erlebt. Seine dunklen Haare waren vom Wind zerwühlt. Plötzlich lachte er laut auf und nahm sie von hinten fest in seine Arme. Sie kamen sich wie Kinder vor, vollkommen frei. "Ich liebe dich... und alles!", sagte sie und legte ihren Kopf an seine Brust. Sie spürte sein Herz und ihr eigenes. Es war derselbe Takt. Das Meer und der Wind und ihr Atem, alles hatte diesen Takt, und es schien ihr, als würde sogar die Erde unter ihr in diesem Rhythmus pulsieren. Der Himmel war unendlich blau, das Meer dunkler mit weißen schaukelnden Krönchen auf den Wellen. Sie sah alles, obwohl ihr Kopf immer noch an seiner Brust lehnte und sie ihre Augen geschlossen hatte. In ihr war nur noch Fühlen. So saßen sie noch lange bevor sie sich wieder gegenübersetzten, sich gegenseitig bei den Händen nahmen, um ihr Vorhaben zu wiederholen. Das war so ausgemacht, um zu sehen ob es noch dasselbe war wie zuvor, denn es war ihnen klar gewesen, dass es sich verändern könnte. Alles hätte anders sein können, wenn sie sich sahen und wenn sie dann an dem Ort waren, den sie sich ausgesucht hatten. Vorher hatten sie so viele Zeilen getauscht, so viele Worte gewechselt, jetzt aber kam eine Dimension hinzu, die viel gewaltiger als jedes Wort war. Das war die physische Präsenz, das Sehen, das Hören, das Spüren, der Raum um sie herum. Pixel lösten sich auf und wurden zu Raum, zu Farbe, zu Geräuschen und Gerüchen. Sie waren sich darüber einig, dass das Wichtigste war, völlig offen zu sein. Jetzt, als sie sich in die Augen sahen, merkten beide, dass sich  keine weiteren Worte bilden würden, keine neuen. Alles war schon gesagt worden. Sie wussten, was geschehen würde. Es war keine Frage mehr. Jetzt war es Gewissheit.



© Ute Abele


 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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