Helmut Wurm

Schuldbekenntnisse eines altgedienten Lehrers

 

Nachdem seit mehreren Jahren eine systematische Flut von negativen Darstellungen, Vorwürfen und Bloßstellungen über den schlechten Unterricht der letzten Jahrzehnte über die Lehrer hereingebrochen ist und seitdem die neuen hellen Zukunftskonzepte zur Unterrichts- und Schulgestaltung mit ihren großartigen Qualitäten, Hoffnungen und Visionen in verschiedensten Veranstaltungen, Publikationen und Medien vorgestellt worden sind, ist mir (und vielen Kollegen) klar geworden, wie schuldig ich mich (zusammen mit vielen Kollegen) am deutschen Schulwesen gemacht habe und dass die schlechten Pisa-Ergebnisse deutscher Schüler einzig und allein auf Grund unserer jahrzehntelangen Unfähigkeit zustande gekommen sind. Mir wird immer bewusster, dass ich (und viele Kollegen) jahrzehntelang einfach alles falsch gemacht habe, dass ich unfähig, faul und phantasielos war und dass jetzt endlich die helle neue Schul-Zukunft anbrechen wird. Ich möchte meine Schuld bekennen und um Vergebung bitten.

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) in der Vergangenheit nicht bereit gewesen war, mich sofort, ganz und kritiklos allen neuen pädagogisch-methodischen Moden und Konzepten angeschlossen zu haben, sondern zurückhaltend und oft skeptisch gewesen zu sein, z.B. gegenüber der Laissez-faire-Bewegung auch in der Schule (vor ca. 35 Jahren), der Mengenlehre-Bewegung (vor ca. 30 Jahren), der Sprachlabor-Bewegung (vor ca. 25 Jahren), der Programmiertes-Lernen-Bewegung (vor ca. 20 Jahren), der Anforderungen-Absenkungs-Bewegung (vor ca. 15 Jahren), der Spaßschule-Bewegung (vor ca. 10 Jahren) und jetzt auch gegenüber den großen Erfolgshoffnungen von Seiten der Neuen-Methoden-Bewegung. Von einem engagierten guten Lehrer verlangt man aber uneingeschränkte kritiklose Begeisterung für alle neuen Konzepte.  

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) darauf hingewiesen habe, dass diese damaligen pädagogischen Bewegungen den Leistungsabstieg bei deutschen Schülern auch nicht aufgehalten hätten und dass ich (und viele andere Kollegen) die Fortschritte in der Methodenforschung und Methodenempfehlung zwar aufrichtig als gut und spannend begrüßte, aber meinte, dass die Erwartungen daran viel zu euphorisch seien, weil die Gründe für die Pisa-Misere viel tiefer lägen, nämlich besonders in einer allgemeinen Erlahmung von Leistungsbereitschaft in einer modernen Wohlstands- und Vergnügungsgesellschaft, und dass es in einigen Jahren wieder etwas sachlicher und ruhiger bezüglich der Hoffnungen auf Pisa und auf neue Gesamtschulen zugehen würde. Damit habe ich mich nicht revolutionskonform gezeigt.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) das bisherige dreigliedrige deutsche Schulsystem nicht als falsch, rückständig und leistungsmindernd verdammt habe und gemeint habe, dass die zunehmende Anzahl falsch angemeldeter Schüler auf weiterführenden Schulen das Leistungsniveau dort mit abgesenkt habe. Dadurch habe ich von den wirklich Schuldigen, den Lehrern, abgelenkt. Ich habe bisher gemeint, dass die Schulzeit nicht so ablaufen solle, dass alle Schüler zur gleichen Zeit starten und auch alle zur gleichen Zeit mit etwa den gleichen Ergebnissen am Ziel ankommen, sondern dass zwar alle zur gleichen Zeit starten, aber je nach individueller Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft unterschiedliche Ziele erreichen. Damit habe ich der Hoffnung auf eine künftige Schüleruniformität entgegengearbeitet.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) der Meinung war, dass die Schulpolitik bestimmter Parteien, die kontinuierlich die schulischen Anforderungen in den von ihnen regierten Ländern gesenkt haben, entscheidenden Anteil am sinkenden Leistungsniveau an deutschen Schulen gehabt hätten. Ich bin schuldig, dass ich mich so verwundert gezeigt habe, dass diese erwähnten Parteien, die früher bei den Worten „Leistung“ und „Elite“ ablehnend reagierten, diese Begriffe jetzt so aussprechen, als wären sie ihnen schon immer eine Herzensangelegenheit gewesen. Solch einen Sinneswandel erstaunt zu hinterfragen ist unfair.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) ohne großes Aufsehen nachweislich seit vielen Jahren Schüler, gerade auch in den Nichtdeutsch-Fächern, darin geübt habe, Texte zu markieren und zu strukturieren, frei mit Spickzetteln zu sprechen, eigenständig zu formulieren, eigene Texte anzufertigen und diese sinnvoll zu untergliedern, längere Texte zu kürzen, wichtige Zusammenhänge zu visualisieren, sorgfältig Haushefte anzulegen, nicht nur auf „richtig oder falsch“ zu achten, sondern auch auf die Qualität des Ausdrucks und auf die äußere Form von Texten auch in Nichtdeutsch-Fächern, sich gegenseitig zu helfen, kritisch an alles heranzugehen, usw. Entweder hätte ich (und die vielen anderen Kollegen) diese Bemühungen auffällig ins pädagogische Rampen-licht rücken müssen nach dem Grundsatz „we are the champions“ oder ganz unterlassen sollen, damit die neue Methodenzukunft um so heller über der schlechten Vergangenheit heraufziehen kann.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich mich (und viele andere Kollegen) kritisch dazu geäußert habe, dass die Lehrpläne teilweise überfrachtet oder unausgereift seien und dass die Schulbücher immer dicker, bunter, illustriertenähnlicher und teurer würden und dass ich (und viele andere Kollegen) permanent und starrköpfig die Meinung vertreten habe, weniger sei mehr und regelmäßige Wiederholungen seien notwendig für das langfristige Behalten. So etwas ist demoralisierend, denn die Bundesländer und Schulbuchverlage sind ja bestrebt zu zeigen, welche Fülle von Einzelthemen sie den Schülern zumuten können und wie schöne und dicke Schulbücher sie anzubieten in der Lage sind.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) einige  Bestimmungen der Schulordnung bezüglich der Leistungsfeststellungen mit dafür verantwortlich gemacht habe, dass Schüler das Kurzzeitgedächtnis mehr trainierten als das Langzeitgedächtnis. Wenn z.B. bei schriftlichen Hausaufgabenüberprüfungen nur die Hausaufgeben der letzten beiden Stunden und nicht auch der Stoff und die Hausaufgaben der letzten 3 bis 4 Stunden abgefragt werden dürfen, dann würde das nach meiner vergangenheitlichen Meinung das Lernen im 2-Stunden-Takt fördern. Ich habe nicht bedacht, dass bei den vielen Freizeitangeboten gerade im medialen Bereich Schüler durch Schulstoff geistig nicht zu viel beansprucht werden sollten, damit sie die außerschulischen Informationen besser behalten können. Ich war nicht schüler- und freizeitfreundlich genug.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich bin schuldig, dass ich (und viele andere Kollegen) die Ansicht vertreten habe, dass Gruppenarbeit nicht die normale Unterrichtsform sein sollte, sondern dass Gruppenarbeit und Einzelarbeit gleichermaßen geübt werden sollten, weil es im schulischen und außerschulischen Leben regelmäßig zu Situationen komme, wo man auf sich allein gestellt Aufgaben /Probleme bewältigen müsse und weil Gruppenarbeit nicht nur das gemeinsame Bemühen fördere (das ist ein wichtiges Anliegen!), sondern auch geschickte „Lernschmarotzer“ begünstige (nach der Devise „Team = Toll, ein anderer macht’s“) und weil gerade schwache und auf weiterführenden Schulen falsch angemeldete Schüler beim Lernen häufig einzeln an die Hand genommen werden müssten. Weiter habe ich (und viele andere Kollegen) die Meinung vertreten, dass bei Gruppenarbeit nicht stets allen Schülern der Gruppe bequem dieselbe Note gegeben werden dürfe, sondern dass nur die jeweiligen Einzelleistungen innerhalb der Gruppenarbeit bewertet werden könnten. Jetzt weiß ich, dass solche konterrevolutionären Einschränkungen die Etablierung neuer Methoden behindern.

