Diethelm Reiner Kaminski

Mit den Augen des Baselitz



Immer das gleiche Ritual. In der Straßenbahn auf meinem Fensterstammplatz Platz nehmen (wenn der besetzt sein sollte, läuft der Tag schon in die falsche Richtung), Aktentasche aufklappen, die Tageszeitung rausnehmen und den politischen Teil aufschlagen. Bis ich aussteige, ist mein täglich neu aufkeimender Optimismus zerstoben. Die Welt steht kopf. Wenigstens etwas, worauf Verlass ist, wenngleich es nichts Erfreuliches ist.
„Entschuldigen Sie“, spricht mich eine mir gegenüber sitzende Frau an, „ich möchte Sie nicht beim Lesen stören, aber ich glaube, Sie halten die Zeitung verkehrt herum.“
„Ich weiß, ein angeborener Augenfehler. Ich sehe alles auf dem Kopf. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Ich passe die Umwelt meinen Augen an.“
„Sind Sie womöglich Georg Baselitz, der Maler?“
„Schön wär´s. Würde ich dann in der Straßenbahn sitzen? Da würde ich mir einen Rolls Royce leisten und mich von Museum zu Museum kutschieren lassen, um zu kontrollieren, ob meine Bilder falsch – ich meine richtig – die Menschen mit den Köpfen nach unten – aufgehängt wurden. Es kommt nämlich immer wieder vor, dass Putzfrauen die vermeintlich falsch aufgehängten Bilder drehen. Sehr ärgerlich. Weil das die Aussageabsicht des Künstlers zerstört.“
„Und die wäre?“
„Die Welt steht kopf und wir mit ihr.“
„Aber das weiß ich doch auch so. Deswegen muss  ich doch nicht malen.“
„Malen Sie denn?“
„Ja schon, aber immer schön mit den Köpfen oben.“
„Ich bin kein Baselitz, aber ich male auch.“
Und jetzt werde ich kühn: „Würden Sie mir gelegentlich Modell stehen?“
„Aber da müsste ich ja einen Kopfstand machen.“
 „Das schon,  aber wir könnten ja immer wieder Pausen einlegen.“
„Oder Sie malen mich, wie Sie mich sehen. Und anschließend drehen Sie das Bild einfach um“, hat sie eine plötzliche Eingebung.
Immer triumphiert die praktisch denkende Frau. Die möchte ich dem Baselitz mal auf den Hals hetzen.
„Steigen Sie auch am Bülow-Platz aus? Dann würde ich Sie nämlich bitten, mich bei der Hand zu nehmen und mir beim Aussteigen zu helfen. Vor allem das Aussteigen ist gefährlich, wenn oben und unten vertauscht sind. Und schauen Sie mir dabei bitte auf die Füße, damit ich Ihr Gesicht sehe.“
Dass ich weder male noch einen Augenfehler habe, hat mir Sophia verziehen,  und daran, dass ich Wahrheit und Dichtung gerne verwechsele, hat sie sich auch gewöhnt. Ansonsten ist unser Leben ziemlich wohlgeordnet: eine Oase des Friedens in einer chaotischen Welt. Nur wenn wir uns lieben, vertauschen wir manchmal oben und unten.
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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