Oh mea culpa magna!

 

- Ich habe nicht bedacht (sicher haben es viele Kollegen besser durchschaut), dass eine methodische und organisatorische Revolution in den Schulen angestrebt wird, und man die Vergangenheit schwarz und schlecht darstellen muss, damit sich alle Betroffenen entsetzt von dieser Vergangenheit abwenden und sich voller Zuversicht und Begeisterung der neuen hellen Vision zuwenden. Ich habe nicht bedacht, dass traditionelle Methoden geändert und neue Methoden etabliert werden sollen, man zuerst einseitig übertreiben muss und später diese Einseitigkeit allmählich zurücknehmen kann. Ich habe damit kein taktisch-geschicktes pädagogisch-revolutionäres Bewusstsein gezeigt und bin damit ein Volks- und Schülerfeind.

Oh mea culpa magna!

 

Diese Schuldbekenntnisse haben mich jetzt spürbar erleichtert und ich kann jetzt wieder klarer denken. Aber –oh weh- dadurch beginnen wieder niedergedrückte kritische Überlegungen Macht über mich zu gewinnen. Ich glaube auf einmal nicht mehr (wie viele Kollegen auch), dass alles Frühere schlecht und schwarz war, und immer mehr gewinnt wieder die Überzeugung in mir die Oberhand, dass es früher an jeder Schule viele tüchtige Lehrer gab, die ihren Schülern geholfen haben, aufs Leben vorbereitet zu sein, die fleißig, phantasievoll und selbstlos ihre Arbeit getan haben und deren Schüler es im Leben u.a. auch durch ihre pädagogischen Mühen zu etwas gebracht haben.

 

Ich begrüße zwar aufrichtig (wie viele andere Kollegen) weiterhin die Fortschritte in der Methodenlehre und die Erprobung neuer Lernmethoden und Lernformen, verbinde aber nicht mehr euphorische Hoffnungen mit ihnen und gewinne immer mehr die Überzeugung, dass in einigen Jahren, wie früher bei Mengenlehre, programmiertem Lernen, usw., die Euphorie sich legen, vieles sich abschleifen, Traditionelles wieder an Wert gewinnen und dass ganz bestimmt neue pädagogische Euphorien mit anderen Inhalten kommen werden.

 

Sorry, und ein kühler, sachlicher Kopf dann!

 

(abgedruckt in: Realschule in Rheinland-Pfalz, 1/2004, S. 26f)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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